Telepolis, 28.01.2018
Die jüngsten Auseinandersetzungen um Querfronttendenzen verweisen auf den Durchmarsch der Neuen Rechten in einem sich auflösenden politischen Koordinatensystem
Im vergangenen Dezember geisterte ein Begriff durch die Medien, der ansonsten eher in historischen Debatten oder dem linkem Szenediskurs beheimatet ist: der Begriff der Querfront. Hierunter werden konkrete politische Bestrebungen oder allgemeine ideologische Tendenzen zur Verflechtung oder bewusster Kooperation rechter und linker Kräfte subsumiert, die in der Endphase der Weimarer Republik präsent waren.
Die gegenwärtige Querfront-Debatte kreiste aber um die zunehmenden rechtspopulistischen Tendenzen in der Partei „Die Linke“, die vor allem während des Bundestagswahlkampfes offen zutage traten. Konkret entzündete sich die Debatte an dem umstrittenen Linkspartei-Politiker Dieter Dehm, der sich offen mit dem Verschwörungsideologen und YouTube-Star Ken Jebsen bei Auseinandersetzungen mit dem linken Kultursenator Berlins solidarisierte, als dieser die Verleihung eines neu erfundenen „Karlspreises“ an Jebsen in Örtlichkeiten untersagte, die vom Berliner Senat gefördert werden. Jebsen gilt als zentrale Figur der Querfront, da er gezielt Autoren und Themen aus der Neuen Rechten wie auch dem orthodoxen oder post-sozialdemokratischen Spektrum seiner Zuschauerschaft vorsetzt.
Die Frankfurter Rundschau widmete einen längeren Artikel dem fragwürdigen Antisemitismus-Verständnis Dieter Dehms, das eine unheimliche Nähe zu ordinär antisemitischen Positionen aufweise. Auch Ken Jebsen musste 2011 nach Antisemitismusvorwürfen aus dem rrb ausscheiden, wo er als Rundfunkmoderator tätig war. Dehm und Jebsen sind schon mehrmals gemeinsam politisch aktiv geworden – vor allem bei der von Jebsen unterstützten „Mahnwachen-Bewegung“, die als ein Vorläufer und unfreiwilliger Wegbereiter für Pegida fungierte (Die Bewegung als Bewegung.
Die Selbstverständlichkeit, einem Verschwörungsideologen, in dessen Medienprodukten regelmäßig linke und rechte Autoren interviewt werden – vom stramm rechten Jürgen Elsässer über den Handelsblatt-Ökonomen Norbert Häring bis zum ehemaligen SPD-Politiker Albrecht Müller – führte aber zu erbitterten internen Auseinandersetzungen innerhalb der Linkspartei, wie der Tagesspiegel bemerkte.
Demonstrationen und Gegenkundgebungen für Jebsen wurden organisiert, dessen Anhängerschaft in der Linkspartei unverzüglich „Zensur“ witterte. Die „Klare Kante gegen Querfront“ titulierte Erklärung des Parteivorstands, der sich hinter den Kultursenator stellte, fiel mit 12 Enthaltungen und Nein-Stimmen gegen 18 Ja-Stimmen überraschend knapp aus.
Wenig später solidarisierte sich die Parteiführung auch noch mit Dieter Dehm. womit offensichtlich die Querfronttendenzen innerhalb der Linkspartei allen offiziellen Beschlüssen zum Trotz inoffiziell toleriert werden sollen. Für die Parteigröße Oskar Lafontaine, dessen rechtspopulistische Äußerungen immer wieder für Schlagzeilen sorgen, gibt es eine Querfront gar nicht. Dieser Begriff stamme aus dem „Arsenal der Geheimdienste“, so das Gründungsmitglied der Linkspartei. Welche Geheimdienste dahinter stecken sollen, hat der Linken-Politiker, der die Welt von einer „geheimen Weltregierung“ beherrscht sieht, nicht mitgeteilt.
Bei den Auseinandersetzungen gehe es um nichts weniger als „das Wesen der Partei“, kommentierte die Wochenzeitung Die Zeit den zunehmenden Einfluss der Querfront innerhalb der „Linkspartei“. Fast hundert Jahre nach der historischen Querfrontdebatte in der Weimarer Republik streite „die Linkspartei erbittert und offen darum, mit wem sie welche Bündnisse eingehen darf, was ihr nutzt und was den Nationalisten. Was antisemitisch ist und was Herrschaftskritik.“
Für viele Exponenten aus dem Querfront-Spektrum im Dunstkreis von KenFM, Rubikon oder den Nachdenkseiten haben solche Debatten ohnehin kaum noch einen Sinn, da ihnen diese Einteilung des politischen Spektrums in Linke und Rechte Gruppen zunehmend fremd, künstlich und schlicht überholt vorkommt. Und tatsächlich scheint diese dumpfe, unreflektierte Ahnung eines Umbruchprozesses ein Körnchen Realität zu enthalten.
Das etablierte politische Koordinatensystem rechts- und linksgerichteter politischer Parteien und Kräfte scheint hohl und kaum noch mit Substanz aufgeladen. Die allgemein beklagte Hohlheit des politischen Spektrums, die „Austauschbarkeit“ der etablierten Parteien, wie auch die zunehmenden Querfronttendenzen innerhalb der sogenannten Linkspartei – sie sind Indizien tiefgreifender systemischer Veränderungen und Krisentendenzen, die auch die Sphäre des Politischen voll erfasst haben.
