Konkret 2018/01
Dass die neuen Nazis nicht Nazis genannt werden, hängt wesentlich auch mit ihrem Erfolg zusammen.
Was tut ein Exportweltmeister, wenn sich in seinem Parlament nach einer Wahl rottenweise Nazis einfinden? Da so was schlecht fürs Geschäft der Exportindustrie ist, kann es im Deutschen Bundestag keine Nazis geben. Das neue Politpersonal wird einfach umdeklariert. Nachdem schon »FAZ« und Springerpresse im Wahlkampf als inoffizielle Verlautbarungsorgane der AfD aufgetreten sind und an der Normalisierung der neuen deutschen Rechten gearbeitet haben, hat kurz nach dem Wahltag Ende September die »Tagesschau« die Macht des Faktischen exekutiert.
Die AfD sei eine Partei wie jede andere auch, kommentierte Kai Gniffke, Chefredakteur von »ARD-aktuell«; auf das Attribut »rechtspopulistisch« wolle man künftig verzichten, da es – obwohl zutreffend – einfach nur »nervt«. Man müsse nicht »wie ein Holzhammer immer und immer wieder sagen, dass die AfD rechtspopulistisch« sei. Dies würde als »verkappte Stimmungsmache gegen diese Partei empfunden«. Tja – wer will schon gegen einen Haufen Rassisten und Antisemiten Stimmung machen? Zumal der bald in die Aufsichtsgremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks einziehen wird? Die öffentliche Sorge um das Seelenleben des jungdeutschen braunen Mobs, eine Konstante des mit unzähligen Talkshow-Auftritten gepflasterten Aufstiegs der neuen deutschen Rechten, gipfelte hier in der Forderung, Deutschlands Nachwuchsnazis nicht mehr an das zu erinnern, was sie sind.
Dabei ist der Terminus »rechtspopulistisch« inzwischen schlicht falsch: Die AfD hat sich seit ihrer Gründung schubweise scharf nach rechts entwickelt, was sich im Wechsel der jeweiligen Führungsriege manifestierte: von der reaktionären »Professorenpartei« der Lucke und Henkel über die rechtspopulistische Petry-Formation bis zur gegenwärtigen Dominanz völkischer Kräfte um Gauland, Höcke und Poggenburg, die sich zunächst gegen Petry und dann auch auf dem Hannoveraner AfD-Parteitag Anfang Dezember innerparteilich durchsetzen konnten. Die Verharmlosung der beständig nach rechts driftenden AfD ist die Folge ihres Erfolgs. Es sind einfach zu viele, als dass man sie noch öffentlich als Nazis bezeichnen dürfte.
Die Bestrebungen zur »Normalisierung« einer evident rechtsextremistischen Partei resultieren aber nicht nur aus der Sorge um das internationale Image der Deutschland-AG. Man liegt auch ideologisch nicht weit auseinander, da der grassierende Neonationalismus samt seiner faschistischen Avantgarde de facto ein Abkömmling des Neoliberalismus ist. Das enthemmte, totalitäre Konkurrenzdenken ist das zentrale ideologische Element des Neoliberalismus. In der Konkurrenz der Marktsubjekte sollen sich die Starken gegen die Schwachen durchsetzen. Vom Unternehmer bis zum Lohnempfänger – im Neoliberalismus stehen alle mit allen in Konkurrenz.
Zugleich fördert der Neoliberalismus in Wechselwirkung mit der Globalisierung einen Standortnationalismus, der insbesondere beim »Exportweltmeister« Deutschland bestimmend geworden ist. Es ist gerade der Erfolg der Agenda 2010 und des damit einhergehenden Wirtschaftsnationalismus, der der extremen Rechten den Anschein von Legitimität verschafft. Deutschland hat sich in Reaktion auf die Krise volksgemeinschaftlich »großgehungert«, mittels Sozialkahlschlag und innerer Abwertung seine Exportüberschüsse angekurbelt und die europäische Konkurrenz durch diese Plündere-deinen Nachbarn-aus-Politik marginalisiert. Übermensch und Untertan zugleich: Exportweltmeisterschaft und Hartz-IV-Oktroy scheinen diese Konstante deutscher Ideologie zu bestätigen.
