Telepolis, 24.08.2020
Einige Hintergrundinformationen zu der existenziellen Krise eines postsowjetischen Fossils
Seit 1994 amtiert der ehemalige Sowchosendirektor Alexander Lukaschenko als Präsident der Republik Belarus, doch nun scheint seine Zeit nach einem guten Vierteljahrhundert abzulaufen. Das Regime in Minsk steht angesichts andauernder Proteste und der Streikwelle in Staatsbetrieben mit dem Rücken zur Wand, wie die Ankündigung von Verfassungsänderungen und die Hilfsgesuche Lukaschenkos gen Moskau illustrieren.
Ein Aufrechterhalten des bisherigen Status quo scheint nicht mehr möglich, Belarus wird sich somit im Gefolge der nun tobenden Auseinandersetzungen verändern – auf die eine oder andere Art. Der konkrete Verlauf der Kämpfe vor Ort, wie des geopolitischen Tauziehens zwischen Russland und der EU, werden den Charakter des nun einsetzenden Transformationsprozesses bestimmen.
Die Sanktionen der EU gegen Belarus, die Nichtanerkennung des Wahlausganges durch Brüssel – diese konfrontativen Aktionen Europas kontrastieren mit einer raschen Wiederannäherung zwischen Minsk und Moskau. Putin ließ Lukaschenko, der sich bislang hartnäckig gegen eine Vertiefung der russisch-belarusssichen Union sträubte, zu Beginn der Proteste weitgehend allein. Das Kalkül des Kremls bestand darin, Lukaschenko zu schwächen, um hiernach bei Verhandlungen weitgehende Konzessionen erringen zu können.
Der bedrängte belarussische Staatschef spielt wiederum die propagandistische Karte einer westlichen „Farbenrevolution“, sodass die derzeitigen Streiks und Proteste zu einer von Ausland gestreuten, westlichen Intervention erklärt werden – inklusive der Mobilisierung von Armeeeinheiten im Westen des Landes. Zudem hat Lukaschenko die Freilassung von 33 russischen Söldnern angeordnet, die kurz vor den Wahlen nahe Minsk verhaftet worden sind. Den Männern wurde vorgeworfen, einen prorussischen Umsturz, eben eine russische „Farbenrevolution“ in Belarus anzetteln zu wollen (Geheimdienstspiele: Die unglaubliche Geschichte der 33 russischen Söldner in Belarus).
Putin wiederum gab seine öffentliche Zurückhaltung auf und warnte eindringlich vor äußeren Versuchen, sich „in innere Angelegenheiten der Republik Belarus einzumischen“, was zu einer weiteren Eskalation der Lage beitragen könne. In einer offiziellen Erklärung nach einem Telefonat zwischen dem Kremlchef und Kanzlerin Merkel hieß es zudem, Russland und die EU hofften auf eine baldige Normalisierung der Lage in Belarus.
Die geopolitische Sackgasse
Wohin die Reise gehen soll, machte eine offizielle Erklärung des Kremls deutlich, die von Beistand im Rahmen der „Prinzipien des Vertrages über den Unionsstaat“ sprach, den Russland und Belarus in den 90ern abgeschlossen haben. Der Kreml erwähnt in diesem Zusammenhang auch die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, einer Art eurasischer Gegen-Nato, in der sich etliche postsowjetische Republiken zusammengeschlossen haben, um dem Vordringen der Nato begegnen zu können. Damit macht Moskau klar, dass nennenswerte Unterstützung nur bei der Forcierung des Unionsstaates zwischen beiden Ländern zu erwarten sei. Belarus müsste somit mittelfristig in der russischen Föderation aufgehen und seiner staatlichen Souveränität verlustig gehen.
Für Lukaschenko würde dies mit einem massiven Machtverlust im zentralistischen politischen System Russlands einhergehen, er würde faktisch zu einem Provinzgouverneur degradiert. Deswegen hat sich Minsk in den vergangenen Jahren nach Kräften gegen den Verlust staatlicher Souveränität gewehrt, der mit der Realisierung des 1996 ins Leben gerufenen Unionsstaates einherginge. Und es ist genau dieser Konflikt zwischen dem russischen Vereinigungsdruck und belarusischen Souveränitätsbestrebungen, der den Kern des Konfliktes und der zunehmenden Spannungen zwischen beiden Ländern bildete. Ironischerweise hat anfänglich gerade Lukaschenko dieses Projekt in der Spätphase der umnachteten Regentschaft Boris Jelzins forciert, da er sich Hoffnungen machte, diesen zu beerben.
