Telepolis, 03. Juli 2019
Während die europäische Politik den Klimawandel in die Fußnoten verbannt, scheinen die Kipppunkte des globalen Klimasystems in der Arktis überschritten zu werden
Der Sommer 2019 könnte als die große Umbruchszeit in die Menschheitsgeschichte eingehen, in der das Überschreiten der Kipppunke des globalen Klimasystems evident wurde – falls in den kommenden Dekaden überhaupt noch so etwas wie Geschichtswissenschaft betrieben werden sollte.
Eine monströse wissenschaftliche Fehleinschätzung wurde etwa Mitte Juni aus der kanadischen Arktis gemeldet. Das Auftauen des Permafrostbodens in vielen arktischen Regionen Kanadas schreitet viel schneller voran, als ursprünglich von der Klimawissenschaft prognostiziert.
Der ökologisch verheerende Auftauprozess der seit Jahrmillionen gefrorenen Böden schreitet demnach viel schneller voran, als selbst die pessimistischsten wissenschaftlichen Studien annahmen. Demnach soll das Auftauen des Permafrosts inzwischen so weit vorangeschritten sein, wie es in den aktuellen Szenarien des Weltklimarates (IPCC) für das Jahr 2090 prognostiziert wurde. Die Klimawissenschaft hat sich somit um rund 70 Jahre in dieser entscheidensten aller wissenschaftlichen Fragen verkalkuliert.
Die an den Untersuchungen in der kanadischen Arktis beteiligen Wissenschaftler erklärten laut der Tageszeitung rundweg: „An allen untersuchten Stellen traf oder übertraf die maximale Auftautiefe seit 2003 die in einem Szenario des UN-Weltklimarats IPCC für 2090 prognostizierten Werte.“
Das Auftauen der Permafrostböden schreite demnach seit 2003 doppelt bis nahezu dreimal so schnell voran wie in den Dekaden zuvor, da das arktische Ökosystem besonders sensibel auf klimatische Veränderungen reagiere. Eine Reihe sehr heißer arktischer Sommer und die fehlende nennenswerte Vegetationsschicht sorgten dafür, dass die Böden in der Arktis besonders schnell auftauten.
Grönland: Neue Rekordwerte
Ähnlich dramatisch entwickelt sich die Lage in Grönland, wo die Eisschmelze neue Rekordwerte erreicht. Bei Temperaturen von bis zu 20 Grad Celsius im Süden und deutlichen Plusgraden im Norden bilden sich in weiten Regionen regelrechte Schmelzwasserseen auf dem Eispanzer Grönlands, der dadurch immer schneller abtaut, da das Wasser die Sonneneinstrahlung nicht so stark reflektiert wie Eis.
Der Eispanzer im nördlichen Eismeer der arktischen Region verzeichnete im Juni ebenfalls einen Negativrekord. Derzeit sind nur noch 10,8 Millionen Quadratkilometer von Meereis bedeckt, während es im langfristigen Mittelwert rund 12 Millionen Quadratkilometer waren.
Die arktische Eisdecke, die einen Großteil der Sonneneinstrahlung im hohen Norden reflektiert, ist in vielen Regionen in einem „sprunghaften“ Schmelzprozess. Das Seeeis in der Beringsee scheint bereits weitgehend verschwunden zu sein. Schon im März – zu einer Jahreszeit, in der die Eisdecke in der Region noch wachsen müsste – wurde die Beringsee als „nahezu Eisfrei“ gemeldet.
Gegenüber den langjährigen Trends fehlte in der Region eine Eisdecke, die der Fläche der US-Bundesstaaten Kalifornien und Montana entspricht. Ähnlich verhält es sich in vielen weiteren Regionen der Arktis, wo das Schrumpfen der sommerlichen Eisdecke die langjährigen Durchschnittswerte in extremer Weise übersteigt.
In Alaska, in direkter Nachbarschaft der nahezu eisfreien Beringsee, verwüstete eine Hitzewelle mit Temperaturen von mehr als 20 Grad Celsius über den Durchschnittswerten ganze Ökosysteme. Reihenweise wurden neue, extreme Wärmerekorde gemeldet. Die Infrastruktur des nördlichsten US-Bundesstaates ist empfindlich gestört, da die übliche Fortbewegung über gefrorene Flüsse oder Meereis nicht möglich ist – mehrere Menschen kamen bereits ums Leben, nachdem das für gewöhnlich stabile Eis unter ihren Schneemobilen einbrach.
