07. Mai 2017, Telepolis
Wie weit die gesellschaftliche Regression im Spätkapitalismus vorangeschritten ist, offenbart auch die neue „Wissenschaftsbewegung“
   Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt.
Dialektik der Aufklärung
Ende April ging eine Protestwelle durch den globalen Wissenschaftsbetrieb, die sich vornehmlich gegen die wissenschaftsfeindliche Politik von US-Präsident Trump richtete (ScÃence March). Die Wissenschaftler sehen sich mit einer zunehmend erstarkenden Wissenschaftsfeindlichkeit konfrontiert. Dies sei vor allem bei der Klimawissenschaft der Fall, die vor allem von den neuen rechtspopulistischen Bewegungen angegriffen werde.
Dabei weisen die Proteste aber eine merkwürdige Schlagseite auf, bei der jegliche kritische Selbstreflexion der Wissenschaft unterblieb. Wenn Kritik im Zusammenhang mit Forschung und Lehre geäußert wurde, dann nur an den Arbeitsbedingungen im Wissenschaftsbetrieb – während die widersprüchliche gesellschaftliche Funktion der Wissenschaft im Kapitalismus nahezu vollständig ausgeblendet wurde.
Die neue „Wissenschaftsbewegung“ fällt somit auf einen unkritischen Wissenschaftsbegriff zurück, wie er etwa im 19. Jahrhundert populär war. Selbst die Klassiker der wissenschaftskritischen Literatur scheinen im Wissenschaftsbetrieb kaum Spuren hinterlassen zu haben. Und tatsächlich kann die Welt so schön einfach sein – wenn man nur wissenschaftsgläubig genug ist. Auf der einen Seite finden sich hier die aufgeklärten Wissenschaftler, die in Gestalt des globalen Wissenschaftscommunity der objektiven Forschung und Lehre verpflichtet sein wollen. Die Gegenseite soll hingegen von den Kräften der irrationalen Finsternis, von Dummheit, Aberglauben und Partikularinteressen, beherrscht sein.
Fast könne es scheinen, als ob die Herrschaft im Kapitalismus immer noch auf plumpen Aberglauben oder auf dem Terror der Inquisition beruhen würde. Und tatsächlich ist es ja keine Einbildung, dass der Wissenschaft auch in den Metropolen immer größere Skepsis, mitunter offene Feindschaft entgegenschlägt. Es gibt eine breite, globale, in Mythen und Wahnvorstellungen versinkende barbarische Bewegung, deren Exponenten sich im Grad ihrer Militanz und in ihrer konkreten Ideologie unterscheiden: von der klimaleugnenden Wirtschaftslobby bis zur AfD, von Donald Trump bis zu den Taliban, von Boko Haram bis zum Islamischen Staat.
Und dennoch erklärt diese Zustandsbeschreibung nichts. Woher kommt dieser aufschäumende Hass auf die Wissenschaft, der ja auch in den Zentren des spätkapitalistischen Weltsystems an Dynamik gewinnt? Die Lobbygruppen und die populistischen Politiker, die etwa gegen die Klimawissenschaft polemisieren, artikulieren ja breite diesbezügliche Stimmungen in der Bevölkerung. Wissenschaftsfeindlichkeit, Populismus und Extremismus blühen ja nicht nur in der „unterentwickelten“ Peripherie (etwa dem arabischen Raum), sondern gerade auch in den Zentren (hier vor allem in den USA), die ja einen langfristigen Rationalisierungsprozess ausgesetzt waren.
Wieso schlägt die wissenschaftliche Aufklärung, die nahezu lückenlose kapitalistische Rationalisierung der Metropolengesellschaften gerade in den gegenwärtigen Krisenzeiten plötzlich in Irrationalität um?
Dies ist keine neue Fragestellung. Die Kritische Theorie stellte sie bereits in Reaktion auf die barbarischen Folgen der letzten großen kapitalistischen Systemkrise der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts. Wie konnten – in Gestalt Nazideutschlands – im Herzen des „zivilisierten“ und rationalisierten Europas, der Heimat der Aufklärung, Barbarei und Mythos triumphieren? Die Beantwortung dieser Frage, die sich angesichts der aktuellen populistischen Dynamik mit neuer Dringlichkeit stellt, verweist auf den Prozess der Aufklärung selber.
