Die Alternativimperialisten

Konkret, 09/2022

Immer deutlicher zeichnet sich die kapitalistische Katastrophe ab. Die Linke sollte um einen emanzipatorischen Ausgang kämpfen

Noch vor aller Ideologie, allem Größenwahn und allem Opportunismus scheinen viele linke Beiträge zur Ukraine-Debatte an einer grundlegenden logischen Fehlannahme zu kranken. Sie werden oftmals in der Überzeugung verfasst, es gebe einen Ausweg aus dieser Katastrophe. Je nach politischem oder ideologischen Standpunkt wird eine Konfliktpartei oder eine geopolitische Konstellation imaginiert, die, objektiv betrachtet, den Konflikt entschärfen und gegebenenfalls gar den Fortschritt befördern würde. In immer neuen Variationen wird dann entweder die Unterstützung der Ukraine und der Nato gefordert, um bürgerlicher Demokratie in ihrem Kampf gegen den eurasischen Despotismus zum Sieg zu verhelfen, oder die Niederlage des westlichen Imperialismus beschworen, der durch eine multipolare Weltordnung abgelöst werden solle. Die Linke – so eine szeneübliche Megalomanie – habe den Mantel der Geschichte zu ergreifen, sich hinter den Kräften des objektiv Guten und Wahren zu versammeln, da sie sonst aufgeschmissen wären bei einem historischen Titanenkampf, der künftige Dekaden prägen werde. Und im Hintergrund spukt immer noch der Hegelsche Weltgeist mit seiner „List der Geschichte“, die es nur richtig zu interpretieren gelte.

Doch was, wenn es aus dieser Katastrophe keinen progressiven oder auch nur „neutralen“, den Status quo der Vorkriegszeit restaurierenden Ausweg gibt? Was, wenn die skizzierte Grundannahme falsch ist? Der folgende Debattenbeitrag beschreibt unter Rückgriff auf das Theoriegebäude der Wertkritik, den Krieg um die Ukraine als einen qualitativen Kipp- und Umschlagpunkt des irreversiblen Krisenprozesses des kapitalistischen Weltsystems, um anschließend Position zu beziehen in der innerlinken Debatte. Der Konflikt wird wahrscheinlich die kommenden Jahrzehnte prägen. Der Krieg in der Ukraine wird Verrohung und Barbarisierung Vorschub leisten – es ist egal, ob Russland oder der Westen aus diesem imperialistischen Gemetzel als Sieger hervorgehen. Dabei müssen wir – und die Generalisierung ist in diesem Fall wirklich geboten – schlicht Glück haben, damit der Krieg ohne atomaren Schlagabtausch, ohne Zivilisationsbruch beendet wird. Der verdinglichte öffentliche Krisendiskurs liebt es zwar, die einzelnen Momente des Krisenprozesses schön säuberlich voneinander zu trennen, doch die Realität der Krisendynamik hält sich nicht an diese Gepflogenheiten. So könnten weitere ökonomische, geopolitische oder ökologische Verwerfungen mit dem Kriegsgeschehen in der Ukraine in Wechselwirkung treten und es zur globalen Eskalation treiben.

Ohne Ausbildung eines adäquaten Krisenbegriffs ist der Krieg schlicht nicht zu begreifen. Deshalb war die jämmerliche Suche nach den „rationalen Interessen“ der Imperialisten, an der Deutschlands „Antiimperialisten“ in all ihren Schattierungen von Rot bis Braun sich so schön blamierten, von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Und deswegen war es der Wertkritik auch möglich, die russische Invasion zu prognostizieren. Die fetischistische Krisendynamik ist das irrationale Moment, das die Funktionseliten der imperialistischen Kriegsparteien in den Konflikt trieb. Evident ist dies im Fall Russlands, das sich mit der Erosion seiner imperialen Einflusssphäre im postsowjetischen Raum konfrontiert sah.

Die soziale Zerrüttung in der ökonomisch abgehängten Region, in der ehemalige Nomenklatura-Seilschaften autoritäre Oligarchien und Kleptokratien errichteten, lässt überall dort sozialen Sprengstoff entstehen, wo Rohstoffe und fossile Energieträger nicht im ausreichenden Maß exportiert werden können, um Teile der Bevölkerung ruhig zu stellen. Diese Instabilität bietet dem Westen überreiche Angriffsflächen. Dem russischen Angriffskrieg gingen nicht nur der Krieg um Bergkarabach, sondern vor allem die Aufstände in Belarus und Kasachstan voraus, bei denen der Westen gar nicht groß intervenieren musste, da sie durch innere, soziale Faktoren befeuert wurden.