Historische Genese des politischen Koordinatensystems
Das allgegenwärtige krisenbedingte Gefühl, dass etwas in Auflösung übergeht, dass verfestigte Strukturen und Lager in Bewegung übergehen und sich verflüssigen, hat somit längst auch die Sphäre des Politischen erfasst. Immer mehr Menschen sehen keine nennenswerten Unterschiede zwischen den einzelnen Parlamentsparteien. Im Internet und seinen in den sozialen Netzwerken herumirrenden Schwärmen werden etablierte politische Begriffe wie bloße Labels behandelt und, je nach Situation und Interesse, mit neuen Bedeutungen aufgeladen.
Die Ansicht darüber, was nun politisch links oder rechts ist, kann in den ausgedehnten Wahnräumen des Netzes, wo die Neue Rechte ihre digitale Heimat hat, mitunter täglich, ja stündlich wechseln, was ja letztendlich nur auf die beginnende Auflösung des politischen Koordinatensystems hinweist.
Zum einen ist es die langfristig wirkende neoliberale Hegemonie, die im Rahmen des „Sachzwang-Diskurses“ den politischen Spielraum immer weiter einengte, so dass in den vergangenen drei Jahrzehnten de facto eine ganz große neoliberale Koalition durchregierte – was zur Unterschiedslosigkeit im Parlament beitrug.
Doch eigentlich war der sozioökonomische Spielraum bürgerlicher Politik im Nachkriegszeitalter schon immer begrenzt. Auch von den 1950er- bis in die 70er-Jahre hielten sich alle Regierungsparteien, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung, an die damals hegemonialen keynesianischen Grundsätze der Wirtschaftspolitik.
Aktuell kommt noch die Taktik der Neuen Rechten hinzu, insbesondere in den sozialen Netzwerken gezielt die Grenzen zwischen links und rechts zu verwischen („Linksfaschisten“, „Rote SA“ etc.), um so die Akzeptanz der populistischen und extremen Rechten zu erhöhen. Dennoch sollten hierbei Ursache und Wirkung nicht verwechselt werden: Die Rechte instrumentalisiert unbewusst eine gegebene Dynamik im Überbau spätkapitalistischer Gesellschaften.
Ihren Ursprung hat die Einteilung der politischen Kräfte in linke und rechte Parteien – wie so vieles – in der Französischen Revolution. Schon die Sitzordnung der ersten französischen Nationalversammlung von 1789 bis 1791 war gekennzeichnet durch eine grobe Teilung in revolutionär und/oder republikanisch gesinnte Kräfte, die auf der linken Seite Platz nahmen, und konservative, monarchistische Kräfte, die auf der rechten Seite der Nationalversammlung beheimatet waren.
Diese räumliche Bezeichnung verselbstständigte sich mit der Zeit: Diejenigen Kräfte, die die Dynamik der Französischen Revolution weiter anfachen wollten, wurden als die Linke bezeichnet, während die bremsenden, konservativen oder restaurativen Kräfte als die Rechte benannt wurden. Und diese Unterscheidung zwischen progressiven und konservativen Kräften bildet auch die zentrale Achse des seit dem 19. Jahrhundert etablierten politischen Koordinatensystems: Die Linke agierte politisch progressiv, fortschrittlich, vorwärtsdrängend, während die Rechte konservativ ist, den Status quo bewahrend, oder gar reaktionär. Die Linke betont, ihrem Anspruch nach, das Werden, das Gemeinsame der Menschheit, die Zivilisation; die Rechte hält am bestehenden Sein fest, am Besonderen, an den hierarchischen Unterschieden, an der Kultur.
Der Kampf zwischen linkem Egalitarismus und rechten Eliten kennzeichnet nach der Ausrufung der allgemeinen Menschenrechte die Geschichte des politischen Systems seit dem „Zeitalter der Revolutionen“ (Hobsbawm) im 19. Jahrhundert. Etablierte Machtstrukturen, die von der Rechten verteidigt wurden, sind von der Linken um der intendierten Emanzipation immer größerer Bevölkerungsteile willen bekämpft worden. In ihrer radikalen Avantgarde galten den Linken diese politischen Kämpfe auch als ein Mittel zur Überwindung des kapitalistischen Systems, insbesondere der Arbeiterklasse wurde dabei eine objektive historische Funktion als ein „revolutionäres Subjekt“ zugesprochen.
In der Praxis lief aber dieser Emanzipationsprozess auf die rechtliche Gleichstellung und soziale Verbesserungen für zuvor marginalisierte oder verfolgte Gruppen innerhalb des kapitalistischen Systems hinaus. Die Hoffnung auf ein revolutionäres Subjekt innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft hat mit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus einen historischen Rückschlag erlitten. Bei der Gleichstellung zuvor marginalisierter Gesellschaftsgruppen innerhalb des Kapitalismus wurden aber tatsächlich – zeitweilige – Erfolge erzielt: von der Arbeiterklasse, die spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg im Kapitalismus vollauf integriert wurde, über die partiell erkämpfte Frauenemanzipation, bis zu dem weiterhin andauernden Kampf gegen die Diskriminierung ethnischer oder sexueller Minderheiten.
Vollauf verständlich wird dieser historische – wenn auch unvollendete – politische und rechtliche „Emanzipationsprozess“, den die Linke binnenkapitalistisch geleistet hat, nur bei Berücksichtigung seiner Wechselwirkung mit der Sphäre der kapitalistischen Ökonomie. Die rechtliche Gleichstellung immer neuer Gesellschaftsgruppen ging mit deren Integration in das expandierende System der Lohnarbeit einher – solange auch das Kapital expandierte und immer größere Quanta Lohnarbeit verwertete. Die Linke brachte zumindest in den Zentren des Weltsystems somit Überbau und Basis in Einklang, indem sie überall dort die politischen und sozialen Rechte von Gruppen erkämpfte, die in der historischen Aufstiegsbewegung des Kapitals in das System der Lohnarbeit integriert wurden.
