Konkret, 05/2022
Um die Hintergründe des Ukraine-Krieges zu verstehen, lohnt sich eine Analyse des russischen Machtapparats, der sich unter der Führung Wladimir Putins wesentlich gewandelt hat.
Die Invasion der Ukraine entwickelt sich für den Kreml zu einem militärischen Fiasko, doch an der Heimatfront scheint der Angriff durchaus die gewünschten Effekte zu zeitigen. Die Bevölkerung steht weitgehend hinter dem Kriegskurs. Während sich die russische Armee Anfang April unter großen Verlusten an Menschen und Material aus der Oblast Kiew und der Nordukraine zurückzog, Unmengen an Militärschrott, Massengräber und viele Anhaltspunkte für Kriegsverbrechen zurücklassend, kletterten die Zustimmungswerte für Wladimir Putins Vorgehen auf immer neue Höchstwerte.
Laut Umfragen unterstützten Ende März rund 83 Prozent der Bürger/innen der Russischen Föderation die von einem engen Machtzirkel im Kreml geplante Invasion. Im Februar lagen die Zustimmungswerte zur Ukraine-Politik Putins bei 71 Prozent, im Januar waren es 69 Prozent. Der wachsende Rückhalt in der Bevölkerung ist nicht allein auf die übliche Burgfriedenspolitik zurückzuführen, die sich gewöhnlich nach Beginn der Kampfhandlungen in den kriegführenden Staaten einstellt – dies war etwa auch bei der Invasion des Irak durch die USA der Fall -, er wird überdies begünstigt durch Trotzreaktionen gegenüber den westlichen Sanktionen. Außerdem will offenbar ein großer Teil der russischen Bevölkerung den geopolitischen Abstieg Russlands verhindert sehen, den die Großmacht bei einer Annäherung der Ukraine an die Nato erfahren würde.
Der in der Bevölkerung offenbar weit verbreitete Wille zur Aufrechterhaltung und Erweiterung der russischen imperialen Macht, die von pseudolinken Putin-Verstehern im Westen mit Blick auf die Sowjetunion gerne nostalgisch verklärt wird, geht einher mit einer leicht zu mobilisierenden Angst vor dem staatlichen Zerfall Russlands. Wenn russische Politiker derzeit davor warnen, dass der Westen letztlich das Land zu zerstören trachte, dann sprechen sie damit tief verankerte Ängste an. Die Beliebtheit, die Putin gerade in der älteren Generation, die den Zusammenbruch der Sowjetunion durchlebt hat, genießt, speist sich aus seinem historischen Verdienst, die chaotische, durch sozialen Zerfall und eine wilde Oligarchenherrschaft gekennzeichnete Transformationsphase Russlands beendet zu haben. Putin gilt in der Bevölkerung als der Mann, der ‚Ordnung gebracht‘ habe, der als die Personifizierung des starken russischen Staates den postsowjetischen Gesellschaftszerfall stoppte, die Oligarchen entmachtete, den Pauperismus eindämmte und Russlands Absturz in die weltpolitische Bedeutungslosigkeit aufgehalten hat. Dass Putin Russland als einen imperialen Machtpol stabilisiert hat, wird ihm der Westen, um enge Kooperation mit Massenmördern wie Recep Tayyip Erdoğan nicht verlegen, niemals verzeihen.
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Die Struktur des gegenwärtigen russischen Regimes, der berüchtigten, den tiefen Staat durchziehenden Machtvertikale mit dem Kreml an deren Spitze, formte sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Auseinandersetzung mit eben den oligarchischen Kräften, die während der trunkenen Jelzin-Ära den wirtschaftlichen Ausverkauf und die politische Desintegration der sowjetischen Konkursmasse betrieben haben. (Die Präsidentschaftswahl im Krisenjahr 1996 konnte Boris Jelzin nur dank massiver Finanzierung seitens der frischgebackenen Oligarchen gewinnen.)