Es war diese Panik vor weiteren „Revolutionen“ in seinem imperialen Hinterhof, die den modernisierungsunfähigen Kreml in den Krieg trieb. Die sozialen Spannungen im postsowjetischen Raum, wo Russlands Hegemonie bis zum Ausbruch des Ukraine-Kriegs rasch erodierte, ließen eine die Machtverhältnisse bedrohende Dynamik aus Protest, Aufstand und äußerer Intervention aufkommen. Wenn Moskau weiterhin die Hauptstadt eines Imperiums sein sollte, dann musste der Westen in der Ukraine mit Waffengewalt zurückgedrängt werden. Der russische Überfall auf die Ukraine ist somit ein Zeichen der Schwäche, da andere Mittel zur Bindung dieses Kernbestandteils der russischen Einflusssphäre fehlgeschlagen sind. Es ist blanker, aus der Defensive agierender Krisenimperialismus, der innere Spannungen durch äußere Expansion zu überbrücken trachtet – und gerade aufgrund seiner militärischen und ökonomischen Inferiorität besonders brutal agiert.

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Doch genauso verhält es sich im Fall des Westens. Nicht nur der Kreml sah sich genötigt, ein ungeheures Vabanquespiel einzugehen, indem er die Ukraine überfiel. Die Kompromisslosigkeit des Westens, der USA wie der EU, im Vorfeld der Invasion ist Ausdruck einer ähnlichen Dynamik von innerer Krise und äußerer Expansion – in diesem Fall in den postsowjetischen Raum. Die Nato weigerte sich strikt, Neutralitätsgarantien für die Ukraine, die selbstverständlich Teil der russischen Einflusssphäre war, abzugeben, während sie mit Hochdruck die mit Naziregimentern angereicherten ukrainischen Streitkräfte modernisierte, was dem Kreml zumindest einen Casus Belli lieferte. Hätte Russland die Ukraine auch im Fall verbindlicher Neutralitätsgarantien angegriffen? Wir werden es nie erfahren. Es stellt sich nur die Frage, ob der Westen sich grob verspekulierte oder die Invasion bewusst provozierte, um Russland im ukrainischen Kriegsmorast ausbluten zu lassen.

Die EU war schon bei der westlichen Intervention 2014 – als die Regierung Janukowitsch gestürzt wurde – vom Interesse geleitet, eine geopolitische Konkurrenz zu einem von Deutschland dominierten Europa zu sabotieren. Berlin und Brüssel duldeten keine Alternative zur überschuldeten Eurozone. Die Nato-Expansionsstrategie im „Hinterhof“ Russlands wird aber vor allem durch das Bemühen Washingtons motiviert, den imperialen Zerfall der USA aufzuhalten, ihre Hegemonie und den Dollar als Weltleitwährung zu bewahren. Ohne den Greenback als das Wertmaß aller Warendinge würden die Vereinigten Staaten zu einem gigantischen, waffenstarrenden Griechenland verkommen. Die zunehmende Inflation deutet darauf hin, dass die Gelddruckerei der US-Notenbank Fed inzwischen an ihre Grenzen stößt. Während die EU und die BRD die Ausbildung der von Putin propagierten „Eurasischen Union“ verhindern wollten, ging es Washington zusätzlich noch darum, einen Keil zwischen Berlin und Moskau zu treiben, um das erodierende atlantische Bündnissystem zu stärken. Der russische Überfall auf die Ukraine hat die EU stärker in der atlantischen Allianz verankert, eine deutsch-russische Annäherung mittelfristig unmöglich gemacht und zur Erweiterung der Nato in Skandinavien geführt.

Es ist nicht nur die innere Schranke des an seiner Hyperproduktivität erstickenden kapitalistischen Weltsystems, die den überschuldeten, sozial zerrütteten Staatsmonstern den Krieg und die äußere Expansion als letzten Ausweg aus der in blanke Geldentwertung oder Deflation umschlagenden Krise erscheinen lässt. Die äußere Schranke des Kapitals, das in seinem Verwertungszwang der Menschheit die ökologischen Lebensgrundlagen entzieht, manifestiert sich konkret in der Lebensmittelkrise, die durch den Krieg um die Ukraine vor allem in Afrika eskaliert. Die Kontrolle über Nahrungsmittel wird zu einem geopolitischen Machthebel in der manifesten Klimakrise, ähnlich den fossilen Energieträgern.
Der Krieg wurde nicht nur durch die krisenbedingt eskalierenden Widersprüche verursacht, er verstärkt auch als Krisenbeschleuniger die gegebenen Zerfallsprozesse, die das gesamte Weltsystem in eine neue Krisenqualität überführen: Deglobalisierung samt Abschottung und Lagerbildung, Ressourcenkämpfe, Mangelkrisen und Versorgungsengpässe, Militarisierung und Großkriegsgefahr, Wechselwirkung aus autoritärer Staatsformierung und sozialen wie staatlichen Erosionsprozessen. Dieser Kipppunkt des Krisenprozesses ist irreversibel, es gibt kein Zurück zur Zeit vor dem Krieg. Somit ist die derzeitige Ära des Krisenimperialismus gekennzeichnet durch die Wechselwirkung zwischen dem staatlichen Dominanzstreben und dem Krisenprozess des Kapitals, welcher eine marktvermittelte, fetischistische Eigendynamik aufweist, die durch die inneren und äußeren Widersprüche des Kapitals befeuert wird. Das Kapital hat somit eine Gesellschaftsformation hervorgebracht, die diese blind ablaufende Dynamik nicht unter Kontrolle hat, von ihr letztlich in den sozialen und ökologischen Kollaps getrieben wird.

