Wahn, wenn nicht jetzt?

konkret, 06/2020

Verschwörungstheoretiker fordern, was auch das Kapital sich wünscht: das Ende der Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung. Von Tomasz Konicz

Bill Gates ist der neue George Soros. Als während der sogenannten Flüchtlingskrise Pegida und AfD endgültig in der Mitte der hiesigen Gesellschaft ankamen, diente der jüdische Investor und Philanthrop George Soros als zentrales Feindbild der sich formierenden Neuen Rechten. Auf ihn fixierte sich eine absurde antisemitische Verschwörungstheorie, der zufolge seine liberale Soros-Foundation, letztich aber eben ‚die Juden‘, die „Umvolkung“ Deutschlands und Europas mit Hilfe der Flüchtlingsströme betrieben (siehe Lars Quadfasel in konkret 1/19). Neuer Krisenschub, neues Feindbild: Heute soll es der mäßig begabte Softwareentwickler und Milliardär Bill Gates sein, der vermittels seiner Stiftung im Hintergrund die Fäden zieht, um die Menschheit zu versklaven.

Die Wahnvorstellungen der Verschwörungsideologien kommen und gehen, aber ihre soziale und massenpsychologische Funktion in Zeiten der manifesten Krise bleibt bestehen: Sie liefern über die Personifizierung der Krisenursachen handgreifliche Feindbilder, die man zur Not an einem Laternenpfahl aufknüpfen könnte. Das Gefühl der Ohnmacht, das die extreme Heteronomie spätkapitalistischer Vergesellschaftung aufkommen lässt, kann hier im Hass auf konkrete Sündenböcke emotional abgeführt werden.

Wahnwichtel und Aluhutträger jedweder politischen Ausrichtung ahnen, dass Marktwirtschaft und Demokratie Fassaden sind, dass nichts so ist, wie es scheint, und sie reagieren darauf mit einer simplen Projektion, bei der sie ihre eigenen Erfahrungen mit alltäglichen Verschwörungen – beim Mobbing unter Angestellten, beim Kampf um den Futtertrog im Management oder Politikbetrieb – auf das große fetischistische Ganze des Weltsystems übertragen. Der notwendige radikale Bruch mit den Kategorien kapitalistischer Vergesellschaftung, der „Ausbruch“ aus dem kapitalistischen Gedankengefängnis, der Voraussetzung für eine emanzipatorische Praxis in der Systemkrise wäre, wird durch den mit der Krisenintensität zunehmenden Hass auf Funktionsträger oder Minderheiten (zumeist antisemitisch koloriert) abgeblockt.

Diese konformistische Rebellion, deren Vorbild etwa in der Hetzkampagne der bürgerlichen Mitte gegen die zu Sündenböcken gestempelten „faulen Südländer“ beim letzten Krisenschub zu finden ist, hat ihren Fluchtpunkt letztlich im Faschismus – und sie macht zielsicher jene liberalen Fraktionen der Funktionseliten zu Sündenböcken, die sich diesem Gang in die Barbarei (noch) verweigern. Ebenso zielsicher werden in dieser Bewegung die tatsächlich benennbaren Mitschuldigen an der Corona-Krise, etwa der Konzern Bayer, ausgeblendet. Radikale Kritik an der Pharmaindustrie, die sich aus der „unrentablen“ Impf- und Virusforschung weitgehend zurückgezogen hat(te), ist auf den reaktionären, mit Impfgegnern durchseuchten „Hygienedemos“ selbstverständlich nicht zu finden.

Dem um sich greifenden opportunistischen Wahn, der sich widerständig dünkt, steht eine glänzende Karriere bevor. Gerade während der Corona-Krise wird evident, dass sich der Verwertungszwang des Kapitals mit einer effektiven Pandemiebekämpfung nicht verträgt, da ein längerfristiger Shutdown – im Effekt einem globalen Generalstreik ähnlich – schlicht die Verwertungsbewegung des Kapitals unterbricht und das überschuldete, marode Weltsystem in den Kollaps zu treiben droht. Das Menschenmaterial der Verwertungsmaschine muss also zurück an die Produktionsfront getrieben werden, auch wenn es dabei zu einer Explosion von Neuinfektionen, zu massenhaften Erkrankungen und Todesfällen vor allem im nicht mehr produktiven Teil der Bevölkerung kommt. Das bornierte ökonomische Überlebensinteresse der kapitalistischen Funktionseliten, die in dieser Krise tatsächlich mit dem Rücken zur Wand stehen, kommt mit den Wahnwelten der sich formierenden reaktionären Massenbewegung gegen den Lockdown in Übereinstimmung – und gerade diese Konvergenz macht die gegenwärtige Situation so gefährlich.

Bislang vollzog sich der Aufstieg des Faschismus in der Bundesrepublik überwiegend wider das Interesse der maßgeblichen Fraktionen der deutschen Wirtschaftselite, die fürchteten, das braune Treiben auf den Straßen würde dem exportfixierten Geschäftsmodell der Deutschland-AG einen Imageschaden zufügen. Siemens-Chef Joe Kaeser brachte das in einem Interview Ende 2019 auf den Punkt, als er klarstellte, das die AfD „unseren Exportinteressen“ schade. Unterstützung erhielt die AfD eher von den reaktionärsten Kapitalfraktionen, etwa den Familienunternehmern oder Teilen des auf den Binnenmarkt fokussierten Mittelstands.

Nun scheint sich das zu ändern. Die Neue Rechte erringt die Hegemonie bei den Demonstrationen, die das Ende der effektiven Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung fordern, auf das die Kapitallobby hinter den Kulissen des Politbetriebs von Beginn an hinarbeitete. Zudem droht der historische Krisenschub, der durch den Shutdown ausgelöst wurde, die Geschäftsgrundlage des Exportweltmeisters Deutschland nachhaltig zu schädigen, so dass in den Chefetagen die Sorge vor globalen Imageschäden von der Angst um innenpolitische Stabilität abgelöst werden dürfte.

Eine totalitäre Logik, die von den Einzelnen Opfer für das große Ganze fordert, macht sich breit. Von den Landesfürsten und reaktionären Teilen der CDU/CSU, über die rechtsliberalen Nazi-Koalitionäre der FDP bis zur AfD und ordinären Nazi-Schlägern – alle marschieren sie gemeinsam auf und geben das Interesse des Kapitals an der Beendigung des Shutdown als selbstlosen Freiheitskampf gegen eine finstere Weltverschwörung aus. Die neoliberale Opportunistin und Realpolitikerin Angela Merkel ist in der Defensive, sie wurde in Fragen der Corona-Politik de facto entmachtet.

Nicht nur die traditionelle deutsche Rechte in all ihren Schattierungen will schnellstmöglich auf den ins Rollen gekommenen Zug aufspringen, auch die notorische deutsche Querfront von den „Nachdenkseiten“ bis zu KenFM, die als ideologischer Transmissionsriemen rechte Ressentiments in die Linke hineinträgt, hat sich um die Verbreitung von Verschwörungstheorien bezüglich des Corona-Virus verdient gemacht. Wenn sich der Wahn infektionsgeiler, todessehnsüchtiger Verschwörungsideologen mit dem binnenrationalen Kapitalinteresse trifft, das es von Hause aus gewohnt ist, über Leichen zu gehen, sieht es besonders finster aus.

Tomasz Konicz schrieb in konkret 8/19 über den zunehmenden Einfluss der Rechten innerhalb der EU

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