Telepolis, 11.08.2016
Wieso es in Deutschland keinen linken Populismus geben kann – erläutert am Beispiel Sahra Wagenknecht
Das Volk weiß am besten, was es will. Man muss ihm nur gut zuhören und ihm dienen – indem man den Willen des Volkes ausführt, ihn in die politische Sphäre hineinträgt, in Gesetzesform gießt. Dies ist, in a Nutshell, die politische Maxime des Populismus. Eine charismatische Führungsfigur dient dabei als das konkrete Medium, das die Stimmungen breiter Bevölkerungsschichten zu politischen Forderungen destilliert, während die klassischen Parteibindungen und politischen Orientierungen in den Hintergrund treten.
Und was sollte daran auch falsch sein? Es scheint sich hierbei um eine einfache, klare Form der Demokratie zu handeln, bei der der landläufige „gesunde Alltagsverstand“ der Masse der Bevölkerung die Grundlage der populistischen Politik bildet. Die Interessen von mächtigen Lobbygruppen rücken dabei in den Hintergrund, das „Gemeinwohl“ wird zum Leitfaden der Politik.
Das Problem linker populistischer Politik besteht nur darin, dass die zentrale Prämisse des Populismus falsch ist. Die Willensbildung des Volkes findet ja nicht im luftleeren Raum, oder in einem egalitären öffentlichen Diskurs statt, sondern in einer von den Massenmedien, von der Kulturindustrie geprägten Öffentlichkeit. Dieser weitverzweigte kulturindustrielle Komplex, der nahezu alle Gesellschaftssphären mit seinen Produkten erreicht, umfasst ja nicht nur die Presselandschaft und politische Berichterstattung, sondern die Sphäre der Unterhaltungsprodukte wie Kino, Illustrierte, Fernsehen, Computerspiel, etc.
Der Diskurs im Kapitalismus ist nicht egalitär, sondern autoritär strukturiert, da große Informations- und Medienkonzerne eine enorme (wenn auch internetbedingt schwindende) Deutungs- und Meinungsmacht haben, mit der die berüchtigte „öffentliche Meinung“ entsprechend geformt werden kann. Dies wird auch von Populisten implizit anerkannt, indem sie das Scheinwerferlicht der Massenmedien suchen, um ihre Message unters Volk zu bringen. Das geht mitunter bis zur Schmerzgrenze. Oskar Lafontaine etwa betätigte sich als BILD-Kolumnist – mit mäßigem Erfolg.
Mehr noch: Der ideologische wie weltanschauliche Rahmen, in dem der öffentliche Diskurs stattfindet, ist nach Jahrzehnten des kulturindustriellen Dauerbombardements längst entsprechend präformiert. Die Prämissen werden durch die Systemlogik gesetzt. Konkret bedeutet dies, dass die „Denkformen“ und Begriffe des öffentlichen Diskurses für gewöhnlich nicht hinterfragt werden, da sie längst als selbstverständlich gelten. Und dies ist ja nur deswegen der Fall, weil die konkreten kapitalistischen Strukturen, Vermittlungsebenen, Organisationsformen und Institutionen für selbstverständlich, für „natürlich“ gehalten werden. Das führt dazu, das selbst in hitzigen öffentlichen Auseinandersetzungen Begriffe wie Lohnarbeit, Markt, Staat, Nation, etc. nicht reflektiert, sondern als gegebene „systemische“ Grundlage der Diskussion hingenommen werden.
Kapitalismus kann somit auch als ein Gedankengefängnis begriffen werden, das einer grundlegenden Reflexion der krisenbedingt sich häufenden Verwerfungen und Missstände im Weg steht. Zum einen sind es die konkreten Eigentumsverhältnisse und Konzentrationsprozesse im Mediensektor, die zum Missbrauch dieser hochkonzentrierten Meinungsmacht durch kapitalistische Funktionseliten geradezu einladen: Etwa, wenn es darum geht, einen Krieg medial vorzubereiten oder mit entsprechender Hetze die Durchsetzung von Sozialabbau zu begleiten (wie bei der Hartz-IV-Kampagne). Entscheidend aber ist, dass der ideologische und begriffliche Rahmen, in dem öffentlich diskutiert wird, längst die Form einer quasi natürlichen Grundlage jeglicher systemimmanenten Denkbewegung angenommen hat.
