Dummheit ist der beste Verbündete des linken Opportunismus – dies macht der aktuelle Krisenschub mal wider evident.
exit-online, 09.12.2020
Kapitalismus oder Tod? Wozu Marxsche Theorie schnell verkommen kann, sofern sie die Systemkrise jahrzehntelang souverän ignoriert und folglich keinen adäquaten Krisenbegriff ausbildet, machte der renommierte US-Marxist David Harvey in einem im Dezember 2019 publizierten Interview in deprimierender Offenheit deutlich.1 Revolution? Das sei eine „kommunistische Fantasie“, wir lebten nicht mehr im 19. Jahrhundert. Kapital sei „to big to fail“, es sei zu notwendig, sodass wir es nicht uns erlauben könnten, dass es zusammenbreche. Die Dinge müssten hingegen „in Bewegung gehalten“ werden, da wir ansonsten „nahezu alle verhungern“ würden. Man müsse gar Zeit investieren, um es „aufzupäppeln“, so Harvey. Eventuell könne man langsam, an einer graduellen Rekonfiguration des Kapitals arbeiten, aber ein „revolutionärer Umsturz“ sei etwas, dass „nicht passieren kann und nicht passieren darf“ – und man solle gar aktiv daran arbeiten, dass es nicht passiere. Zugleich bemerkte der Kathedermarxist endlich, dass das Kapital „zu groß, zu monströs“ geworden sei, um zu überleben. Es befände sich auf einem „selbstmörderischen Pfad“.
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Da ist er wieder, der berüchtigte linke Arzt am Krankenbett des suizidgefährdeten Kapitalismus, der bar jeglicher nennenswerten Krisentheorie nun plötzlich nach Krisenerklärungen suchen muss, nur die „soziale Ungleichheit“, den „Klimawandel“ und etwas platte Wachstumskritik als verdinglichte Faktoren der wahrhaft monströse Dimensionen annehmenden Krise benennen kann, ohne deren Ursachen in den inneren Widersprüchen des Kapitalverhältnisses, das an seine inneren und äußeren Entfaltungsschranken stößt, auch nur zu ahnen. Dies jämmerliche Bild macht wie unter einem Brennglas das theoretische und praktische Elend einer verstockten und regelrecht konservativen Linken evident, die Krisentheorie nicht nur ignoriert, sondern emsig an ihrer Denunzierung und Marginalisierung als „Zusammenbruchideologie“ arbeitet. Und eigentlich liefert Harvey die deprimierende Blaupause für den Verlauf einer solchen ideologischen Degenerierung – sie führt in Opportunismus und Reformismus.
Der gegenwärtige ökonomische Krisenschub, getriggert durch die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung, nimmt Dimensionen an, wie sie seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts nicht mehr erreicht wurden. Millionen Menschen hungern bereits in den USA, obwohl es dort keine der von Harvey befürchteten „Revolutionen“ gegeben hat. Die Klimakrise hat den point of no return überschritten, wie die diesjährige Hitzewelle in Sibirien klarmachte. Und trotzdem dominieren in der Linken ein archaischer Neo-Leninismus, der überall nur Interessen walten sieht und beständig nach dem „cui bono“ fragt, oder gleich, konsequenterweise, bloßes sozialdemokratisches Umverteilungsdenken, bei dem eine „gerechte“ Verteilung der Krisenlasten angestrebt wird – ohne sich auch nur Gedanken zu machen über die Ursachen des gegenwärtigen Desasters, dass nur noch in sozialdemokratischer Krisenverwaltung „gemanagt“ werden soll. Dies geht bis hin zu sozialdemokratischen Wortungetümen wie „Klimagerechtigkeit“.
Es scheint geradezu, als ob Krisentheorie gerade kurz vor Ausbruch eines Krisenschubs in der Linken besonders stark marginalisiert ist. Der Scheint trügt in diesem Fall auch nicht. Die Systemkrise ist kein punktuelles Ereignis, sondern ein in Schüben ablaufender, historischer Prozess zunehmender innerer Widerspruchsentfaltung des Kapitals, dass sich aufgrund konkurrenzvermittelter Rationalisierung seiner eigenen Substanz, der wertbildenden Arbeit entledigt und sowohl eine ökonomisch überflüssige Menschheit als auch eine ökologisch verwüstete Welt hineinlässt. Den an Intensität gewinnenden Krisenschüben, in denen die Krise manifest wird, geht somit eine lange latente Phase voraus, in der das aus dem Selbstwiderspruch des Kapitals resultierende Krisenpotenzial sich akkumuliert, zumeist in Gestalt ansteigender Schuldenberge oder Finanzmarktblasen, die dem System noch eine Art zombiehaftes Scheinleben ermöglichen.