Folglich werden auch die Vorhersagen für den Anstieg des Meeresspiegels immer dramatischer – die viel zu optimistischen wissenschaftlichen Prognosen des IPCC wurden auch hier längst von der Klimarealität überholt. Die Vorhersagen des Weltklimarates seien bereits „Makulatur“, meldete etwa die Frankfurter Allgemeine Zeitung, da laut neusten Umfragen unter Klimawissenschaftlern der Anstieg des Meeresspiegels „mit einiger Wahrscheinlichkeit zwei- bis dreimal so hoch ausfallen“ werde, als bislang angenommen.
Die neuen, realistischen Prognosen gehen von 62 bis 238 Zentimetern aus – also bis zu mehr als zwei Metern. Vor sechs Jahren warnte der IPCC noch vor einem Anstieg von 35 bis 94 Zentimetern bis zum Jahr 2100. Die Folgen dieses Anstiegs wären laut den befragten Polarforschern schlicht katastrophal: Im Endergebnis bedeutete dies einen weltweiten „Verlust von 1,79 Millionen Quadratkilometern Küstenfläche, inklusive der darin enthalten Landwirtschaftsflächen, sowie die Umsiedlung von bis zu 187 Millionen Menschen.“
Sibirische Methanexplosionen
Abschmelzendes Meereis und auftauender Permafrost bilden sogenannte Kipppunkte des Weltklimasystems, weil sie nach der Überschreitung eines quantitativen Schwellwerts das globale Klima in eine andere Qualität überführen. Dieser dialektische Umschlag von Quantität (steigende CO2-Konzentration) in Qualität (Globaler Umbruch des Klimasystems) wird von der Klimawissenschaft als eine Reihe positiver Rückkopplungseffekte begriffen, die zu einer irreversiblen globalen Beschleunigung des Treibhauseffektes führen. Der Klimawandel wird gewissermaßen zu einem „Selbstläufer“.
Bei einem, nun mittelfristig drohenden Verschwinden der Eisdecke im hohen Norden würde sich dieser globale „Kühlschrank“ des Klimasystems, der durch seine weiße Oberfläche besonders viel Sonnenlicht reflektiert, in eine globale „Heizung“ verwandeln, da Wasser bekanntlich besonders gut Wärme speichert. Diese Entwicklung würde somit die Erwärmung beschleunigen.
Im Permafrost und dem Methanhydrat in den arktischen Meeren sind zudem gigantische Mengen an Methan gespeichert, die nun verstärkt freigesetzt werden. Methan ist als Treibhausgas rund 30-mal so wirksam wie CO2, was bei einem massiven Freisetzen zu einer abermaligen, dramatischen Verstärkung – dem besagten Rückkopplungseffekt – des Klimawandels beitragen würde.
In sibirischen Permafrost scheint dieser Prozess bereits eingesetzt zu haben. Dort bilden sich tausende von unterirdischen Methanblasen, die nun aus den schmelzenden Erdschichten aufsteigen und zu platzen drohen. Die „mysteriösen Krater“ in Sibirien, die in den letzten Jahren auftauchten und wegen ihres Aussehens als „schwarze Löcher“ bezeichnet wurden, sind gerade auf diesen Prozess zurückzuführen – auf Methanblasen, die „sich im Untergrund gebildet hatten, bis der Druck zu groß wurde und sie sich schlagartig entleerten“.
Die Zunahme dieser Gasblasen sei laut Wissenschaftlern auf den sehr heißen Sommer des vergangenen Jahres zurückzuführen, als die Temperaturen in eigenen Regionen Sibiriens auf bis zu 35 Grad Celsius kletterten. Mitunter explodieren diese Methanblasen. Die Explosionen seien – etwa bei einem Vorfall aus dem Jahr 2013 – noch in einer Entfernung von hundert Kilometern zu hören gewesen.