Der objektive Krisenprozess des Kapitals vollzieht sich vermittels entsprechender krisenimperialistischer Auseinandersetzungen der Staatssubjekte – dies, die Exekution der Krisendynamik durch ökonomische, geopolitische, geheimdienstliche oder militärische Machtkämpfe, ist der objektive Kern krisenimperialistischer Praxis. Der Kreml führt seinen Krieg in der Ukraine, um Russlands Status als imperiale Macht zu halten. Die USA provozierten den Krieg, um Hegemonialmacht bleiben zu können. Die Krise treibt somit die spätkapitalistischen Staatsmonster sowohl in ihrer ökonomischen wie ökologischen Dimension in die Konfrontation. Da die sozioökologische Systemkrise nicht im Rahmen des kapitalistischen Weltsystems gelöst werden kann, hat der Krisenimperialismus seinen Fluchtpunkt in einem Großkrieg, der aufgrund des im Spätkapitalismus akkumulierten Vernichtungspotenzials unabsehbare Folgen nach sich ziehen würde. Ohne emanzipatorische Systemtransformation droht der Zivilisationskollaps durch Klimakatastrophe und Atomkrieg.

Mangels eines adäquat radikalen Krisenbegriffs hat sich auch ein großer Teil dessen, was sich in Deutschland als Teil der Linken verstand, seit Beginn des Ukraine-Kriegs schlicht verflüchtigt, indem es Partei ergriff. Der Krieg beschleunigte nur den Zerfall der krisenblinden und opportunistischen Teile der deutschen Linken, die sich entlang dem Frontverlauf sortieren. Zum einen die Putin-Apologeten um Wagenknecht oder Querfrontmedien wie „Telepolis“ oder „Nachdenkseiten“, die sich trotz antiimperialistischen Lippenbekenntnissen schamlos in Putin-Apologetik üben. Zum anderen Anhänger der Nato und hohler westlicher Werte, die mit der abgestandenen bürgerlich-liberalen Ideologie ein letztes Mal hausieren gehen, bevor auch die westlichen Staaten in Barbarei versinken.
Während im linksliberalen Umfeld der Grünen lobende Worte für Bandera gefunden werden, betätigen sich Deutschlands Antiimps in all ihren Schattierungen von Rot bis Braun als Alternativimperialisten, die schlicht Russlands oder Chinas imperiale Interessen propagieren. Das Ganze kulminiert dann in größenwahnsinnigen, aus sicherem Abstand formulierten Appellen an die Ukrainer, entweder tapfer als Kanonenfutter durchzuhalten, um Freiheit und Demokratie zu verteidigen, oder sich dem russischen Imperialismus zu ergeben, da die Gaspreise in Deutschland explodieren.

((Initial))

Die mit dem Krieg sich durchsetzende neue Krisenqualität jenseits der neoliberalen Globalisierung markiert somit auch die Grenze linker binnenkapitalistischer Praxis. Progressive, emanzipatorische „Politik“ kann nicht mehr ohne einen radikalen Krisenbegriff formuliert werden, der einen Kampf um den Verlauf der voll einsetzenden Systemtransformation alternativlos macht. Der blind ablaufende Krisenprozess, der auf geopolitischer Ebene seine destruktive, in den Großkrieg treibende Konfrontationsdynamik antreibt, muss zentraler Dreh- und Angelpunkt jeglicher linker Praxisbemühung sein, nicht das opportunistische Nachplappern imperialistischer Propaganda oder das Imaginieren irgendwelcher „objektiv progressiver“ Staatenkonstellationen im gegenwärtigen Krisenimperialismus.