Die Rechte hingegen wollte Ausbeutung ohne Rechte, ohne Gleichstellung, ohne soziale Teilhabe – sie wirkte zunehmend kontraproduktiv, vor allem im Nachkriegszeitalter, der goldenen Ära des Sozialdemokratismus, als Massennachfrage die extreme Expansion der Kapitalverwertung ermöglichte. Für das globalisierte Kapital sind somit alle gleich – als „Humankapital“, das im Optimalfall unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe oder sonstigen Nebensächlichkeiten möglichst effektiv ausgebeutet werden soll.
Splitter in Regression
Doch zugleich ist es inzwischen evident, wie prekär diese „Fortschritte“ gewesen sind, die im Rahmen der widerspruchszerrissenen kapitalistischen Gesellschaft erkämpft wurden. Die Krise der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft, die in der Tendenz eine ökonomisch überflüssige Menschheit fabriziert, macht die etablierte politische „Rollenverteilung“ unmöglich. Die rechtliche Gleichstellung von Minderheiten geht seit der neoliberalen Wende ja einher mit krisenbedingter sozialer Zerrüttung, mit massenhafter Prekarisierung.
Sobald die historische Expansionsbewegung des Kapitals aufgrund ihrer inneren Widersprüche zu stocken begann, das Aufsaugen von Lohnarbeit in der Warenproduktion in deren Abschmelzen umschlug, brach die ökonomische Basis dieser linken binnenkapitalistischen Scheinemanzipation zusammen. Dasselbe widerspruchszerfressene Kapitalverhältnis, das keine Unterschiede bei der Ausbeutung von Menschen machen muss, heizt in seiner Krise die Konkurrenz und entsprechende Krisenideologien an, die sich gegen Minderheiten richten, die als Konkurrenten auf den Märkten wahrgenommen werden.
Die Rechte identifiziert sich mit dieser Krisenkonkurrenz, indem sie diese mit Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, Kulturalismus etc. auflädt und der Mehrheitsgesellschaft die ideologischen Legitimationen für die krisenbedingte Marginalisierung von Minderheiten liefert. Die Inklusion schlägt in ihr Gegenteil, die Exklusion, um (der rechte Hass auf „Gutmenschen“ speist sich aus dem auch in der Krise betriebenen Kampf um Gleichstellung von Minderheiten). Die reell ins Barbarische treibende Krisendynamik erzeugt somit den Anschein, als ob die Rechte jetzt vorwärtsdränge, als ob sie voranschreite – sie tut es nur auf den Abgrund zu.
Weite Teile der Linken, die den Krisenprozess weiterhin nicht in seiner Tiefe erfassen wollen, sind jetzt rückwärtsgewandt, konservativ; sie wollen entweder zurück in die „heile“ kapitalistische Welt der keynesianischen Nationalstaaten der 50er- oder 70er-Jahre, oder zurück in die DDR und Sowjetunion. Die Uhren sollen – ein absurder, unrealisierbarer und letztendlich selbstmörderischer Anachronismus – zurückgedreht werden.
Schon der Zusammenbruch des real existierenden Staatssozialismus – der eigentlich nur der Vorschein der gegenwärtigen Krisenära war – hat eine regelrecht konservative Linke hervorgebracht, die angesichts der neoliberalen Offensive eine bekannte Brechtsche Maxime einfach umkehrte. Frei nach dem Motto: „Alles Alte ist besser alles das Neue.“ Da der anachronistische Zug in eine idealisierte Vergangenheit an der Krisenrealität zerschellen muss, drohen diese konservativ-linken Kräfte ähnliche Krisenideologien auszubilden, wie sie innerhalb der Rechten ausgebrütet werden: wo die Personifizierung der Krisenursachen (Ausländer, Juden, Muslime, Russen, Amis, Reptiloide, Außerirdische etc.) mit einer Naturalisierung der Strukturen, Formen und Vermittlungsebenen des Kapitalismus einhergeht.
In der Restlinken sammeln sich gegenwärtig somit in Regression befindliche Splitter der ehemaligen Sozialdemokratie, die einen naiven, kindlich anmutenden Glauben an die längst untergegangene „soziale Marktwirtschaft“ (Gibt es nur eine Alternative im Nirgendwo?) mit nationalen Abschottungsforderungen anreichern.
Zumeist wird in dieser nach „rechts“ umfallenden, postsozialdemokratischen Linken argumentiert, dass der Sozialstaat nur im nationalen Rahmen, bei geschlossenen Grenzen, aufrechterhalten oder ausgebaut werden könne. Damit soll schlicht die Krise „draußen“ gehalten werden, während dem Staatsvolk eine Rückkehr in die 70er oder 50er Jahre des 20. Jahrhunderts versprochen wird. Die Nähe zu Forderungen der AfD nach Grenzschließungen ist evident, nur dass dies bei den regressiven Postsozialdemokraten der Linkspartei mit sozialen Argumenten garniert wird. Dass der Widerstand gegen Agenda 2010 und Hartz IV (Happy Birthday Schweinesystem) gut eine Dekade lang von dieser Postsozialdemokratie ignoriert wurde, diese erst mit der Flüchtlingskrise die – national grundierte – soziale Frage wiederentdeckte, scheint Niemanden in diesen Zusammenhängen auszufallen.