Das neoliberale Konkurrenzdenken wurde von der Rechten ins rassistisch-nationalistische Extrem getrieben. Die Konkurrenz der Marktsubjekte und Wirtschaftsstandorte wird in einem Kampf der Nationen, der »Rassen« oder Religionen ideologisch überhöht. Bei dieser »rassisch«, religiös oder national legitimierten Konkurrenz gibt es keinen Bruch mit dem Neoliberalismus. Rechte Propaganda setzt auf Futterneid gegenüber den Schwächsten – was sie für die Funktionseliten vor allem in Krisenzeiten verführerisch macht: Ohne die anderen, ohne Flüchtlinge, Migranten, faule Südländer, »Sozialschmarotzer« oder Ausländer generell würde es für »uns« schon reichen – das ist das rechte Mantra, mit dem die Widersprüche in der deutschen Gesellschaft externalisiert werden. Das Versprechen, auf Kosten der »minderwertigen« Anderen, der fremden Gruppen und Bevölkerungsschichten, gemeinsam mit der eigenen Nation aufzusteigen, bildet das soziale Kernversprechen der extremen Rechten in Krisenzeiten.
In ihm liegt das gar nicht geheime Geheimnis des Erfolgs der Rechten. Sie betreiben keinen Ausbruch aus dem kapitalistischen Gedankengefängnis, sondern die autoritären Charaktere verharren im eingefahrenen ideologischen Gleis, das von der neoliberalen Mitte ins barbarische Extrem führt. Deswegen profitiert von der gegenwärtigen Krise vor allem die Rechte. Am konkreten Beispiel: Die Hetze der Massenmedien gegen die Griechen und die »faulen Südländer« während der Schuldenkrise ist von der neuen Rechten im Verlauf der sogenannten Flüchtlingskrise nur auf andere Ziele umgelenkt worden. Die »Lügenpresse«-Parolen erschallen ja gerade deswegen, weil der Medienbetrieb Ressentiments zur Durchsetzung je spezifischer politischer Ziele instrumentalisiert, während die extreme Rechte deren Verselbständigung im Sinn hat und betreiben will, also Hetze auf Dauer stellt.
Die Exponenten der konformistischen Rebellion haben recht, wenn sie behaupten, dass viele in der »Mitte« so denken wie sie und es nur (noch) nicht auszusprechen wagen. Sie denken tatsächlich allesamt in jenen kapitalistischen Kategorien, die fallweise, das heißt in Reaktion auf Krisenschübe, lediglich ins Extrem getrieben werden. Deswegen etabliert sich die neue Rechte so widerstandslos und gleichsam selbstverständlich, so, als ob sie schon immer dagewesen wäre.
Der Neonationalismus wird als ideologische Verwesungsform des Neoliberalismus zusätzlich durch die Verdinglichung des Bewusstseins befördert. Theodor W. Adorno hat in seiner Schrift Erziehung nach Auschwitz darauf hingewiesen, dass die kapitalistische Vergesellschaftung ein »verdinglichtes Bewusstsein« hervorbringt, das den Kern rechtsextremer, potentiell eliminatorischer Ideologie bildet. Das verdinglichte Bewusstsein ist »vor allem eines, das … gegen alle Einsicht in die eigene Bedingtheit sich abblendet und das, was so ist, absolut setzt«. Träger des verdinglichten Bewusstseins halten ihre Identität, ihr »So-Sein – dass man so ist und nicht anders – fälschlich für Natur, für ein unabänderlich Gegebenes«, anstatt es als ein durch Sozialisation »Gewordenes« zu begreifen.
Dieses verstümmelte Denken in Dingen, das sich abschirmt gegen die Wahrnehmung von sozialen Prozessen, Entwicklungen, Widersprüchen und der eigenen wie der historischen Bedingtheit der kapitalistischen Gesellschaft, ist die Grundlage des spätkapitalistischen öffentlichen Diskurses. Es ist längst hegemonial. Sobald nun eine neuartige soziale Entwicklung eine gewisse Breite erreicht hat, wird sie zu einem neuen Ist-Zustand erklärt. Im angelsächsischen Sprachraum wird dieser Zustand als »the new nor-mal« bezeichnet, als neue Normalität, die einfach »ist« – und an die es sich – Sachzwang! – anzupassen gilt. Ebendies vollzieht sich zur Zeit im Fall der neuen Rechten, die schon deswegen »normal« sind, weil es sie massenhaft gibt.