Es sei der einseitige, sich selbst gegenüber blinde Prozess der Aufklärung, der in den Mythos umschlage, konstatierten Adorno und Horkheimer in ihrer berühmten Dialektik der Aufklärung. Die „vollends aufgeklärte“ kapitalistische Welt strahle im „Zeichen triumphalen Unheils“, obwohl die Aufklärung den Menschen von seiner Furcht befreien und „als Herrn“ einsetzen wollte, hieß es in dem 1944 veröffentlichten Klassiker der Kritischen Theorie. Der spätkapitalistische Zustand von Ohnmacht und Angst, aus dem im Gefolge von Krisenschüben der Mythos erwächst, ist gerade der blinden, positivistischen instrumentellen Rationalität geschuldet, die der Aufklärungsprozess etablierte:
Die glückliche Ehe zwischen dem menschlichen Verstand und der Natur der Dinge … ist patriarchal: der Verstand, der den Aberglauben besiegt, soll über die entzauberte Natur gebieten. Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt. Wie allen Zwecken der bürgerlichen Wirtschaft in der Fabrik und auf dem Schlachtfeld, so steht es den Unternehmenden ohne Ansehen der Herkunft zu Gebot. Die Könige verfügen über die Technik nicht unmittelbarer als die Kaufleute: sie ist so demokratisch wie das Wirtschaftssystem, mit dem sie sich entfaltet. Technik ist das Wesen dieses Wissens. Es zielt nicht auf Begriffe und Bilder, nicht auf das Glück der Einsicht, sondern auf Methode, Ausnutzung der Arbeit anderer, Kapital. …
Was die Menschen von der Natur lernen wollen, ist, sie anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen. Nichts anderes gilt. Rücksichtslos gegen sich selbst hat die Aufklärung noch den letzten Rest ihres eigenen Selbstbewußtseins ausgebrannt. Nur solches Denken ist hart genug, die Mythen zu zerbrechen, das sich selbst Gewalt antut.
Dialektik der Aufklärung
Die vom Aufklärungsprozess hervorgebrachte Wissenschaftsmethode ist somit hohl, eines jedweden Inhalts jenseits des Studienobjekts beraubt. Sie ist reine Methode, reines Mittel, das blind den Zwecken gegenüber ist, die damit verfolgt werden – und das ist es ja, worauf der Wissenschaftler in Gestalt seiner wissenschaftlichen Objektivität so stolz ist.
Das Wissen, das nur Mittel sein will, wird somit zu einem Instrument der Herrschaft über eine Welt, die nur noch als Objekt wahrgenommen wird. Diese Blindheit der Wissenschaftsmethode gegenüber sich selbst ist somit dem kapitalistisch deformierten Aufklärungsprozess inhärent. Und hier schon ist alle folgende Barbarei angelegt. Die irrationalsten, wahnsinnigsten Zwecke können seit dem Durchbruch der Aufklärung vermittels rationaler Methoden verfolgt werden. Bisheriger Gipfelpunkt dieser Entwicklung ist die wissenschaftlich betriebene Vernichtungsfabrik Auschwitz.
Das „hohle“, auf Beherrschung zielende Denke der Aufklärung, die selber nur Mittel ist, predigt einen extremen Positivismus. Hierin sei die Aufklärung „totalitär“, so Adorno und Horkheimer:
Auf dem Weg zur neuzeitlichen Wissenschaft leisten die Menschen auf Sinn Verzicht. Sie ersetzen den Begriff durch die Formel, Ursache durch Regel und Wahrscheinlichkeit. … Von nun an soll die Materie endlich ohne Illusion waltender oder innewohnender Kräfte, verborgener Eigenschaften beherrscht werden. Was dem Maß von Berechenbarkeit und Nützlichkeit sich nicht fügen will, gilt der Aufklärung für verdächtig.