Dabei ist die Barbarei längst keine düstere Zukunftsvision, sondern konkrete Realität, die vermittels des im Neoliberalismus etablierten Outsourcing in die Peripherie ausgegliedert wurde. Dass der Kapitalismus gegenwärtig tatsächlich eine ökonomisch überflüssige Menschheit produziert, wurde gerade in der Flüchtlingskrise evident. Die nach Europa flüchtenden Menschenmassen der Peripherie fliehen ja nicht vor Ausbeutung, sondern vor ihrer ökonomischen Überflüssigkeit aus Regionen, in denen der Krisenprozess schon so weit vorangeschritten ist, dass sogar deren Staatsapparate kollabiert sind (Failed States).
Es gibt aber nur einen Zustand im Kapitalismus, der schlimmer ist als selbst die schlimmste Ausbeutung: den der ökonomischen Überflüssigkeit, der Vogelfreiheit. In einer Gesellschaft, die darauf basiert, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen, in der sie zunehmend nicht mehr verkauft werden kann, hat man seinen Status als Mensch dann mehr oder weniger verwirkt und ist damit nur noch ein Stück Biomasse, ein Störfaktor. Dies wird ja in Ansätzen bereits bei der Entrechtung Arbeitsloser offensichtlich, die mit den Hartz-IV-Arbeitsgesetzen einherging.
In der Peripherie des Weltsystems ist dieser Krisenprozess mitunter in sein Endstadium getreten. Folglich etablierten sich in gescheiterten Staaten schon längst „KZ-artige Zustände“. Auf diesen Begriff brachten Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes die mörderischen Bedingungen, unter denen Flüchtlinge von Milizen, Banden und sonstigen Rackets in Libyen drangsaliert werden. Bereits jetzt werden in Libyen Menschen in Lagern schlicht umgebracht, weil sie zu nichts zu „gebrauchen“ sind.
Wer, wie etwa Oskar Lafontaine, mehr Abschiebungen fordert, der müsste somit auch klar sagen, was er fordert: Abschiebungen in „KZ-artige Zustände“ oder in blanke Sklaverei. Die Hysterie, mit der viele „linke“ Befürworter von Abschiebungen auf Kritik reagieren, speist sich gerade aus der Ahnung eben dieser Zusammenhänge. Sie ahnen zumindest, was sie fordern. Es ist das schlechte Gewissen, dass den Hass auf diejenigen entfacht, die sich diesen „sozial“ motivierten Abschiebungen verweigern. Das postsozialdemokratische „Festhalten“ an der Chimäre eines sozial gezähmten Kapitalismus („Soziale Marktwirtschaft“) ist somit auch ganz praktisch nur um den Preis der Exklusion der anwachsenden ökonomisch überflüssigen Mehrheit möglich.
Der Blick über die Grenzen des „Exportweltmeisters Deutschland“, der mit seinen Exportüberschüssen ja auch Arbeitslosigkeit exportiert, macht es somit absolut evident: Der Krisenprozess lässt keinen sozialen „Fortschritt“ im Rahmen des Kapitalismus mehr zu – deswegen bricht diese politische Frontstellung auseinander, deswegen müsste die Linke zu einer kategorialen Kritik des Kapitalismus, zu einer transformatorischen Praxis übergehen.
Der direkte oder vermittelte Terror gegen eine beständig anwachsende, ökonomisch überflüssige Menschheit ist der einzig gangbare barbarische Weg innerhalb des im Zerfall begriffenen Systems. Und selbstverständlich werden auch die Zentren des Weltsystems von diesem Krisenprozess erfasst, wie es selbst der Unternehmensberatung McKinsey inzwischen dämmert – spätestens mit dem Zusammenbruch der gegenwärtigen Liquiditätsblase und dem darauf folgenden nächsten Krisenschub. Nur die national gesinnte Sozialdemokratie hält stur an dem Anachronismus aus Vollbeschäftigung und Sozialer Marktwirtschaft fest.
Die schlicht zivilisatorisch überlebensnotwendige Überwindung des Spätkapitalismus ist somit kein linker „Radikalismus“, sondern blanke praktische Notwendigkeit, die sich aufgrund der Eigendynamik der eskalierenden Widersprüche unabhängig vom Bewusstseinsstand der „Massen“ oder den konkreten politischen Kräfteverhältnissen quasi von selbst stellt. Dies gilt vor allem für die drohenden ökologischen Verheerungen des kapitalistischen Krisenprozesses.
Wie würden durch die rechte Hegemonie verrohte spätkapitalistische Metropolen in den nördlichen Zentren reagieren, wenn die gegenwärtigen Klimaprognosen tatsächlich einträten und weite Teile des globalen Südens durch die Klimaerwärmung unbewohnbar würden? Im schlimmsten Fall ist dies eine Frage weniger Jahrzehnte. Soll Auschwitz zu einem bloßen Prolog werden?
Nicht der Blick zurück, sondern der Blick nach vorn, über den Kapitalismus hinaus, könnte noch den tiefen Absturz in die Barbarei verhindern. Die Linke müsste also vor allem in Reaktion auf die zunehmenden ökonomischen und ökologischen Krisentendenzen eine breite Debatte über eine postkapitalistische Gesellschaft initiieren, anstatt an den überkommenen, ohnehin in Auflösung befindlichen Gesellschaftsformen festzuhalten. Nicht weil es „radikal“ wäre, sondern weil es objektiv notwendig ist, weil das System seiner Krisendynamik gemäß in die Barbarei führt – aus der ins Extrem getriebenen Systemlogik heraus.