Letztlich müsste sich auch die deutsche Linke dazu bequemen, sich der evidenten und jahrzehntelang verbissen ignorierten Tatsache der Systemkrise des Kapitals zu stellen (die auch in der aktuellen Ukraine-Debatte kaum eine Rolle spielt), um zumindest die theoretische Chance zu haben, sich aus ihrer Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit herauszukämpfen.

Dazu müsste den Menschen gesagt werden, was Sache ist, statt sie mit anachronistischer Ideologie zu belästigen. Wie überholt etwa die Antiimp-Ikone Lenin ist, sieht man an seinem in Regression befindlichen Fanclub, der im Rahmen der Ukraine-Debatte in Konkret reaktionären Müll in Gestalt eines oberflächlich kaschierten Lobs auf Wagenknecht und die national gesinnten Sozialisten der Partei „Die Linke“ absondern konnte. Ausgerechnet die Querfronttante der Linken, die fleißig Werbung für die Neue Rechte macht, soll demnach nicht opportunistisch sein. Darauf kann nur jemand kommen, dem der Begriff der opportunistischen Rebellion fremd ist.

Deutschlands immer noch als Antiimps verharmloste Alternativimperialisten können ihren anachronistischen, verdinglichten Dreck, der längst als eine Apologie autoritärer kapitalistischer Krisenverwaltung in Ländern wie Russland oder China fungiert, in für Querfronttendenzen mehr oder weniger offenen Organen wie „Telepolis“, „Nachdenkseiten“, „Freitag“, „Berliner Zeitung“ und „Rubikon“ verbreiten. Nicht zufällig werden diese Medien zumeist finanziert von reichen, alten, weißen Männern aus der für reaktionäre Ideologie besonders empfänglichen deutschen Oberschicht, aus der Petitbourgeoisie und dem berüchtigten Mittelstand. Hinzu kommt die „junge Welt“ als deren Organ.

Diese anachronistische, rechtsoffene Ideologie scheitert schlicht an der Krisenrealität. Viele Menschen spüren schon lange, dass das System sich in einer irreversiblen Krise befindet, dass die Transformation bereits begonnen hat. Linke Praxis kann nur noch als Teilmoment eines Kampfs um die Überwindung der sich immer deutlicher abzeichnenden kapitalistischen Katastrophe umgesetzt werden. Der Großkriegsgefahr kann nur innerhalb eines Transformationskampfs begegnet werden, der offensiv propagiert werden müsste. Der Transformationsprozess ist unausweichlich, doch angesichts des Kriegs in der Ukraine muss emanzipatorische Praxis darauf zielen, dass der Wandel nicht in Barbarei oder Weltkrieg endet.
Statt imperialistische Frontverläufe zu erörtern oder Propagandadreck nachzuplappern, müssten Linke den Krisenverlauf antizipieren, die entscheidenden Widersprüche benennen und eine Transformation des kollabierenden Systems in etwas Postkapitalistisches ermöglichen, das möglichst viele Momente des historischen Zivilisationsprozesses retten würde. Der Kampf gegen die Großkriegsgefahr, gegen Krisendiktatur, Chauvinismus und Hetze müsste mit dem Ziel geführt werden, günstige Bedingungen für einen emanzipatorischen Transformationsverlauf zu schaffen. Er könnte dann auch mit anderen Kämpfen, etwa dem gegen den Klimawandel, in Wechselwirkung treten. Der Transformationskampf würde einen gemeinsamen Nenner bilden, um scheinbar disparate Protestbewegungen zusammenzuführen.

Die Systemtransformation als Überlebensnotwendigkeit zu propagieren, scheint auf den ersten Blick die Marginalisierung einer jeden Bewegung zu garantieren. Doch es ist gerade die Krisendynamik, die bei jedem neuen Krisenschub den Menschen mit Macht vor Augen führt, wie notwendig die Überwindung des Kapitalismus ist. Klar, die Linke ist derzeit bedeutungslos, doch gerade die konsequente Propagierung eines radikalen, antikapitalistischen Krisenbewusstseins in der konkreten Praxis könnte dies in Wechselwirkung mit den kommenden Krisenschüben sehr schnell ändern. Dies müsste in Abgrenzung zu den „Antiimps“ geleistet werden, die mittlerweile zur Avantgarde der Barbarei verkümmert sind, nicht nur wegen ihrer offenen Flanke nach Rechtsaußen. Die kapitalistisch deformierten Spielräume bürgerlicher westlicher Demokratie, die in diesen Kreisen als verlogene US-Importe so verhasst sind, müssen gerade im Rahmen des Transformationskampfes verteidigt werden, um dessen progressiven Verlauf überhaupt ermöglichen zu könnten.

Tomasz Konicz schrieb in konkret 8/2022 über die Widersprüche der herrschenden Krisenpolitik

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