Überfluteter Endzeitbunker
Die schon seit Dekaden gegebene Tendenz des Wissenschaftsbetriebs, die Dynamik des Klimawandels massiv zu unterschätzen, trat bereits 2017 deutlich zutage, als der berühmte „Doomsday Vault“ überflutet wurde. Diesen apokalyptischen Spitznamen trägt ein 2008 fertiggestelltes Projekt der norwegischen Regierung, die auf Spitzbergen einen globalen Saatgut-Tresor gebaut hat: den Svalbard Global Seed Vault (Wer profitiert von der „Arche Noah“ für Kulturpflanzen?).
Im „ewigen Eis“ der arktischen Inselgruppe sollte die Saatgutvielfalt der Welt katastrophensicher über lange Zeiträume gelagert werden – um einen postapokalyptischen Neuanfang zu ermöglichen, wie Kritiker dieses Unterfangens scherzten. Doch nicht einmal zehn Jahre nach der Inbetriebnahme des Tresors ist dieser im Mai 2017 durch Schmelzwasser beschädigt worden.
Der für die Ewigkeit bestimmte Tresor musste aufwendig gesichert werden, da die „globale Erwärmung einen außergewöhnlichen Temperaturanstieg“ in der Region verursachte, der Schmelzwasser produziert hat, das in den Tresor eingedrungen ist.
Dieser Vorfall um den norwegischen „Endzeitbunker“ illustrierte somit die verhängnisvolle Diskrepanz zwischen den Prognosen der Klimawissenschaft und der tatsächlichen Dynamik des Klimawandels. Man hatte den Permafrostboden Spitzbergens als Aufbewahrungsort ausgewählt, weil die Wissenschaft noch 2008 davon ausging, dass er auf Dauer gefroren bleiben würde.
Im Mainstream der Klimawissenschaft kam damals niemand auf die Idee, dass der Klimawandel sich dermaßen dramatisch beschleunigen und das Eis der Arktis sehr rasch zu tauen beginnen würde.
Wissenschaftler warnen inzwischen offen davor, dass der Menschheit noch fünf Jahre bleiben, um „sich vor dem Klimawandel zu retten“. Der Klimawandel droht somit, außer Kontrolle zu geraten – jetzt und hier, nicht erst in ein paar Dekaden oder Jahren.
Was macht die Politik? Bundeskanzlerin Merkel samt ihrer beständig in den Umfragen abschmelzenden „Großen Koalition“ hat sich in den vergangenen Jahren vor allem bei der effektiven machtpolitischen Verhinderung nennenswerter Klimaschutzpolitik auf europäischer Ebene hervorgetan – im Auftrag der deutschen Industrie.
Politik zwischen Ignoranz und ökologischen Amoklauf
Beim jüngsten EU-Gipfel wurde die angepeilte postulierte Klimaneutralität der EU bis 2050, die angesichts der aktuellen klimatischen Entwicklung absolut ungenügend ist, in eine Fußnote verbannt, da keine Einigkeit bezüglich der Klimaziele hergestellt werden konnte. Diesmal ließ Berlin osteuropäischen Länder wie Polen, Ungarn oder Tschechien beim Blockieren der Klimaschutzmaßnahmen den Vorzug.
Und nahezu überall, nicht nur in Polen oder Ungarn, ist es die politische Rechte in all ihren Abstufungen von konservativ, über populistisch bis extremistisch, die inzwischen die Avantgarde dieser Politik der Klimazerstörung bildet: Merkels CDU samt den Klimaleugnern der AfD in Deutschland, der Rechtspopulist Trump in den USA – oder der Rechtsextremist Bolsonaro in Brasilien, dessen Regierung inzwischen einen wütenden Generalangriff auf die Biosphäre des größten südamerikanischen entfacht hat. Gerade in Brasilien sind die desaströsen ökologischen Folgen rechter Politik schon jetzt evident.
Es ist eine Art ökologischer Plünderungsökonomie, die der Rechtsextremist im Präsidentenamt Brasiliens im Interesse der heimischen Agraroligarchie und transnationaler Chemie- und Agrarkonzerne entfacht hat. Der Raubbau an dem Regenwald Brasiliens – der ebenfalls als ein Kipppunkt des globalen Klimasystems gilt – schreitet inzwischen mit einer Geschwindigkeit voran, wie sie in der vergangenen Dekade nicht mehr registriert wurde.