Im Zuge der Auseinandersetzungen während der ersten Präsidentschaft Putins sind drei mächtige Oligarchen, die zum Teil noch Putins politische Karriere gefördert haben, entmachtet worden: Boris Beresowski und Wladimir Gussinski wurden ins Exil getrieben, Michail Chodorkowski musste etliche Jahre in russischen Straflagern verbringen. Die restlichen Oligarchen und Krisengewinnler, die sich überwiegend aus der sowjetischen Funktionselite der Nomenklatura rekrutierten und in der Zeit der wilden Privatisierungen im Verlauf der Implosion der Sowjetunion binnen kürzester Zeit riesige Vermögen zusammenraffen konnten, haben hingegen zumeist informelle Besitzgarantien erhalten, die mit politischer Entmachtung und unbedingter Gefolgschaft gegenüber dem Kreml erkauft werden mussten. Besitzgarantien, die weitgehend eingehalten wurden, erhielt vor dem Machtantritt Putins auch die sogenannte Jelzin-Familie – ein Kreis von Privatisierungsprofiteuren, die Unternehmensbeteiligungen aufgrund ihrer familiären Verbindungen zum ersten russischen Präsidenten erwerben konnten.
Der Milliardär Roman Abramowitsch, der Putin den Weg bereitete und rechtzeitig seine Firmenbeteiligungen zu einem guten Preis an den russischen Staat abstieß, gilt ebenso als Paradebeispiel für diese politisch kastrierte Ex-Oligarchie aus Jelzins Zeiten wie der Industriemagnat Oleg Deripaska, der sein Imperium aufgrund einer besonderen Nähe zum Kreml behalten konnte. Hinzu kommen politisch gut vernetzte Milliardäre wie Arkadi Rotenberg, die ihren Aufstieg in der Putin-Ära erfuhren und ihr Firmenimperium den engen Verbindungen zum Kreml – in diesem Fall der persönlichen Bekanntschaft und Kooperation mit dem Präsidenten – verdanken. In gewisser Weise erinnert diese Machtarchitektur an die der von Putin geschätzten imperialen Zarenzeit, da auch im 18. und 19. Jahrhundert der wirtschaftliche Erfolg von Kaufleuten oder Industriellen in Russland nicht selten von der Gunst des politischen Machtzentrums abhing.
Im strengen Sinne des Wortes gibt es heute keine Oligarchie mehr in Russland, jedenfalls nicht, wenn man unter dem Begriff versteht, dass absurd reiche Individuen ihre Partikularinteressen durch die informelle Übernahme oder Instrumentalisierung von Teilen des Staatsapparates durchsetzen. Russlands ökonomische Funktionselite, die weiterhin bestehende Schicht der Superreichen, ist politisch dem Staat untergeordnet – oder präziser: der herrschenden Schicht, die sich des Staatsapparates bemächtigt hat.
Putin hat die Oligarchie jedoch nicht im Alleingang politisch entmachtet, sondern unter Rückgriff auf aus dem KGB hervorgegangene Geheimdienstseilschaften und Gruppierungen aus den russischen ‚Machtministerien‘, die im weitesten Sinne das staatliche Gewaltmonopol durchsetzen. Diese dominante Schicht im staatlichen russischen Machtapparat, der Putin selbst entstammt und aus der sich noch immer viele seiner engsten Vertrauten rekrutieren, wird – in Anlehnung an das russische Wort für Kraft (Sila) – als Silowiki bezeichnet. Sie drängten den Einfluss der Oligarchie im Staatsapparat zurück, setzten mit einiger Brutalität essentielle Staatsfunktionen – wie etwa die Eintreibung von Steuern – durch und nötigten die Oligarchie dazu, strategische Konzerne, insbesondere in den Bereichen Infrastruktur, Rohstoffgewinnung und Energieträgerförderung an den Staat zu veräußern. Löhne und Renten wurden wieder zuverlässig ausgezahlt und die massiven Kapitalabflüsse aus Russland gestoppt, was zu einer politischen und ökonomischen Stabilisierung des Landes beitrug.