Dialektik der Aufklärung
Es gibt nichts, das sich nicht messen, das sich nicht zählen lässt – dies ist die Tendenz des Wissenschaftspositivismus. Nur Tatsachen zählen. Letztendlich schmilzt das Aufklärungsdenken auf einen blanken, öden Fakten- und Zahlenkult, der Ausdruck der Verdinglichung des spätkapitalistischen Bewusstseins ist. Die jüngsten Diskussionen um das Modewort „postfaktisch“ legen gerade das ganze Elend des spätkapitalistischen Positivismus dar, der schon in mythisches Denken umzuschlagen droht.
Der Positivismus ist dabei nur Ausfluss der reellen, letztendlich irrationalen Reproduktionsbewegung der kapitalistischen Gesellschaften, dem Selbstzweck uferloser Akkumulation immer größerer Quanta von Kapital – also abstrakten Wert. Die Nähe des Aufklärungspositivismus und Ideologie ist evident. Hierzu nochmals die Dialektik der Aufklärung:
Die bürgerliche Gesellschaft ist beherrscht vom Äquivalent. Sie macht Ungleichnamiges komparabel, indem sie es auf abstrakte Größen reduziert. Der Aufklärung wird zum Schein, was in Zahlen, zuletzt in der Eins, nicht aufgeht; der moderne Positivismus verweist es in die Dichtung.
Dialektik der Aufklärung
Die scheinbare Vielfalt der kapitalistischen Gesellschaften trügt: alles im Kapitalismus ist Ware, jede Ware ist nur als Träger abstrakten Werts von Belang, den es zu akkumulieren gilt. Nichts wird unterm Kapital anerkannt, was nicht Wert ist – weshalb in Krisenzeiten die Tendenz überhand gewinnt, die gesamte Gesellschaft zu homogenisieren, der kriselnden Wertabstraktion anzugleichen (als homogene Rasse, Nation, Religion, etc.).
Ihren historischen Durchbruch erfuhr die Aufklärung – das Machtwissen, das keine Schranken kennt in der „Willfährigkeit gegen die Herren der Welt“ – tatsächlich aufgrund der Kollaboration mit der Herrschaft im Absolutismus, als die feudale Welt in volle Auflösung überging und der Kapitalismus zu seinem Durchmarsch ansetzte. Die „aufgeklärten“ absolutistischen Herrscher des 18. Jahrhunderts, jene spätfeudalistischen Menschenschinder, die ihre Untertanen immer effizienter auszupressen suchten, erkannten die Vorteile einer aufgeklärten und „vernünftigen“ Herrschaft, die ihnen Konkurrenzvorteile im ewigen europäischen Krieg verschafften.
Seit dem Absolutismus baut Herrschaft im zunehmenden Ausmaß auf instrumenteller Vernunft auf, womit Ausbeutung und Kontrolle des Menschenmaterials immer weiter perfektioniert werden konnten. Dieser Prozess ist in der Ära des Sachzwanges gewissermaßen an sein logisches Ende gelangt. Herrschaft tritt den zu Objekten degradierten Insassen des Spätkapitalismus folglich in der Maske der instrumentellen Vernunft entgegen. Und auch diese Degradierung hat gewissermaßen eine objektive wissenschaftliche Methode, wie Adorno und Horkheimer bemerkten:
Die Aufklärung verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen. Er kennt sie, insofern er sie manipulieren kann. Der Mann der Wissenschaft kennt die Dinge, insofern er sie machen kann. Dadurch wird ihr An sich Für ihn. In der Verwandlung enthüllt sich das Wesen der Dinge immer als je dasselbe, als Substrat von Herrschaft.
Dialektik der Aufklärung
Doch was ist das Wesen der Herrschaft im Kapitalismus? Es gibt keine absolutistischen Herrscher mehr, deren Militärmaschinen mit ihrem unersättlichen Geldhunger eine wichtige Initialzündung für den Takeoff des Kapitals bildeten. Im Kapitalismus herrscht das Kapitalverhältnis als gesellschaftliche Realabstraktion – damit ist die Herrschaft im Spätkapitalismus subjektlos.