„Wirr ist das Volk“
Dem „Volk“ wird von der Kulturindustrie seit Jahrzehnten alltäglich nicht nur eingetrichtert, was für Meinungen es an den Tag zu legen, sondern auch in welchen basalen Kategorien es zu denken hat. Letztendlich unterzieht der Medienapparat die spätkapitalistischen Konsumenten einer umgekehrten Psychoanalyse, bei der zuvor bewusst wahrgenommene gesellschaftliche Zusammenhänge und Erkenntnisse ins Unbewusste und Affekthafte verdrängt werden. Damit wird die Maxime des – linken – Populismus hinfällig. Zu glauben, etwa die von BILD und Unterschichtenfernsehen konditionierte Unterschicht, die mittels der Agenda 2010 geschaffen wurde, könnte den linken Populisten mit sinnigen antikapitalistischen Impulsen versorgen, ist bestenfalls naiv.
„Wirr ist das Volk“ – diese satirische Parole der Partei Die Partei, gedacht als Antwort auf das rechtspopulistische „Wir sind das Volk“ von Pegida uns Co, gibt die bittere Krisenrealität treffender wieder als alle Beschwörungsformeln des linken deutschen Populismus. Denn selbstverständlich gewinnen populistische Tendenzen erst in Krisenzeiten an Dynamik: Wenn die Schere zwischen Arm und Reich sich bis zur nackten Obszönität weitet, wenn ganze Regionen Europas in Massenarbeitslosigkeit und Elend absinken, wenn Staaten kollabieren und Massen verzweifelter Menschen vor dem sich entfaltenden Chaos einer evidenten Systemkrise in die Zentren des kollabierenden Weltsystems fliehen.
In Wechselwirkung mit dieser Krisendynamik setzt in den meisten kapitalistischen Gesellschaften eine ideologische Aufrüstung ein, bei der das gewohnte Denkgleis nicht verlassen, sondern ins Extrem getrieben wird. Die Systemlogik wird in der Systemkrise von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung nicht infrage gestellt, sondern ins Barbarische getrieben. Für den Rechtspopulismus ist somit die jahrzehntelange massenmediale Konditionierung der Öffentlichkeit eine Garantie für Wahlerfolge in Krisenzeiten. Er muss nur die bestehenden Ängste weiter schüren, die ohnehin gegebenen Ressentiments anheizen, die ideologische Aufrüstung mittels „mutiger Tabubrüche“ weiter forcieren.
Die Maxime des rechtspopulistischen „Extremismus der Mitte“ geht voll auf: Das, was aus der verängstigten Mitte – und die Angst ist nur zu berechtigt – der Gesellschaft an barbarischen Affekten auf das unverstandene Krisengeschehen aufsteigt, wird in Politik gegossen: Grenzen dicht! Ausländer raus! Zwangsarbeit für unnütze Mitesser! Deutschland zuerst!
In nahezu allen europäischen Staaten kann der Rechtspopulismus gerade deswegen triumphieren, weil er so einfach nachzuvollziehen ist – da ist kein gedanklicher Bruch notwendig. Und er ist deswegen einfach, weil er als konformistische Rebellion keine Alternativen anstrebt, sondern das Bestehende ins Extrem treibt. Die eingefahrenen ideologischen Denkgleise müssen nicht verlassen werden, sie führen quasi naturwüchsig in die sich abzeichnende Barbarei.
Der Gegenentwurf zum Populismus: Nichts wird gut werden
Der linke Populismus scheitert hingegen an dieser Krisendynamik, er dementiert sich selbst, indem er zwangsläufig in den eingefahrenen ideologischen Gleisen des öffentlichen Diskurses bleiben muss, der zunehmend verwildert. Wenn nun das „Volk“ sich mit Mauer und Stacheldraht von der Krise abkapseln will, dann muss der Populist dem Rechnung tragen. Sahra Wagenknecht muss sozusagen immer mal wieder „unglücklich formulierte“ Kommentare zur Flüchtlingskrise publizieren, um überhaupt noch als populistische Größe wahrgenommen zu werden. Den Ressentiments, die aufgrund zunehmender Krisenkonkurrenz rasch anschwellen, wird so mittels kalkulierter „Tabubrüche“ Rechnung getragen. Wenn das „Volk“ die Grenzen dichtmachen will, dann verspricht ein Oskar Lafontaine schon mal, die Flüchtlingszahlen zu begrenzen.
Notwendig wäre aber nicht ein Nachplappern der aufsteigenden Ressentiments, die sich aus Verfallsformen kapitalistischer Ideologie speisen, sondern ein klarer Bruch mit der Systemlogik, um eine breite gesellschaftliche Diskussion über Systemalternativen zur kapitalistischen Dauerkrise zu initiieren. Das Festhalten an Kategorien und Begriffen wie Staat, Volk, Nation, Markt, Geld, Kapital, deren reale gesellschaftliche Entsprechungen krisenbedingt in Zerfall übergehen – überdeutlich nachzuvollziehen etwa im arabischen Raum -, kann nur ins Desaster führen. Der radikale Bruch mit dem herrschenden kapitalistischen Krisendiskurs, der rapide verwildert, ist angesichts der Krise eine blanke Notwendigkeit.