Lukaschenko versuchte in den vergangenen Jahren, die staatliche Souveränität seines Landes durch eine klassische geopolitische Schaukelpolitik zu erhalten, indem er sich gegenüber dem Westen öffnete und etwa Deals über die Lieferung von Energieträgern mit den USA abschloss, um so die russischen Bestrebungen, durch Lieferstopps Öl und Gas als geopolitische Waffe zu benutzen, zu unterlaufen. Faktisch lief diese Strategie Lukaschenkos darauf hinaus, das autoritär geführte Belarus als einen Pufferstaat zwischen dem Westen und Russland zu positionieren – und sich so selber an der Macht zu halten.
Diese geopolitische Schaukelpolitik beruhte auf der Annahme, dass der Westen diese Position Lukaschenkos in „seinem“ Land akzeptieren würde, da sie mit einer objektiven Schwächung Russlands einherginge, aus dessen geopolitischen Orbit nach der Ukraine auch noch Belarus entweichen würde. Die derzeitigen Demonstrationen und Streiks, wie auch die Sanktionen der EU, machen dieses Kalkül nun hinfällig: Lukaschenko spielte umgehend die antiwestliche Karte, um die Proteste zu einer Nato-Verschwörung zu deklarieren und eine rasche Annäherung an Moskau einzuleiten.
Lukaschenkos Schaukelpolitik hat sich somit erschöpft. Damit scheint das Ende der faktischen Unabhängigkeit der Republik Belarus gewiss – und dies wird gerade durch die konfrontative Rhetorik im Westen befördert, die mal wieder mit einer selektiven Wahrnehmung von Menschenrechtsverletzungen arbeitet.
Die ökonomische Sackgasse
Die Spannungen mit Moskau, das verstärkt auf die Realisierung des Unionsvertrages insistiert, haben Belarus an seiner empfindlichsten ökonomischen Stelle getroffen. Einer der wichtigsten Devisenbringer des osteuropäischen Landes, sozusagen sein „Geschäftsmodell“, beruhte darauf, billiges russisches Öl in den belorussischen Raffinerien zu verarbeiten und dann zu Weltmarktpreisen zu verkaufen.
Belarus erhielt den Energieträger zu dem russischen Inlandspreis gerade im Rahmen des Unionsvertrages, dessen weitgehender Implementierung sich Lukaschenko zunehmend verweigerte. Der Kreml ging deswegen dazu über, die weitere Lieferung des günstigen Energieträgers von Fortschritten bei der Realisierung der Union abhängig zu machen, was Belarus – in Wechselwirkung mit dem Fall der Ölpreise aufgrund des aktuellen Krisenschubs – in eine ökonomische Krise stürzte: Die Raffinerien des Landes sind nicht mehr ausgelastet, wobei das aus den Westen und von den USA aufgekaufte Rohöl schlicht zu teuer ist, um langfristig das belarussische „Geschäftsmodell“ der Weiterverarbeitung von Energieträgern profitabel betreiben zu können.
Dabei befindet sich die von Staatsbetrieben geprägte Ökonomie des osteuropäischen Landes seit Jahren in einer Stagnationsperiode, sodass das durchschnittliche jährliche Wirtschaftswachstum in Belarus in der vergangenen Dekade weniger als ein Prozent betrug, was – neben den Verfehlungen Lukaschenkos bei der Pandemiebekämpfung – zum gegenwärtigen Aufschwung der Opposition maßgeblich beitrug.
Die Regierung in Minsk sieht sich nicht nur mit fehlenden Deviseneinnahmen und mit einem wachsenden Haushaltsloch von umgerechnet 700 Millionen US-Dollar konfrontiert, sondern auch mit der Aussicht eines Staatsbankrotts, der immer wieder diskutiert wird. Das Land ist nicht nur von billigen russischen Öllieferungen abhängig, es stellt mit Verbindlichkeiten von rund 7,5 Milliarden US-Dollar auch den größten Auslandsschuldner Russlands dar.
Jenseits der Weiterverarbeitung von Energieträgern und einigen Betreiben aus dem Militärisch-Industriellen-Komplex sind die belarussischen Staatsbetriebe auf dem Weltmarkt kaum konkurrenzfähig. Der russische Binnenmarkt, wo 41 Prozent der belarusssichen Exporte fließen, spielt weiterhin die dominante Rolle in der Handelsstatistik des osteuropäischen Landes, dessen Bruttoinlandsprodukt noch immer nicht wieder den Stand vor dem letzten Krisenschub 2008 erreicht hat.
Insofern ähnelt die Krise, in der sich nun Minsk befindet, durchaus der hoffnungslosen ökonomischen Lage der Ukraine am Vorabend von Putsch, Intervention und Bürgerkrieg. Das ökonomische Fundament staatlicher Souveränität, eine ausreichende Verwertung von Kapital in der warenproduzierenden Industrie, ist nicht mehr gegeben, sodass wirtschaftliche und politische Verwerfungen den Staat destabilisieren, die sozialen Spannungen verschärfen – und Interventionen möglich machen.