Querfront von Lechts bis Rings
Derweil scheint aber vor allem die Rechte vom revolutionären Elan ergriffen zu sein, während große Teile der Linken in besagten rückwärtsgerichteten Anachronismen versinken – und anschlussfähig werden an den allgemeinen reaktionären Rechtstrend. Die CSU etwa fordert in Gestalt ihres Landesgruppenchefs Dobrindt nichts weniger als eine „Konservative Revolution“ in Deutschland, wobei sein Parteikollege und Fraktionschef im Europaparlament, Manfred Weber, dies Vorhaben offensichtlich präzisieren wollte: indem er, so wörtlich, eine „finale Lösung der Flüchtlingsfrage“ in Europa fordert.
Die Anknüpfung an den ordinären nationalsozialistischen Vernichtungsjargon durch CSU-Politiker, ihre Übernahme linker Revolutionsrhetorik beim angestrebten reaktionären Rollback – sie nötigen förmlich zu historischen Vergleichen zum deutschen Vorfaschismus in der Krisenepoche der frühen 30er Jahre. Unter dem Begriff der „Konservativen Revolution“ werden von der Geschichtswissenschaft gerade all jene politischen und kulturellen Strömungen in der Weimarer subsumiert, die als Wegbereiter des Nationalsozialismus fungierten. Und auch der Nationalsozialismus sah sich als eine „revolutionäre“ Bewegung an, auch wenn dessen Machtergreifung eher einer Machtübertragung glich.
Es kann ausgeschlossen werden, dass selbst in der CSU dies niemandem aufgefallen sein sollte – es handelt sich hier um eine reaktionär-revoluzzerhafte Provokation nach dem Muster der AfD. Thomas Mann, der sich in den frühen 20er Jahren von dieser reaktionären ideologischen Strömung trennte, bezeichnete schon im September 1933 den Nationalsozialismus als die „politische Wirklichkeit jener konservativen Revolution“, einer geistigen Bewegung, der er aus „Abscheu vor ihrer Realität“ widerstanden habe.1 In der CSU scheint es somit – angefacht durch die Erfolge der AfD – Kräfte zu geben, die mit revolutionärem Elan die „finale Lösung der Flüchtlingsfrage“ angehen möchten.
Und auch die AfD bemüht sich, in ehemals linke Milieus vorzudringen, indem Sozialneid gegen Ausländer und Flüchtlinge bei marginalisierten Bevölkerungsschichten in einer durch Hartz IV und Agendapolitik gespaltenen Gesellschaft geschürt wird. Zudem drängen die Rechtspopulisten verstärkt in die ehemalige Stammwählerschaft der politischen Linken, in die Arbeiterschaft. Insbesondere der rechtsextreme, offen völkische Flügel um Höcke hat die verkürzte Kapitalismuskritik für sich entdeckt, wie der MDR anlässlich der sogenannten Compact-Konferenz berichtete, die eben von dem Jürgen Elsässer organisiert wurde, den auch Ken Jabsen interviewte.
Der für seine Goebbels-Imitationen und antisemitische Äußerungen berüchtigte Rechtsextremist wolle sich verstärkt „der kleinen Leute annehmen“ und „die sozialen Errungenschaften von 150 Jahren Arbeiterbewegung gegen die zerstörerischen Kräfte des Raubtierkapitalismus verteidigen“. Elsässer selber sprach sich gemeinsam mit Höcke für ein stärkeres gewerkschaftliches Engagement der Rechtsextremisten aus, die „patriotische Kandidaten“ bei Betriebsratswahlen unterstützen wollen. Als Vorbild dient dieser NS-Szene Oliver Hilburger, der es nach 20 Jahren als Gitarrist einer Neonaziband bis zum Betriebsrat bei Daimler brachte. Elsässer erklärte, diesen Erfolg „auf andere Betriebe ausweiten“ zu wollen.
Die Verfilzung zwischen Rechts und Links verläuft somit in beide Richtungen: Während in die Linke zunehmend rechte Rhetorik und Argumentationsmuster einsickern, bedient sich die Rechte aus dem Fundus linker Rhetorik und Strategie. Die Querfront fungiert somit de facto einseitig als ein ideologischer Transmissionsriemen, der rechte Ressentiments tief in die Linke hineinträgt, während Rechte sich in sozialer Demagogie üben. Die Auseinandersetzungen um Querfronttendenzen in der Linken fanden somit in einem politisch-gesellschaftlichen Klima statt, in dem Exponenten der in der Offensive befindlichen rechten Krisenideologien die soziale Demagogie für sich entdecken, während Teile der in der Defensive befindlichen Linken verstärkt auf rechtspopulistische Argumentationsmuster setzen.
Konkrete Überlegungen zur Überwindung des politischen Koordinatensystems werden aber jenseits des evidenten Querfrontspektrums hingegen kaum öffentlich geäußert. Bislang hat nur Sahra Wagenknecht in der Hochphase des Wahlkampfes solche Gedankenspiele öffentlich artikuliert, indem sie gegenüber der Springerzeitung Die Welt eine „pauschale Ausgrenzung“ der AfD ablehnte und mit Blick auf die parlamentarische Aufgabenverteilung eine etwaige Kooperation nicht von vornherein ausschließen wollte: „Auch da sollte man sich eben ansehen, wer kandidiert für was und sollte nicht Pauschalurteile abgeben.“
Ideologische Berührungspunkte – und Unterschiede
Solche Versuchsballons der Spitzenkandidatin einer „Linkspartei“ fußen aber auf entsprechenden ideologischen Überschneidungen zwischen rechter Rhetorik und verkürzter linker Kapitalismuskritik. Die in Regression befindlichen Splitter der – spätestens mit der Durchsetzung von Hartz IV – untergegangenen Sozialdemokratie, die nun in der Linken wirken, sind vielfach anschlussfähig an rechte Positionen. (Und, nebenbei bemerkt, macht das Elend dieser Ex-Sozialdemokraten, die nun die Linke links der SPD mit ihrer Postengeilheit, ihrer grenzenlosen Regierungswut und ihrer altertümlichen keynesianischen Quacksalberei aus der Mottenkiste des 20. Jahrhunderts heimsuchen, nur den niederschmetternden Sieg des Neoliberalismus in den vergangenen Dekaden deutlich.).