Schon im Januar hat Bolsonaro angekündigt, den Amazonas für die „Ausbeutung von Ressourcen“ zu öffnen. Mit Bolsonaro an der Macht fühlten sich „Leute, die den Wald vernichten, sicher, während diejenigen, die ihn beschützen, bedroht werden“, klagte ein Greenpeace-Sprecher gegenüber Reuters.
Zugleich machte die rechtsextreme Regierung Brasiliens den Agrarsektor des Landes zu einem Eldorado für die globale Chemiebranche. Knapp 200 vormals verbotene Pestizide und Chemikalien wurden genehmigt, darunter auch „Unkrautvernichter“ mit dem umstrittenen, höchstwahrscheinlich krebserregenden Bayer-Herbizid Glyphosat.
Die Folge: Rund 500 Millionen Bienen, unverzichtbar für den Anbau vieler Nutzpflanzen, sind binnen dreier Monate in Brasilien verendet. In einigen landwirtschaftlichen Regionen ist die Bienenpopulation um bis zu 80 Prozent eingebrochen.
Die Agrar- und Umweltpolitik der Regierung Bolsonaro gleicht somit einem ökologischen Amoklauf – an dessen Ende bekanntlich der Selbstmord steht. Für die EU ist der Rechtsextremist aus Brasilia aber ein Mann, mit dem man gerne Geschäfte macht.
Brüssel forciere derzeit seine Bemühungen, mit den Mercosur-Staaten Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay ein Freihandelsabkommen zu schließen, meldete jüngst die Frankfurter Rundschau (FR). Der brasilianische Präsident Bolsonaro holze den Regenwald ab, gebe indigenes Land für die industrielle Landwirtschaft frei, er drohe mit dem Ausstieg aus dem Pariser Klimaabkommen und er „behindert die Zivilgesellschaft“, so die FR. Die EU belohne ihn dafür „mit einem lukrativen Deal“.
Kapitalistischer Wachstumszwang und Weltvernichtung
Die zivilisationsbedrohende Unfähigkeit des kapitalistischen Systems, der Klimakrise effektiv zu begegnen, kommt klar in dem abermals steigenden CO2-Emissionen zum Ausdruck. Diese sind 2018 um ganze zwei Prozent angestiegen – dies war der größte Anstieg seit dem Jahr 2011. Von einer Reduzierung, einem raschen Abbau der Emissionen innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise kann keine Rede sein, dies ist ein empirischer Fakt.
Weite Teile der Welt drohen aufgrund der zunehmenden Erderwärmung schlicht unbewohnbar zu werden, wie etwa die letzte, buchstäblich mörderische Hitzewelle in Indien veranschaulichte, wo lebensfeindliche Rekordtemperaturen von bis zu 50 Grad Celsius zu Tausenden von Toten führten. Die ökologische Krise löste aufgrund des zunehmenden Wassermangels soziale Unruhen aus, bei denen Hunderte von Demonstranten verhaftet wurden. Millionen Menschen laufen derzeit Gefahr, allein auf dem indischen Subkontinent den Zugang zu brauchbarem Trinkwasser zu verlieren.
Und dennoch muss aus Geld mehr Geld gemacht werden. Der Wachstumszwang des Kapitals, das durch eine fetischistische Eigendynamik der höchstmöglichen Verwertung angetrieben wird, verbrennt die konkrete Welt samt den ökologischen Lebensgrundlagen der Menschheit, um abstrakten Reichtum zu uferlos akkumulieren. Deswegen verpuffen auch alle Impulse der Politik, diesen Prozess irrationaler Weltverbrennung zu revidieren – er käme einer Kapitalvernichtung gleich.
Es liegt folglich angesichts der aktuellen Entwicklungen offen auf der Hand, dass eben dieses blindwütig amoklaufende Kapitalverhältnis schnellstmöglich in Geschichte überführt werden muss, sollte die Menschheit mittelfristig noch eine Überlebenschance behalten.