Oberflächlich betrachtet, „funktioniert“ der Kapitalismus in diesen latenten Aufstiegsphasen einer Blasenbildung, es gibt keine manifesten Krisenphänomene, solange die Aktien-, Schulden, oder Immobilienblasen munter weiter wuchern und der an ihrer Produktivität erstickenden Warenproduktion kreditfinanzierte Nachfrage verschaffen – also gibt es für das bornierte linke Alltagsbewusstsein auch keine Krise mehr, alles läuft seinen bewährten, kapitalistischen Gang. Man kann wieder zu den guten, alten Wahrheiten zurückkehren und das mit dem Nachdenken erst mal wieder sein lassen. Zumal die Verheerungen ganzer Regionen, die das Kapital bei diesen Krisenschüben hinterlässt, die sich von der Peripherie in die Zentren fressen, nach einiger Zeit – dank der Vorarbeit der Kulturindustrie – schlicht verdinglicht werden, zu einer „neuen Normalität“ gerinnen und nicht mehr als Folge eines historischen Krisenprozesses wahrgenommen werden. Die Griechen sind nun mal bettelarm, die „Araber“ leben in gescheiterten Staaten, etc.
Aufbauend darauf lässt sich nun diese linke Borniertheit, dieser Unwille, vom geliebten Feind Kapital zu lassen, auf eine dem dumpfen Gegenstand ausnahmsweise adäquate Formel bringen, auf einen linken Blödheitskoeffizenten, der als ein Frühindikator eines neuen Krisenschubs fungieren könnte: Der Marginalisierungsgrad von Krisentheorie innerhalb der deutschen Linken verhält sich proportional zum latenten Entfaltungsgrad des kommenden Krisenschubes. Kurz vor der nächsten Krise will in der Szene niemand mehr was hören von irgendwelchen Krisen.
Es ist nicht nur Blödheit, die dafür sorgt, dass der übergroße Teil der Linken immer wieder besonders ignorant in den nächsten Krisenschub stolpert, sodass inzwischen die Neue deutsche Rechte mit ihren in und außerhalb des Staatsapparates forcierten Umsturzplänen ein stärker ausgeprägtes ‚Krisenbewusstsein‘ aufweist (das muss man erst mal schaffen). Es geht auch um gekränkte Egos szeneinterner Vorturner, die partout nicht zugeben können, jahrelang Unsinn von sich gegeben zu haben, indem der fetischistische, irrationale Charakter kapitalistischer Vergesellschaftung rundweg geleugnet und das Wesen des Kapitals als automatisches Subjekt ins Reich der Mythen verbannt wird, um weiter an der bloßen Oberfläche den berühmten Interessen hinterherzujagen, die doch nur im Rahmen der fetischistischen, irrationalen Gesamtbewegung des Kapitals ihre bornierte Binnenrationalität haben.
Das leninische „cui bono“ blamiert sich auch an der Klimakrise, die nicht nur die menschliche Zivilisation, sondern auch die Geschäftsgrundlagen des Kapitals bedroht. Gerade die Funktionseliten des Kapitals suchen buchstäblich Zuflucht in Bunkern, auf abgeschotteten Inseln oder perspektivisch auf dem Mars (Musk) und Mond (Bezos), weil sie selber der weltvernichtenden Dynamik des Kapitals in seiner globalen Eigenschaft als automatisches Subjekt hilflos gegenüber stehen – und weil die Staatsapparate gerade nicht mehr in der Lage sind, als „ideelle Gesamtkapitalisten“ zu agieren und das Fortbestehen des Systems durch entspreche legislative Schritte zu sichern, da letztlich bei konsequenter Klimagesetzgebung die Akkumulationsbewegung zusammenbrechen würde. Eine nennenswerte globale Absenkung der CO2-Emissionen erfolgte bislang nur um den Preis einer Weltwirtschaftskrise (2009), wie zuletzt auch der Einbruch im Gefolge des „Lockdown“ klarmachte. Die neurechten „Hygienedemos“ gegen die Pandemiemaßnahmen bildeten übrigens die an ihr logisches Ende geführte Karikatur des Neo-Leninismus, wo ja wirklich händeringend nach den konkreten „Interessen“ und Hintermännern gesucht wurde, die dem gegenwärtigen Krisenschub bewusst herbeigeführt hätten.
