akweb.de, 18.05.2021
Zeigt sich in Joe Bidens Vorstoß, die Patente für Covid-Impfstoffe auszusetzen, ein neuer politischer Kurs gegenüber Kapitalinteressen?
Westlich des Atlantiks scheint der Staat wieder groß in Mode zu kommen, wie es die Bereitschaft Washingtons zur Aussetzung der Patente für Covid-Impfstoffe illustriert. Bisher weigerten sich alle Industriestaaten, in denen es eine starke Pharmalobby gibt, den Forderungen nach einer Aussetzung der Patentregelungen nachzukommen. Dagegen haben sich mehr als 100 Entwicklungs- und Schwellenländer einer entsprechenden WTO-Initiative Indiens und Südafrikas angeschlossen. Als die Biden-Administration Anfang Mai ihre spektakuläre Kehrtwende in dieser Streitfrage ankündigte, überrumpelte sie nicht nur die heimische Pharmabranche, sondern auch westliche »Partner« wie die Bundesrepublik, die sich aufgrund des Festhaltens an Impfpatenten plötzlich in der Defensive wiederfand.
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Tatsächlich gingen die Aktien vieler Pharmakonzerne nach Bekanntgabe der Kehrtwende Washingtons auf Tauchfahrt, während Lobbyverbände vor einer fehlgeleiteten Politik des US-Präsidenten warnten. Der sozialistische US-Senator Bernie Sanders hingegen begrüßte die Entscheidung, indem er sie als eine Frage »der Vernunft und der Moral« bezeichnete. Der Kontrast könnte kaum größer ausfallen: Während Joe Biden sich mit der heimischen Pharmabranche anlegt, telefonierte Angela Merkel zuerst mit Pharmabossen, um angesichts des US-Vorstoßes das weitere Vorgehen zu koordinieren. Eine US-Regierung, die von rechten, wirtschaftsnahen Demokraten dominiert ist, legt sich mit einer der mächtigsten Wirtschaftslobby des Landes an. Wieso vollzog Washington diesen Schritt?
Weder Moral noch Vernunft
Die Entscheidung der Biden-Regierung, den Patentschutz für Corona-Vakzine auszusetzen (und so die pandemiebedingten Extraprofite der US-Pharmabranche zu gefährden), ist indes nicht durch Moral oder Vernunft, sondern durch objektive Interessen motiviert. Einerseits wird hierdurch Washingtons Anspruch auf eine globale Führungsrolle und hegemoniale Stellung innerhalb des westlichen Bündnissystems untermauert, wie etwa die Zeitung USA Today bemerkte, als sie die Patentfreigabe als eine »Entscheidung über Amerikas globale Führung« bezeichnete. Mit dieser Weichenstellung gewinnen die Vereinigten Staaten somit Sympathien in der Peripherie des Weltsystems, während zugleich westliche Konkurrenten im Hegemonialkampf – insbesondere Deutschland – unter Druck gesetzt werden.
Allerdings ist die pandemiepolitische Kehrtwende Washingtons auf mehr als einen bloßen Public-Relations-Coup zurückzuführen, der den Führungsanspruch der USA untermauern soll. Es geht dem Weißen Haus auch um das Staatsinteresse, wie es von Karl Marx und Friedrich Engels mit dem Begriff des »ideellen Gesamtkapitalisten« definiert wurde. Der Staat ist demnach nicht einfach nur ausführendes Organ partieller Profitinteressen von Wirtschaftsverbänden oder Großkonzernen, sondern agiert als ein eigenständiger Machtfaktor. Er soll die Stabilität des gesamten kapitalistischen Systems gewährleisten, das aufgrund seiner widersprüchlichen Verwertungsdynamik tendenziell instabil ist.
Hierbei kann der Staat auch ausdrücklich gegen die Interessen einzelner Kapitalgruppen vorgehen, sobald diese das Fortbestehen des Gesamtsystems gefährden – er muss als »ideeller Gesamtkapitalist« das Gesamtinteresse des Systems im Auge haben, da selbst die mächtigsten Kapitalist*innen hierzu nicht in der Lage sind. Diese Konstellation ist gerade im Fall der Impfstoff-Patente gegeben: Die unkontrollierte Ausbreitung von Covid-Mutanten muss aufgrund der in die Billionen gehenden Kosten der Lockdowns von den politischen Funktionseliten um jeden Preis verhindert werden – selbst wenn es die Extraprofite der Pharmabranche trifft, die wahrscheinlich ohnehin partielle Ausgleichszahlungen rausschlagen wird.