Was mit dem Kapital herrscht, ist eine unbewusst von den Marktsubjekten hervorgebrachte gesamtgesellschaftliche Dynamik, die diesen in der Form einer fremden, quasi „naturwüchsigen“ und blindwütige Macht gegenübertritt. Geld, das zu mehr Geld werden will – dieser widerspruchsvolle Prozess uferloser Anhäufung von abstrakten Geldwerten verheert die ganz konkrete Welt. Und das geschieht mit wissenschaftlicher Präzision. Das sich immer enger im Spätkapitalismus zusammenziehende Netz subjektloser, vermittelter Herrschaft ist gerade vermittels der Anwendung wissenschaftlicher Methoden gewoben worden – und nicht gegen sie. Der irrationale Selbstzweck uferloser, blindwütiger Kapitalakkumulation wird von der aufklärungsblinden Wissenschaft perfektioniert. Die Aufklärungsvernunft ist ein Herrschaftsmittel.
Es ist insofern klar, was das spätkapitalistische Ressentiment gegen die Wissenschaft antreibt. Es ist eine reaktionäre, opportunistische Rebellion gegen die wissenschaftlichen Mittel kapitalistischer Herrschaft, da der irrationale Selbstzweck nicht kritisiert werden darf. Das Kapital kann eigentlich nicht mehr infrage gestellt werden. Das Kapitalverhältnis ist ideologisch längst zur „natürlichen Ordnung“ sedimentiert, die durchzusetzen die Aufklärung propagierte – während seine Widersprüche zuverlässig externalisiert oder personifiziert werden. Dies geschieht zumeist durch die Präsentation von Sündenböcken.
Der Hass vieler Trump-Anhänger gegen den Wissenschaftsbetrieb wird somit nicht nur durch entsprechende Wirtschaftslobbys – etwa der Klimaleugner – angefacht, er resultiert auch aus den unverstandenen alltäglichen Erfahrungen, wenn etwa neue wissenschaftliche Innovationen Arbeitsplätze vernichten. Die Absurdität einer anachronistischen Gesellschaftsformation, in der zunehmende Effizienz zu zunehmendem Elend führt, wird von der populistischen Anhängerschaft Trumps nicht erkannt. Stattdessen setzt eine Art postmoderner Maschinensturm-Mentalität ein, in der sich Wissenschaftshass mit dem reaktionären Wunsch nach Reindustrialisierung, nach einer Rückkehr in die gute alte Industriegesellschaft paart.
Der Hass auf die Wissenschaft, das ist letztendlich der Hass auf die Folgen eines kapitalistisch deformierten wissenschaftlichen Fortschritts, der den Menschen zu einem bloßen Anhängsel eines verselbstständigten, widerspruchsvollen und irrationalen kapitalistischen Reproduktionsprozesses zurichtet. Je weiter die wissenschaftliche Revolution den kapitalistischen Rationalisierungsprozess vorantreibt, desto disponibler wird der Mensch in der Wirtschaftssphäre.
Gerade in der zunehmenden Verdrängung von Arbeitskraft aus der Sphäre der Warenproduktion tritt der widersprüchliche Charakter wissenschaftlichen Fortschritts im Kapitalismus: einerseits als Potenzial postkapitalistischer Emanzipation, andrerseits als konkretes spätkapitalistisches Verhängnis, bei dem ganze Regionen der USA deindustrialisiert wurden. Ein kapitalistisch verstümmelter Wissenschaftsbetrieb, der unfähig zur kritischen Reflexion der eigenen Stellung im kapitalistischen Reproduktionsprozess ist, trägt somit zum Aufkommen der irrationalen Kräfte bei, die sich gegen Wissenschaft als solch wenden.
Solange aber der Ausbruch aus dem kapitalistischen Gedankengefängnis nicht gewagt wird, kann eine jede wissenschaftliche Innovation in einer Industrie nur mit zur Angst um den Arbeitsplatz führen. Im Ressentiment gegen die Wissenschaft, das sich insbesondere in der Anhängerschaft populistischer Bewegungen wie derjenigen Trumps sammelt, kommt letztendlich die unreflektierte Ahnung der eigenen Überflüssigkeit im Spätkapitalismus zum Ausdruck.