Der innerlinke Impuls, zurück zu „den Wurzeln“ gehen zu wollen, sich zurück auf den kapitalinternen Verteilungskampf zu fokussieren, bildet letztendlich eine Reaktion auf den Durchmarsch der Neuen Rechten. Man will den einfachen faschistischen Lügen einfache Wahrheiten von allmächtigen Kapitalisten entgegensetzen – und interpretiert etwa die aus der Systemkrise resultierende Überakkumulationskrise als eine bloße Verteilungsfrage, die man durch Enteignung (Leninisten) oder Steuern (Sozis) schon lösen werde. Die zunehmenden Klassenkämpfe, auf die sich diese Strömungen berufen, sind aber nur Ausdruck der krisenbedingt zunehmenden Verteilungskämpfe, in deren Verlauf nicht etwa eine neue proletarische Klasse entsteht, sondern die in der Peripherie des Weltsystems schon nahezu abgeschlossene Produktion einer ökonomisch überflüssigen Menschheit auch in den Zentren voranschreitet. Das im Spätkapitalismus zunehmende Elend spiegelt nur die frühkapitalistischen Zustände.
Wieso ist dieser zumeist absurd staatsgläubige, anachronistische Zug so erfolgreich, obwohl die Krise inzwischen einen derartigen Reifegrad erreicht hat, dass selbst ihre früheren Leugner nicht mehr umhinkommen, Fragmente von Krisentheorie in ihre sozialdemokratischen oder leninistischen Ideologien einzubauen, um so regelrechte Frankenstein-Konstrukte zu formen? Hier gilt es nun, tatsächlich mal nach dem cui bono zu fragen. Dummheit, Narzissmus und ideologische Verblendung bilden eine gute Grundlage für die einzige innerlinke Bewegung, die ein wirkliches Interesse an der Marginalisierung von Krisentheorie hat: für den Opportunismus. Diejenigen Kräfte, die die Linke als ein Karriereticket für Rot-Rot-Grün betrachten, die eigentlich schon jetzt sich darin üben, Staatsräson durchzusetzen, müssen das ganze „Krisengerede“ marginalisieren oder domestizieren, weil es – im Gensatz zur Verteilungsdebatte – schlicht nicht kompatibel ist zum Politbetrieb, in dem man was werden will.
Was resultiert aus konsequenter Krisentheorie? Die Überwindung des Kapitals als einer autodestruktiven Totalität ist schlicht überlebensnotwendig. Seiner fetischistischen Eingendynamik überlassen, wird das amoklaufende automatische Subjekt die bereits in Gang gesetzte Weltzerstörung vollenden. Diese Maxime linker Krisenpraxis ist folglich nicht verhandelbar. Es gibt keine Alternative zum Versuch einer emanzipatorischen Systemtransformation. Wie soll man das aber im Medien- oder Politikbetrieb verkaufen können, bei Koalitionsverhandlungen oder in der Talkshow? Bei Marginalisierung des radikalen Krisenbewusstseins kann der Opportunismus aber immerhin noch darauf hoffen, Herrn Harvey nachzueifern, um sich als Arzt am Krankenbett des Kapitals zu versuchen, was in letzter Konsequenz darauf hinausläuft, zum Subjekt der kommenden Krisenverwaltung zu werden. Es ist eine panische Logik des „Rette-sich-wer-kann“, die dem Opportunismus bei seinem letzten großen Run auf Posten und Pöstchen seine besondere Brutalität verleiht. Da Bunker oder Privatinseln nicht zur Disposition stehen, sucht man Zuflucht in den erodierenden und verwildernden Staatsapparaten, was auch die Basis der zunehmenden Staatsgläubigkeit in Teilen der Linken bildet – lieber im Apparat austeilen, als außerhalb einstecken zu müssen.