Der Gegenentwurf zum Populismus bestünde darin, zu sagen, was Sache ist: Der Spätkapitalismus wird an seinen eskalierenden inneren Widersprüchen zugrunde gehen, die Angst, die in den spätkapitalistischen Gesellschaften aufsteigt („Die Welt gerät aus den Fugen“), speist sich gerade aus der unbewussten Ahnung dieser kommenden schweren Verwerfungen.
Während der Rechtspopulismus diese Angst schürt, ihr vermittels der Personifizierung von Krisenursachen immer neue Sündenböcke zuführt (Südeuropäer, Araber, Juden, Russen, Amerikaner), müsste linke Politik gerade darin bestehen, die unbewusste Ahnung einer schweren Systemkrise der bewussten Reflexion zuzuführen. Dies würde bedeuten, mal zur Abwechslung die Wahrheit zu sagen: Das System befindet sich in einer fundamentalen Krise, nichts wird gut werden, es gilt, schnellstmöglich öffentlich über Systemalternativen zu diskutieren, anstatt an dem festzuhalten, was im irreversiblen Zerfall begriffen ist.
Dies würde bedeuten, die gegebenen Ängste tatsächlich ernst zu nehmen: Ängste, die den Treibstoff der zunehmenden Verrohung der spätkapitalistischen Gesellschaften bilden. Angst bildete schon immer den Motor der größten Zivilisationsbrüche der Menschheitsgeschichte – etwa die Angst vor der jüdisch-bloschewistischen Weltverschwörung. Wenn nun ein bekannter Vertreter des Populismus in der Linkspartei wie Dieter Dehm davon spricht, man müsse die „Ängste der kleinen Leute“ ernst nehmen, dann meint er genau das Gegenteil. Es geht ihm nicht um die bewusste Aufklärung der systemischen Ursachen dieser Ängste, um ihre bewusste Reflexion, sondern um die Bestätigung dieser irrationalen Affekte, um ihre Verstärkung. Das Volk weiß ja am besten, was es will.
Anstatt über die systemischen Ursachen der Ängste aufzuklären, um die Menschen mündig zu machen, gehen die Populisten in der Linkspartei daran, diese Ängste zu bestärken, was die Unmündigkeit der Menschen zementiert. Stattdessen setzen Populisten wie Deiter Dehm auf klassische Identitätspolitik, auf dumpfe Deutschtümelei – indem etwa Deutschlandflaggen an Luxuskarossen befestigt werden.
Progressive Politik ist hingegen nur noch bei gleichzeitiger Reflexion des kapitalistischen Krisenprozesses möglich. Der linke Populismus hingegen wandelt sich nahezu zwangsläufig in Rechtspopulismus. Die entsprechenden Ausfälle von Lafontaine, Wagenknecht und Dehm richten sich natürlich auch an die eigene Parteibasis. Denn selbstverständlich wächst auch innerhalb der Linkspartei die Zahl derer, die angesichts der zunehmenden Krisenverwerfungen die Grenzen dichtmachen wollen. Die Linke ist vor rechter Krisenideologie nicht zwangsläufig sicher.
Die Linke als „Wir auch“-Partei
Diese ressentimentgeladene „schweigende Mehrheit“ in der Linkspartei meldete sich während der jüngsten (und sicherlich nicht letzten) Wagenknecht-Affäre zu Wort (Wagenknecht-Kritik deleted), als Petitionen, die sich mit der um Flüchtlingsströme besorgten Fraktionsvorsitzenden solidarisierten, Zehntausende von Unterschriften sammeln konnten. Plötzlich wurde offensichtlich, wie weitverbreitet rechtspopulistische Ressentiments in der Linken sind – und wie groß das Bedürfnis der Parteimitglieder ist, diese auch öffentlich zu äußern. Die Populisten in der Linkspartei betätigen sich somit mal wieder als Nachgeburten bürgerlicher Krisenideologie: „Wir auch!“ Wir wollen nun auch den „Zuzug begrenzen“, wie AfD, CSU, CDU und SPD. Hier wird eine reaktionäre „Linke“ propagiert, die mit zeitlicher Verzögerung den ideologischen Zerfallsprozess in der Mitte der spätkapitalistischen Gesellschaft nachvollzieht, anstatt progressiv nach Alternativen zur Dauerkrise zu suchen.