Die Pandemie ist auch in den Zentren des Weltsystems nicht überwunden, solange sie nicht überall überwunden wird. Denn Mutanten aus der Peripherie, die eventuell Resistenzen gegen Vakzine ausbilden, können auch die »Wirtschaft«, sprich den mühsam wieder in Gang gesetzten Verwertungsprozess in den Zentren abermals gefährden. Das Vorgehen der Biden-Regierung hat somit nichts mit Moral und wenig mit Public Relations zu tun. Es ist hauptsächlich von dem Versuch getragen, die globale Impfkampagne zu beschleunigen und ein krisengebeuteltes und zunehmend instabiles spätkapitalistisches Weltsystem durch eine staatliche Intervention zu stabilisieren. Der frisch ins Weiße Haus eingezogene »ideelle Gesamtkapitalist« formuliert ein kapitalistisches Gesamtinteresse, das er gegen Partikularinteressen der Pharmabranche durchsetzt – selbst wenn ein Bill Gates sich gegen die Patentaussetzung ausspricht.
Expansive Geldpolitik und Liquiditätsblase
Der gegenwärtige Krisenschub, ausgelöst durch Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung, bildet somit den zentralen Faktor, der die Biden-Administration zum Handeln nötigte. Es ist kapitalistische Krisenpolitik. Fungieren somit die USA abermals als Vorhut eines Politikwechsels, wie schon in den 1980ern bei der Etablierung des Neoliberalismus unter Ronald Reagan – diesmal in Richtung Etatismus? Eine zentrale Rolle des Staates ist ja charakteristisch für schwere kapitalistische Systemkrisen, wie etwa in den Jahren nach dem Crash von 1929. Und es ließe sich argumentieren, dass auch angesichts der Klimakrise eine ähnliche Logik wie bei Impfpatenten greifen könnte, wo die Profitinteressen der fossilen Industrie ignoriert würden, um eine rasche Transformation des globalen Energiesektors durchzuführen.
Dabei gilt es aber zu berücksichtigen, dass nicht die staatliche Intervention das neue Moment bei der angestrebten Patentaussetzung bildet, sondern die Bereitschaft der Politik, gegen Interessen mächtiger Kapitalfraktionen vorzugehen. Die Staaten betrieben bei jedem globalen Krisenschub des 21. Jahrhunderts – Aktienblase 2000/01, Immobilienblase 2008, Pandemie 2020 – eine äußerst aktive Interventionspolitik, die zu einem massiven Anstieg der Staatsverschuldung führte. Nach dem Platzen der transatlantischen Immobilienblasen 2008 sind von den Staaten rund drei Billionen US-Dollar zur Stützung des Weltfinanzsystems aufgewendet worden. Beim Krisenschub 2020 waren es schon mehr als zehn Billionen (das sind 10.000 Milliarden US-Dollar). Zwischenfazit: Nahezu alle westlichen Industriestaaten sind hochverschuldet – und sie finanzieren sich zumeist über Gelddruckerei.
Das Vorgehen bei den Aufkaufprogrammen der Notenbanken ist im Prinzip relativ simpel: Die Notenbank kauft auf den Finanzmärkten Schuldtitel wie Staatsanleihen (2020) oder faule Hypothekenverbriefungen (2008), wobei sie diese Wertpapierkäufe mit dem selbst geschaffenen Geld »bezahlt«. Dadurch verschwinden diese Papiere aus dem Marktkreislauf, sodass die Märkte stabilisiert werden. Zugleich wird dabei Geld geschaffen, das nun im Finanzüberbau weitere Nachfrage produzieren kann – während die aufgekauften Papiere in den Bilanzen der Notenbanken, die als Sondermülldeponien des Weltfinanzsystems fungieren, geparkt werden.