Putin und die Silowiki betrachten sich als Retter Russlands, die das Land vor der Desintegration während der offenen und chaotischen Oligarchenherrschaft bewahrten. Und wer schließlich könnte besser geeignet sein, die vielen Staatsbetriebe zu leiten, als Russlands Retter? Die abermalige Verstaatlichung der in den neunziger Jahren privatisierten Konzerne (etwa Aeroflot und ein Teil der Erdöl- und Gaswirtschaft) ging mit der Übernahme der Unternehmensführung durch die Silowiki einher. So formierte sich eine neue Schicht von Funktionseliten: die Staatsoligarchie. Letztlich hat Putin die russische Oligarchenherrschaft zwar gebrochen, aber nur um den Preis der Ausbildung oligarchischer Strukturen im expandierenden Staatsapparat, der zu einem zentralen ökonomischen Akteur aufstieg. Die Silowiki sind in ihrer Funktion als Lenker von Staatsbetrieben natürlich ebenfalls sagenhaft reich geworden. Die neue Staatsoligarchie hat zwar für Stabilität gesorgt, allerdings ist sie auch für das Scheitern der Modernisierung der russischen Volkswirtschaft verantwortlich, die von Propagandisten des zunehmend in den postsowjetischen Raum drängenden Westens gerne als eine mit Atomraketen bewaffnete Gastankstelle in der volkswirtschaftlichen Größenordnung Italiens verspottet wird.
Zu Sowjetzeiten sei man mit einem Farbfernseher und ein paar Westprodukten zufrieden gewesen, erinnerte sich ein ehemaliges Mitglied der alten sowjetischen Nomenklatura, das den Kontakt zu den Silowiki nicht verloren hat, gegenüber der ‚Financial Times‘. Doch nun würden seine ehemaligen Parteigenossen nicht zuletzt deswegen ‚in solchem Ausmaß stehlen‘, weil sie sich als Repräsentanten des Staates begriffen und es folglich ‚einer Erniedrigung‘ gleichkäme, wenn sie ärmer wären als ein ‚Haufen Geschäftsleute‘. Der Unterschied zwischen der heutigen Staatsoligarchie und der ersten Generation der postsowjetischen Räuberbarone besteht vor allem darin, dass Putins Leute im Staatsapparat keinen massiven Kapitalexport betreiben – und dass sie nach außen hin nicht mit ihrem Reichtum protzen, um die Fassade der Oligarchenbändiger aufrechtzuerhalten. Zudem gelangen die Macht- und Revierkämpfe zwischen den einzelnen Fraktionen dieser Staatsoligarchie heute kaum noch an die Öffentlichkeit.
Je höher die Karrieristen im russischen Machtapparat aufsteigen, desto exklusiver wird die Gesellschaft. Der innere Zirkel um Putin weißt Züge einer von Loyalitätsverpflichtungen zusammengehaltenen Seilschaft, letztlich eines bloßen Rackets auf, das sich vor Jahrzehnten anhand persönlicher Bekanntschaften in St. Petersburg formierte. Putin, der in der Anfangszeit seiner Regentschaft noch vorsichtig agieren und auf unterschiedliche Machtgruppen Rücksicht nehmen musste, hat ’seine‘ Leute aus St. Petersburg nach Moskau geholt, die dann in den vergangenen Jahrzehnten sukzessive viele der wichtigsten Positionen im Staatsapparat besetzten.
Zu dieser Gruppe gehören etwa der ehemalige Präsident und Ministerpräsident Dimitri Medwedew, Gazprom-Chef Alexej Miller, der ehemalige Wirtschaftsminister Herman Gref, der nun den Vorstandsvorsitz der halbstaatlichen Sberbak innehat, sowie Nikolaj Patruschew, der als ehemaliger KGB-Agent heute den russischen Sicherheitsrat leitet. Ein weiterer KGB-Mann aus dem ehemaligen Leningrad leitet seit 2008 den russischen FSB: Alexander Bortnikow. Für die Auslandsabteilung des FSB ist Sergej Naryschkin zuständig, der gemeinsam mit Putin die KGB-Hochschule besuchte und diesem 2004 nach Moskau folgte. Selbst der Putin-treue Oligarch Arkadi Rotenberg hat seine Karriere mit einem Sicherheitsunternehmen und einer Tankstellenkette in St. Petersburg begonnen. Neben den Silowiki und der St.-Petersburg-Seilschaft spielten im Kreml anfänglich auch rechtsliberale Kräfte eine gewisse Rolle, die oftmals ebenfalls aus dem ehemaligen Leningrad stammten.