Perspektiven: Russische Staatsoligarchie oder Frischfleisch für Tönnies & Co.?
Der Unterschied zur Ukraine besteht aber offensichtlich darin, dass die derzeitigen Proteste in Belarus nicht vom Westen finanziert oder organisiert werden. Die westliche Intervention in Kiew stützte sich auf rechtsextreme westukrainische Gruppierungen, die als die antirussische und militante Speerspitze des Umsturzes fungierten. Solche Gruppen sind in Belarus in nennenswertem Ausmaß nicht zu finden, da es im gesamten Land – trotz der von Lukaschenko geförderten Ausbildung einer eigenen Identität – keine antirussischen Bevölkerungsgruppen oder -schichten gibt.
Überdies gilt es zu bedenken, dass die große autoritäre Welle in den meisten postsowjetischen Ländern schon nach 2004 nach dem Ausbruch der westlich finanzierten „orangen Revolution“ in der Ukraine samt den folgenden „Farbenrevolutionen“ anrollte, als alle Regimes der Region sich bemühten, jegliche offenen Gesellschaftsbereiche und demokratischen Nischen endgültig zu schließen, um westlichen Interventionen keine Angriffsflächen zu bieten. Es ließe sich gar argumentieren, dass die Orangene Revolution maßgeblich zur autoritären Formierung im postsowjetischen Raum beigetragen hat.
Der belarussische KGB hat unermüdlich daran gearbeitet, dass westliche Einflussnahme in oppositionellen Zirkeln kaum Wirkung entfalten konnte – und er dürfte von der Wucht der Demonstrationen und Streiks überrascht worden sein, die von der ökonomischen Misere und der politischen Stagnation und Perspektivlosigkeit angefeuert werden.
Die Proteste erreichten ihre Wirkung nicht so sehr durch die Mobilisierung der disparaten Opposition, die einzig von der Feindschaft gegenüber Lukaschenko zusammengehalten wird, und in der durchaus national-belarussische Kräfte agieren, sondern vor allem durch die Streiks der Arbeiterschaft. Diese Streikwelle fand nicht in dem kleinen privaten Sektor statt, sondern gerade – auch in Reaktion auf die Gewaltexzesse der Polizeikräfte – im Staatssektor des Landes, den der frühere Sowchosendirektor Lukaschenko als das Rückgrat seiner Herrschaft betrachtete. Es sind „seine“ Leute, die nun streiken und den Präsidenten ausbuhen. Lukaschenko kann derzeit nur noch auf Zeit spielen und hoffen, dass die Proteste sich angesichts der Krise totlaufen und er sein Land in geordneten Bahnen abwickeln und in einen russischen Unionsstaat überführen kann.
Die Tragik der streikenden Arbeiter in Belarus besteht nun darin, dass auch sie selber gewissermaßen ein Fossil sind. Sie streiken für ihre eigene Abwicklung, da die historische Nische, in der sie als ein – durch billiges russisches Öl finanziertes – Rudiment der untergegangenen Sowjetunion existieren konnten, nun zu verschwinden droht. Im Kleinen spielt sich hier das Drama ab, wie es die polnische Gewerkschaft Solidarnosc am Beginn des Zerfalls des real existierenden Staatssozialismus aufführte. Die Arbeiterklasse, die damals, in den 80er Jahren, gegen Preissteigerungen demonstrierte, ist längst Geschichte, die Danziger Werft wurde weitgehend abgewickelt.
Innerhalb des spätkapitalistischen Weltmarktes bieten sich den Lohnabhängigen in Belarus somit nur noch miese Optionen. Ungefiltert dem Weltmarkt bei einer etwaigen – inzwischen eher unwahrscheinlichen – Westintegration ausgesetzt, dürfte ein Großteil der hauptsächlich für den russischen Markt produzierenden belarussischen Staatsbetriebe das Schicksal der Danziger Werft teilen.
Die Lohnabhängigen der Republik Belarus würden sich dann in einer ähnlichen Lage wie ihre ukrainischen Klassengenossen wiederfinden, die massenhaft als Tagelöhner im Billiglohnsektor der EU schuften – und gewissermaßen als Frischfleisch für Unternehmer wie Clemens Tönnies dienen.
Ein Aufgehen der Republik Belarus im russischen Unionsstaat könnte hingegen das langsame Siechtum des belarussischen Staatssektors eventuell prolongieren, doch würde er zum Objekt der Verteilungskämpfe der russischen Staatsoligarchie, die ihre Unfähigkeit zur Modernisierung der Wirtschaft unter der Regentschaft Wladimir Putins eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat. (Tomasz Konicz)