Das frisch gedruckte Geld, die »Liquidität«, die in die Märkte gepumpt wird, lässt folglich die Preise auf den Finanzmärkten steigen: Sie heben ab zu einem Boom, zu einer Blasenbildung. Mensch kann hier also von einer Liquiditätsblase sprechen. Dies gilt für den langen Finanzmarktboom von 2009 bis Anfang 2020 wie für die gegenwärtige Hausse an den Finanzmärkten, die durch ungleich größere Aufkaufprogramme der Notenbanken ausgelöst wurde. Eine Quantifizierung dieser Gelddruckerei, bei der oftmals einfach die zur Krisenbekämpfung aufgenommenen Staatsschulden von Notenbanken aufgekauft wurden, ist durch einen Blick auf die Bilanzen der »Währungswächter« der EU und der USA möglich. Die Bilanzsumme der Europäischen Zentralbank (EZB) ist von zwei Billionen 2008, über 4,6 Billionen 2019, auf inzwischen mehr als sieben Billionen Euro angeschwollen. Bei der US-Notenbank Fed finden sich inzwischen »Wertpapiere« im Buchwert von 7,7 Billionen US-Dollar, während es im Februar 2020 nur circa vier Billionen waren; zu Beginn des 21. Jahrhunderts betrug die Bilanzsumme der Fed weniger als eine Billion Dollar.
Die Ironie der derzeitigen Krisenkonstellation ist folglich evident: Der Staat bleibt in den westlichen Zentren des Weltsystems nur »handlungsfähig«, solange die Gelddruckerei noch funktioniert, solange die in absurde Höhen getriebene Blasenbildung auf den Weltfinanzmärkten nicht endgültig zusammenbricht, wodurch das in der Finanzsphäre gebundene inflationäre Potenzial freigesetzt würde. Möglich ist diese extrem expansive Geldpolitik nur bei Beibehaltung einer Weltwährung wie dem Euro oder der Weltleitwährung US-Dollar; im Fall von Schwellenländern wie etwa der Türkei führt expansive Geldpolitik umgehend zu Inflation. Deswegen sind viele innen- und außenpolitische Maßnahmen Washingtons, wie der abermalige globale Führungsanspruch, von der Maxime geleitet, die globale Dominanz des Dollars um jeden Preis zu halten. Gerade die Angst Washingtons, dieser Dollardominanz verlustig zu gehen und somit sich nicht mehr die Weltleitwährung nach Belieben drucken zu können, verleiht dem Konflikt mit Peking die große Brisanz und Gefährlichkeit.
Ein Zeitfenster für progressive Staatspolitik
Die Rolle des Staates als »ideeller Gesamtkapitalist« ist in den vergangenen neoliberalen Dekaden tatsächlich in Vergessenheit geraten, da er krisenbedingt im zunehmenden Ausmaß bloß als Beute mächtiger Lobbys und Kapitalfraktionen diente und eben diese Stabilisierungsfunktion kaum in ausreichendem Maß wahrnehmen konnte. Biden versucht gewissermaßen, zur kapitalistischen Normalität zurückzukehren, wie sie vor der Stagflationsperiode der 1970er und dem Durchmarsch des Neoliberalismus in den 1980ern herrschte – ein Unterfangen, das angesichts der extremen Verschuldung und Gelddruckerei Washingtons selber auf einem äußerst instabilen Fundament fußt.
Der Etatismus wird aufgrund des erreichten globalen Produktivitätsstandards und des fehlenden neuen Akkumulationsregimes keinen Ausweg aus der ökologischen und sozialen Krise finden, in der sich das Weltsystem befindet. Er kann im besten Fall durch Gelddruckerei die gegenwärtige Liquiditätsblase über einige Jahre aufrechterhalten und progressiver Politik ein Zeitfenster verschaffen, um den Weg in die Systemtransformation, in den Postkapitalismus zu verfolgen. Progressive Staatspolitik könnte eigentlich nur noch im Streben nach Selbstüberwindung bestehen. Die globale Transformation der fossilen energetischen Basis des Weltsystems muss mit einer Überwindung des kapitalistischen Verwertungszwangs, samt dessen staatlicher Institution und der korrespondierenden Sphäre des Politischen einhergehen.
Tomasz Konicz ist Autor und Journalist. Von ihm erschien jüngst das Buch »Klimakiller Kapital. Wie ein Wirtschaftssystem unsere Lebensgrundlagen zerstört« im Mandelbaum Verlag