Rechte Ideologie als Ausdruck konformistischer Rebellion funktioniert wie eine umgekehrte Psychoanalyse. Zuvor bewusst wahrgenommene gesellschaftliche Prozesse und Entwicklungen werden mittels Verdinglichung ins Unbewusste, Affekthafte, Irrationale abgedrängt. Der Erfolg des europäischen wie deutschen Präfaschismus beruht gerade darauf, dass gewisse Krisenverwerfungen zumindest geahnt, unreflektiert wahrgenommen und in entsprechende Krisenideologien (Personifizierung der Krisenursachen, Naturalisierung des Kapitalismus) eingebaut werden – während der neoliberale Medienmainstream aller Evidenz zum Trotz so tut, als ob es ewig so weitergehen könnte wie bisher. Der berüchtigte »Angstmob« von Clausnitz etwa hat die »unbewusste« Ahnung kommender Verwerfungen dem neoliberalen Mainstream voraus. Mit den rechtsextremen Forderungen einer Abriegelung der Grenzen soll letztlich die Krise »draußen« gehalten werden.
Die Wahrnehmung der spätkapitalistischen Krisengesellschaften als »natürlich« und normal verschafft auch der barbarischen Praxis der Rechten den Anschein der Normalität. Wohin der Extremismus der Mitte – also das Festhalten an den Formen kapitalistischer Vergesellschaftung auch in der Krise des Kapitals – letztlich führt, zeigt sich im Umgang mit der »Flüchtlingsfrage«. Die Rechte exekutiert mit ihrer »Das Boot ist voll«-Rhetorik nur die krisenbedingte systemische Tendenz zur Beseitigung einer wachsenden Zahl ökonomisch »überflüssiger« Menschen.
Wieso hat die AfD mit ihrer Rhetorik soviel Erfolg? Weil sie – anscheinend – recht hat. »Wir« können schließlich ja wirklich nicht »alle« aufnehmen, wer anderes behaupte, betreibte »Realitätsverweigerung«. Je größer das Elend, je größer das Chaos, desto unumstößlicher daher der Sieg der neuen Rechten und die Zwangsläufigkeit seiner praktischen Konsequenz: Grenzen dicht. Hunderte von Millionen Menschen versinken im Elend. Wer soll ihnen helfen? In wessen Vorgarten sollen sie kampieren? Eine einfache, logische, stimmige Wahrheit, die jedem einleuchtet, der die grundlegenden Kategorien kapitalistischer Vergesellschaftung (Kapital, Staat, Markt, Geld, Lohnarbeit) verinnerlicht hat.
Ebendiese einfache systemimmanente Wahrheit – die sich erst beim Verlassen des kapitalistischen Gedankengefängnisses als monströse Lüge entpuppt – führt in die Barbarei. In der gegenwärtigen Krise produziert der Kapitalismus eine größer werdende ökonomisch »überflüssige« Menschheit. Die Menschen, die »wir« leider nicht aufnehmen können, fliehen ja nicht vor Ausbeutung, sondern vor ihrer ökonomischen Überflüssigkeit aus Ländern, in denen der Krisenprozess schon so weit fortgeschritten ist, dass sogar ihre Staatsapparate kollabiert sind (failed states). Es gibt nur einen Zustand im Kapitalismus, der noch schlimmer ist als die schlimmste Ausbeutung: den der Überflüssigkeit, der Vogelfreiheit. Und wie weit das Outsourcing der Barbarei gegen die ökonomisch »überflüssigen« Menschenmassen bereits gediegen ist, lässt sich etwa in der poststaatlichen Region, die einst »Libyen« war, beobachten, wo »KZ-artige« Zustände – so formuliert das Auswärtiges Amt – in Flüchtlingslagern und Sklavenmärkte sich etablieren.
Das ist die zentrale Absicht rechter Demagogie in Krisenzeiten: Sie arbeitet an der Entmenschlichung der Krisenopfer, um deren Marginalisierung, in der Tendenz deren Auslöschung zu rechtfertigen. Das ist die letzte Konsequenz des in Krisenzeiten wuchernden Extremismus der Mitte. Das, was an konkurrenzbasiertem Vernichtungspotential im Kapitalismus latent stets vorhanden ist, wird in der Systemkrise manifest: Es scheint »logisch«, fast schon zwingend – was das alles wieder kostet, wer soll das bezahlen?
Tomasz Konicz hat das Buch Kapitalkollaps. Die finale Krise der Weltwirtschaft veröffentlicht (texte 68 )