Wo berühren sich nun Neue Rechte und Alte Linke? Zum einen werden die Ursachen der 2008 ausgebrochenen globalen Wirtschafts- und Finanzkrise in der globalisierten Finanzsphäre verortet. Die Verlaufsform des Krisenprozesses, also der wuchernde Finanzsektor samt dem Globalisierungsprozess wird als dessen falsche Ursache ausgegeben, die ja gerade in den Widersprüchen kapitalistischer Warenproduktion zu finden wäre (Die Krise kurz erklärt).
Die falsche Gegenüberstellung von „schädlichem“ globalem Finanzkapital und der „nützlichen“ nationalen Warenproduktion, die von den „gierigen“ Bänkern in die Krise geführt wurde, ist anschlussfähig an die Ideologie der extremen Rechten. Die Nazis haben in ihren antisemitischen Fieberträumen das „raffende jüdische Finanzkapital“ verteufelt, dem das „gute“ schaffende deutsche Unternehmertum entgegengestellt wurde.
Dies soll natürlich nicht heißen, dass alle Bankenkritiker in der Linken jetzt Antisemiten wären. Aber die oberflächliche, falsche Gegenüberstellung von nationaler Warenproduktion und globalisiertem Finanzkapital als zentrale Krisenursache, die nach 2008 so ungemein populär wurde, weist unzweifelhaft ideologische Anknüpfungspunkte an die berüchtigte NS-Ideologie auf. Zudem ist die offene Artikulation von Antisemitismus, wie sie immer wieder vor allem die AfD erschüttert, in der Öffentlichkeit immer noch tabuisiert – auch wenn diese letzten zivilisatorischen Dämme langsam im Gefolge des rechten Durchmarsches erodieren. Dies hat innerhalb der antisemitischen Rechten dazu geführt, sich mittels Codes und Ersatzphrasen zu behelfen, um Ressentiments zu ventilieren. An der Oberfläche wirken somit die Argumentationsfiguren linker Bankenkritiker und rechter Antisemiten durchaus ähnlich – und es sind eben die oben erwähnten Wahnräume des Internets, wo verkürzte, postsozialdemokratische Kapitalismuskritik und antisemitisches Ressentiment amalgamieren können.
Entscheidend ist in diesem Zusammenhang das Verschwörungsdenken, das einen zentralen Bestandteil antisemitischer Wahnsysteme bildet, die ja hinter den Widersprüchen kapitalistischer Vergesellschaftung das bösartige Wirken einer jüdischen Weltverschwörung halluzinieren. Und es ist eben auch dieses Querfrontspektrum, das regelrecht besessen ist von der Suche nach den mächtigen Kreisen und Zirkeln im Hintergrund, die hinter den Kulissen die Strippen der Weltgeschichte ziehen und die Welt regieren, Krisen auslösen, etc..
Wiederum muss hier betont werden, dass dieses Verschwörungsdenken nicht zwangsläufig in den Antisemitismus münden muss – es kann auch in eine Kondensstreifen- oder in eine Bargeldverschwörung münden, wie sie etwa der Handelsblatt-Ökonom und Jebsen-Fan Norbert Haering predigt.
Und dennoch: Die Parallelen zwischen regressiven, alten Sozialdemokraten und neuen Nationalisten sind gerade beim Verschwörungswahn unübersehbar. Dies gilt beispielsweise für die Wahnvorstellung, Deutschland – das spätestens seit der Eurokrise die EU dominiert – sei immer noch kein souveränes Land, da es insgeheim von den Alliierten (zumeist sollen es die USA sein) ferngesteuert werde. Diese wirren Anschuldigungen äußerte bekanntlich die AfD-Spitzenkandidatin Weidel, die die Bundesregierung als „Marionetten“ der Siegermächte bezeichnete.
Ähnlich argumentierte aber noch 2013 der Chef der „Nachdenkseiten“, das sozialdemokratische „Urgestein“ Albrecht Müller, für den Deutschland ebenfalls kein „souveränes Land“ sei! Und auch hier muss betont werden, dass Parallelen keine Gleichsetzung bedeuten. Selbstverständlich argumentiert Müller ohne die rassisitischen und ausländerfeindlichen Ausfälle einer Weidel, die Parallelen in der quasi „manichäischen“ Denkstruktur sind hier aber evident – auch wenn Weidel viel schärfer gegen die alllierte „Fremdherrschaft“ polemisiert.
Des Wahnsinns reeller Kern: Das weitverbreitete Gefühl der Heteronomie, dass man gewissermaßen „ferngesteuert“ werde, dass Politiker nichts weiter als Marionetten dunkler Mächte seien, resultiert aus der Ahnung dessen, dass der Mensch nicht Herr seines gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses ist, dass dieser durch die fetischistische Bewegung uferloser Kapitalverwertung eine Eigendynamik gegenüber den oftmals ohnmächtigen Gesellschaftsmitgliedern entwickelt. Der Kapitalismus sei eine Gesellschaftsformation, „worin der Produktionsprozeß die Menschen, der Mensch noch nicht den Produktionsprozeß bemeistert“, bemerkte hierzu etwa Karl Marx in einem Geistesblitz.