Die Verlaufsform dieses Sturms im linken Wasserglas erinnerte frappierend an die Sarrazin-Debatte 2010, in deren Verlauf die öffentliche Artikulierung von Ressentiments enttabuisiert wurde. Mittels des üblichen rechtspopulistischen Neusprechs inszenierte Wagenknecht ihre kalkulierte und wohldosierte Ressentimentproduktion – die Verknüpfung von Flüchtlingskrise und Terrorismus – als einen Akt mutiger Kritik, als eine Art Tabubruch: „Es ist nicht links, Probleme zu verschweigen“, sagte die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei, die sich somit als mutige Klartextrednerin selbst darstellte.
Die mutige Tabubrecherin wurde von den zahlreichen Wagenknecht-Verstehern in den Massenmedien als die berüchtigte verfolgte Unschuld dargestellt, die von einer entfesselten Medienmeute gejagt werde. Selbst Medien wie Spiegel-Online warnten davor, die Populistin in die rechte Ecke zu drängen, da ja berechtigte Kritik mal erlaubt sein müsse. Der Freitag verglich gar die Politik Wagenknechts ausgerechnet mit der nationalen Linie der KPD in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, mit der die Kommunisten den Nazis das Wasser abgraben wollten, um Wagenknechts Wilderei im rechten Milieu zu legitimieren. Wieso dies ein Erfolgsrezept sein soll, bleibt wohl ein Geheimnis des Autors. Die Taz wiederum brach ganz offen eine Lanze für die mutige Provokateurin, indem sie das Lob des Populismus sang.
Die Selbstdarstellung der kalkulierend mit Ressentiments spielenden Wagenknecht als „mutige Kritikerin“, die von betonköpfigen Tabuwahrern verfolgt werde, wirkt übrigens geradezu lächerlich auf alle jene Beobachter, die genau wissen, wie in diesem national-sozialen Milieu mit Kritik umgegangen wird (ein Blick in die Foren genügt). Auch hier gibt es Parallelen zu Sarrazin, der sich immer als unterdrückter Klartextredner inszenierte, während er gegen Kritik zumeist rabiat vorging.
Es ist evident: Hier wird von den populistischen Kräften innerhalb der Linken eine Schmierenkomödie aufgeführt, die letztendlich Wagenknecht zum Sarrazin der Linkspartei macht: zu der großen „Tabubrecherin“, in deren Windschatten die Verrohung des Diskurses auch in der Linkspartei etabliert wird. Nun sollen auch in der Linken öffentlich Ressentiments geäußert werden können, was einfach dem Bedürfnis eines großen Teils der Basis dieser Partei entspricht. Unfähig oder unwillig, den überlebensnotwendigen, radikalen Bruch zu kapitalistischen Dauerkrise auch nur zu denken, bleibt nichts anders, als sich in Reaktion auf die zunehmenden Krisenverwerfungen dem Ressentiment hinzugeben.
Damit aber betreibt die Linke ihre Selbstauflösung, sie wird zu einer „Wir auch“-Partei, zu einer reinen Attrappe, hinter der national-soziale Kräfte mobilmachen. Die massenhafte Abwanderung von Linke-Wählern zur Rechten wird dieser Populismus nicht stoppen, sondern weiter befördern. Das Beispiel der „nationalen“ KPD der 30er Jahre ist hier tatsächlich angebracht.
Selbstabschaffung der Linkspartei
Die bescheidenen Wahlergebnisse Wagenknechts machen deutlich, dass die ressentimentgeladenen Wählerschichten, die die Populisten in der Linkspartei ansprechen wollen, im Zweifel eher das rechte Original anstelle der linken Kopie wählen.
Diese Tendenz zur Selbstabschaffung der Linkspartei kann aber nicht durch bloßes Ignorieren dieser Umtriebe revidiert werden – sondern nur in klarer, konfrontativer Auseinandersetzung mit diesem populistischen national-sozialen Milieu in der Partei, das gerade dabei ist, einen Gutteil der Parteibasis der neuen deutschen Rechten zuzuführen.
Und selbstverständlich dient diese populistische Mobilisierung auch der eigenen Karriereplanung, indem parteiinterne Konkurrenzen, die nicht rücksichtslos genug sind, um Ressentiments zu instrumentalisieren, unter Druck gesetzt werden. In der Führungsriege der Linkspartei dürfte eine ähnliche Angst vor Stimmverlusten bei einer Konfrontation mit Wagenknecht herrschen, wie sie die SPD-Führung dazu veranlasste, den nationalen „Sozialdemokraten“ Sarrazin 2010 doch nicht aus der Partei zu werfen.
Bei den Grünen sind übrigens ähnliche Tendenzen festzustellen – was vielleicht das Lob populistischer Politik durch die Taz erklären könnte. Der Sarrazin der Grünen heißt Boris Palmer, ist Tübingens Bürgermeister und will syrische Flüchtlinge direkt ins Bürgerkriegsland Syrien abschieben. So weit ist selbst Sahra Wagenknecht noch nicht.