Der Einfluss einer Fraktion innerhalb des russischen Machtapparats bemisst sich am Zugang zu den Machthabern im Kreml – und hier vor allem zum Präsidenten. Es handelt sich dabei um einen für autoritäre Systeme charakteristischen Prozess, der ihre Funktionsfähigkeit letztlich unterminiert: Der Personenkreis beziehungsweise das politische und ideologische Spektrum, das noch Einfluss auf Putin ausüben kann, verengt sich zusehends. Zudem scheinen kontroverse Diskussionen, gar Widerspruch im Kreml kaum noch möglich zu sein. Je weiter Putin seine Macht zementieren kann, desto geringer die Bereitschaft seiner sich zu Lakaien wandelnden Berater, ihm selbst in essentiellen Fragen zu widersprechen. Ähnlich verhält es sich mit der Herrschaft Erdoğans in der Türkei, der trotz einer Inflationsrate von zeitweise 60 Prozent unwidersprochen an seinem ‚zinskritischen‘ Wahn festhalten kann.
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Womit wir bei der wahnsinnig erscheinenden Entscheidung des Kremls angelangt wären, eine großangelegte Invasion der Ukraine einzuleiten. Eine wie auch immer geartete Intervention Russlands in der Ukraine mit ihrem schwelenden Bürgerkrieg im Osten war innerhalb der imperialen russischen Logik zwar zwangsläufig, da Russland seinen Status als imperiale Großmacht ohne seine Einflusssphäre, seinen geopolitischen ‚Vorhof‘ im Südwesten mittelfristig nicht aufrechterhalten könnte. Aber der größenwahnsinnige putinistische Maximalismus, die gesamte Ukraine quasi im Handstreich übernehmen und einen Regime Change in Kiew durchführen zu wollen, scheint Folge der besagten machtpolitischen Dysfunktionalität der eingefahrenen autoritären Strukturen zu sein.
Russische Oppositionsmedien meldeten, dass wenige Wochen nach Beginn des russischen Angriffskrieges eine Reihe hochrangiger FSB-Funktionäre in Moskau unter Hausarrest gestellt worden seien, und dass im Apparat nun eine Säuberungswelle ablaufe. Offensichtlich wurde Putin im Vorfeld des Krieges von seinen bitter untereinander um Zugang zum Allerheiligsten konkurrierenden Lakaien in den Nachrichtendiensten mit Informationen gefüttert, die Putins Wünschen nach einer russisch-ukrainischen Schicksalsgemeinschaft entsprachen – und nicht unbedingt von einer im Eiltempo von der Nato hochgerüsteten Ukraine, in deren Militär- und Staatsapparat westukrainische Rechtsextremisten zunehmend an Einfluss gewannen und schlagfertige, fanatisch antirussische Kampfformationen aufstellten, handelten.
Die Verantwortung für das militärische und geopolitische Desaster scheint gerade auf Putins FSB-Elite zurückzufallen, die aber zugleich nicht einfach entmachtet werden kann. Der russische Staatschef hat in Naryschkin und Bortnikow zwar dilettantische, aber zugleich loyale Untergebene, die – wie im Fall Naryschkins kurz vor Kriegsausbruch – öffentlich gedemütigt werden können, deren Zuverlässigkeit aber gerade in Krisenzeiten unabdingbar ist. Und Stabilität dürfte innenpolitisch die höchste Priorität haben. Ähnlich der russischen Bevölkerung dürften auch im Machtapparat und innerhalb der Staatsoligarchie kurzfristig die Reihen geschlossen werden, was das westliche Gerede von angeblichen Putschplänen im Kreml als bloßes Wunschdenken erscheinen lässt. Erst wenn die sozialen und ökonomischen Folgen der historisch beispiellosen westlichen Wirtschaftssanktionen die russische Gesellschaft voll erfassen, erst wenn auch die anstehende Eroberung der Ostukraine scheitern sollte, könnte es zu einem Stimmungsumschwung in der Bevölkerung und im russischen Machtapparat kommen.
Tomasz Konicz schrieb in konkret 4/22 über das deutsche Aufrüstungsprogramm