Die Marktsubjekte bringen somit unbewusst marktvermittelt eine zerstörerische gesamtgesellschaftliche Dynamik hervor, die ihnen dann als eine scheinbar fremde, objektive Macht (deswegen auch der ganze „Sachzwangdiskurs“) gegenübertritt. Der Weg zur Verschwörungstheorie ist vor allen in all jenen politischen Zusammenhängen nicht mehr weit, die alltäglich zum Mittel der Verschwörung beim Hauen und Stechen um Posten und Pöstchen greifen – die eigenen Erfahrungen bei der politischen Karriere, etwa in der SPD, werden dann auf die gesamtgesellschaftliche Dynamik kapitalistischer Widerspruchsentfaltung projiziert.
Die Ursachen solcher absurden Vorstellungen sind aber nicht nur in der Tendenz zur Personifizierung der vermittelten, subjektlosen Herrschaft im Kapitalismus zu suchen, die dem Verschwörungsdenken zugrunde liegt, sondern auch in der besagten verkürzten Kapitalismuskritik. Wenn die Ursachen aller möglichen Verwerfungen, Spannungen und Fehlentwicklungen in der Globalisierung und dem Finanzkapital verortet werden, dann scheint die Nation als eine natürliche, widerspruchsfreie Entität, in die Widersprüche quasi „von außen“ hineingetragen werden. Wenn nun die Regierung und die Funktionseliten etwas anderes wollen als der national gesinnte Sozialdemokrat oder AfDler, dann kann es sich ja nur um Verrat handeln – schließlich wissen sie am besten, was gut ist für Deutschland.
Der zunehmende Nationalismus bildet auch die Grundlage der reaktionären Identitätspolitik, die in diesem Spektrum praktiziert wird. Die Kritik einer Sahra Wagenknecht an der linken Identitätspolitik, die sich im Gefolge des Kampfes um die Emanzipation sexueller Minderheiten herausgebildet hat, weist insofern eine unfreiwillige Komik auf, wenn diese selber eine anachronistische Rückkehr zur nationalen Identität des vergangenen Jahrhunderts predigt.
Die reaktionäre Kritik linker Identitätspolitik greift diese aber nur deswegen an, weil ihr noch das Versprechen der Emanzipation von Minderheiten innewohnt. Der Identitätswahn, der in Reaktion auf die jüngsten Krisenschübe in Europa um sich greift (und von den Rechtsextremen der „Identitären“ bis zur Realsatire explizit gemacht wird), will aber identitäre Unterwerfung unter das Bestehende.
Die Forderung nach Grenzschließung, nach der Rückkehr in den Nationalstaat, die Renaissance der nationalen Identität mittels eines neuen Schubs der „Invention of Tradition“ (Hobsbawm) – es sind unbewusste Reaktionen auf die Krisenschübe der Vergangenheit wie Zukunft: auf Wirtschafts-, Flüchtlings-, Klimakrise. Die unverstandenen, mitunter ignorierten Krisentendenzen sollen „draußen“ gehalten werden, zugleich dient die angstbedingt gesteigerte Identitätsproduktion als ein massenpsychologischer Anker in unsicheren Zeiten, der Orientierung, Zusammenhalt und klare Feindbilder aufbaut.
Identität ist aber Folge der Sozialisation in der gegebenen Gesellschaft. Mit dem Festhalten an Identität wird somit auch an den gesellschaftlichen Strukturen festgehalten, die diese Identitäten formten – auch wenn eben diese Strukturen in Auflösung übergehen. Die klar ins Ideologische abdriftende Identitätsproduktion wird dann in einem reaktionären Impuls ins Extrem getrieben.
Wohin das identitäre Festhalten am Bestehenden hinführt, wenn eben dieses Bestehende zerfällt, kann an dem Islamismus in vielen „gescheiterten Staaten“ studiert werden, der die bestehenden religiösen Identitäten in der „Mitte“ des islamischen Kulturkreises ins Extrem einer Massenmordsekte wie des Islamischen Staates trieb. In Europa ist es hingegen die nationale Identität, die als Resonanzboden für entsprechende reaktionäre Reflexe dient.
Jagd auf antideutsche Volksverräter
Die aufschäumende nationale Welle braucht ein Feindbild. Und hier hat, neben den Flüchtlingen und dem antisemitisch konnotierten Antiamerikanismus, die Querfront ihren größten Beitrag zur ideologischen Ausformung der Neuen Rechten geleistet: mittels der Transformation, der „Entkernung“ des Begriffs des Antideutschen.
Ursprünglich handelte es sich hierbei um einen marginalen, linken Begriff, der außerhalb des linken Szenesumpfs kaum Beachtung fand. Er bezeichnete eine Strömung innerhalb der Linken, die dezidiert in Reaktion auf die Wiedervereinigung und insbesondere die rechte Pogromwelle der frühen 90er Jahre sich etablierte. Die Antideutschen warnten innenpolitisch vor dem weiterhin bestehenden faschistischen Potenzial in Deutschland, sowie außenpolitisch vor einem neuen imperialen Weltmacht-Anlauf des vergrößerten Deutschlands.
Zugleich sahen sie die Welt in einer Zeitschleife gefangen, in der die Konstellation des Zweiten Weltkrieges sich ewig wiederholen würde. Die USA galten den Antideutschen als das wichtigste zivilisatorische Bollwerk gegen das abermalige deutsche Weltmachtstreben, was letztendlich den Zerfall dieser ohnehin kleinen, nie dominanten Strömung beförderte: Spätestens mit der Unterstützung der Irak-Invasion der USA durch Teile der Antideutschen hat sich diese Strömung diskreditiert und fristet nun ein marginales, auf mehrere hundert Anhänger begrenztes Schattendasein. (Eine umfassende Kritik der „antideutschen Ideologie“ leistete der Krisentheoretiker Robert Kurz in seinem gleichnamigen Werk).
Wer die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts in der deutschen Linken verbringen musste, kennt noch die ermüdenden, nie enden wollenden Auseinandersetzungen zwischen den „Antideutschen“ und anderen, orthodoxen Teilen der Linken, etwa den nicht minder berüchtigten „Antiimperialisten“, die umgekehrt in den USA den Wiederkehr des Faschismus befürchteten und alle noch so brutalen Regimes unterstützten, die ins Fadenkreuz des amerikanischen Weltpolizisten gerieten.
Glaubt man der Querfront samt der Neuen Rechten, scheinen inzwischen aber die Antideutschen nun wirklich überall zu stecken. Die marginale Gruppe muss sich irgendwie wundersam vermehrt haben und alle Schalthebel der Macht in ihren Händen halten, da nun wirklich jeder der antideutschen Umtriebe verdächtig ist, der nicht Teil des neurechten Wahnkollektivs ist. Dies liegt vor allem daran, dass Teile der orthodoxen und postsozialdemokratischen Linken am Querfrontdiskurs andockten und eben diese Auseinandersetzung mit einschleppten in den braunroten Internet-Sumpf. Im anonymen Hassschwarm der sich in ihrem Wahn wechselseitig bestätigenden Internettrolle wandelte sich der Begriff des Antideutschen, der nun auch von der Neuen Rechten verwendet wird. In der Gosse des Internets, in der die neue Rechte ihre wahre Heimat hat, in den Foren, Hassschwärmen und Kommentarspalten, werden alle einstmals festgefügten Begriffe entkernt, bis nur noch Worthülsen übrig sind, die je nach Gusto verwendet werden.
Inzwischen werden alle Gegner der neuen Rechten, insbesondere engagierte Antifaschisten, als „antideutsch“ beschimpft. Alle Linken, die sich der Öffnung nach rechts verweigern, müssen antideutsch sein. Der rechte Identitätswahn hat in diesem ehemals linken Szenebegriff einen perfekten Kampfbegriff gefunden. Nicht nur die Gegner der Neuen Rechten – man ist ja Deutschland – müssen antideutsch sein, auch alle Kritiker deutschen Großmachtstrebens und der deutschen Dominanz in Europa werden als Antideutsche tituliert. Hier bricht sich einfach nur noch deutscher Chauvinismus, deutscher Weltmachtwahn freie Bahn, indem Opposition gegen das historisch verhängnisvolle deutsche Dominanzstreben als „antideutsch“ diffamiert wird.
Die Jagd nach der Chimäre einer allmächtigen antideutschen Verschwörung, die in der Querfront praktiziert wird, eignet sich somit hervorragend, um rechte Ideologie zu transportieren. Zum Beispiel beim neudeutschen Opferwahn, indem man etwa Deutsche, gegen die die allmächtigen Antideutschen offensichtlich eine Art Vernichtungsfeldzug führen, als die neuen, wahren Juden halluziniert. Am besten dazu eignet sich ein „antideutsches“ Ziel, das sich nicht wehren kann, wie etwa der in der Türkei inhaftierte Journalist Denis Yücel, der angesichts eines satirischen Kommentars zur demografischen Krise in Deutschland jüngst antideutscher Umtriebe überführt wurde.
Die Nazis befanden sich im Kampf gegen den „ewigen Juden“. „Antideutsche“, eine sich selbst so nennende Strömung, zu der Yücel gehört, stilisieren sich als Kämpfer gegen ihr Konstrukt des „ewigen Deutschen“.
Die Deutschen sind die neuen Juden – ein bizarres, hysterisches Wahngebilde, das völlig losgelöst von jeglichem Realitätsbezug das Andenken an Millionen Opfer Nazideutschlands schändet. Was ist schon der industriell betriebene Massenmord an den Juden Europas oder der deutsche Vernichtungsfeldzug in Osteuropa gegen eine launige Taz-Kolumne eines deutschtürkischen Journalisten? Solche Aussagen sind getragen von eben demselben Ungeist, der Pegida-Horden sich als KZ-Opfer stilisieren lässt oder der Rechtsextremisten dazu veranlasst, Stolpersteine für jüdische NS-Opfer mit deutschen Namen zu überkleben. Und diese Ausfälle macht nur ein einziges Zauberwort möglich: „Antideutscher“.
Die Querfront ist somit eine Art „Einstiegsdroge“ in die Wahnwelt der Neuen Rechten. Ihr Erfolg beruht darauf, rechte Ideologie in linke Rhetorik zu verpacken. Objektiv fungiert die Querfront als ein reaktionärer Transmissionsriemen, der einerseits rechtes Gedankengut in linke und progressive Milieus hineinträgt, und andrerseits der Neuen Rechten immer neues, verblendetes Menschenmaterial zuführt. Dass viele in Regression befindliche Linke subjektiv in dem Spektrum aus anderer Motivation heraus aktiv werden, etwa um die „Menschen dort abzuholen, wo sie stehen“, ändert nichts an der objektiven Funktion der Querfrontstrukturen. Entscheidend ist somit nicht, was diese postlinken Kräfte wollen, sondern was sich objektiv gesellschaftlich vollzieht.
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