Die Bewegung als Bewegung

Telepolis, 01.08.2016
Die neue deutsche Rechte muss als eine gesellschaftliche Dynamik begriffen werden, die ins barbarische Extrem treibt

So ein Zeitungsarchiv schon ist eine feine, praktische Sache – solange all die peinlichen Fehleinschätzungen der vergangenen Dekaden unentdeckt bleiben. Da ist beispielsweise die New York Times (NYT), die am 21. November 1922 ihren ersten Bericht über einen aufstrebenden, antisemitischen „Hakenkreuzler“ Namens Adolf Hitler veröffentlichte, der in Bayern sein Unwesen treibe.

Am 21. November 1922 publizierte das renommierte Ostküstenblatt eine ihrer größten Fehleinschätzungen. Adolf Hitler? Alles halb so schlimm, sein Antisemitismus sei gar nicht ernst gemeint, er diene zu dazu, die Massen in Deutschland zu ködern, die für antisemitische Ressentiments nun mal überaus empfänglich seien. Hitler werde zugutegehalten, einen „selbstlosen Patriotismus“ zu predigen, wobei er und seine Hakenkreuzler „höchstwahrscheinlich selbst nicht wissen, was sie erreichen wollen“, hieß es in der NYT. Die Massen müssten mit „rohen Schweinereien und Ideen wie dem Antisemitismus“ gefüttert werden, um sie unter Kontrolle zu halten und die feinen realen Ziele zu verbergen, erklärte ein bayrischer politischer Insider gegenüber dem Reporter der NYT.

Angesichts des industriell betriebenen Massenmords an den Juden Europas, der zwei Jahrzehnte später von Nazideutschland penibel organisiert und durchgeführt wurde, erscheint diese Fehleinschätzung geradezu monströs. Und dennoch ist sie nachvollziehbar. Die Wannseekonferenz von 1942 war 1922 nicht prognostizierbar. Wer käme 1922 auch auf die Idee, dass dieser irrationale Wahnsinn einer relativ kleinen Gruppe rechtsextremer Irrläufer tatsächlich ernst gemeint sei?

Der erste Reflex eines Beobachters, der das gruselige Treiben der bayerischen Eingeborenen zu verstehen versucht, besteht selbstverständlich darin, diesen Irrationalismus zu rationalisieren, ihn zu einem bloßen Mittel im politischen Kampf zu erklären, wie es in bürgerlichen Demokratien (Populismus) üblich ist. Dass der Antisemitismus der irrationale Selbstzweck der „Hakenkreuzler“ sein könnte, der mittels rationaler Mittel verfolgt wird, war den meisten politischen Beobachtern sehr lange nicht klar.

Zudem wird hier deutlich, dass Hitlers Hakenkreuzler nur Teil einer massiven ideologischen Dynamik waren, mit der sie in Wechselwirkung standen. Ein reaktionärer gesellschaftlicher Prozess bringt die Nazis hervor – und er wird von ihnen zunehmend geprägt. Wie sonst hätte der Antisemitismus als massenwirksames Mobilisierungsmittel wirken können? Wenn der „gewalttätige Antisemitismus“ solch ein Erfolgsrezept Hitlers gewesen sei, „was sagt uns das über den Zustand der öffentlichen Meinung in Bayern des Jahres 1992?“, fragte die Newssite Vox.com, die sich mit dem alten – und irritierend aktuellen – Bericht der NYT auseinandersetzte.

Die „nationalsozialistische“ Bewegung muss auch als eine ideologische Bewegung, als ein gesellschaftlicher Prozess eines zunehmenden „Ins-Extreme-Treibens“ begriffen werden. Sie kommt nicht von „Außen“ über Deutschland her, sie wird innerhalb der krisengeschüttelten deutschen Zwischenkriegsgesellschaft ausgebrütet, indem weitverbreitete Ressentiments aufgegriffen werden.

Es ist eine Massenbewegung, deren Erfolg mit einer beständigen ideologischen „Radikalisierung“ einhergeht. Es wird immer schlimmer, als es schien. Auf jeden Widerstand, auf jeden Krisenschub wird mit einem Exzess reagiert, wobei die irrationalen Momente des Nationalsozialismus überhandnehmen. An Auschwitz, dem genozidalen Wahn, der vermittels perfider instrumenteller Vernunft realisiert wurde, blamieren sich übrigens auch alle linken Versuche, hier noch irgendwelche „rationalen Interessen“ herrschender Klassen zu imaginieren.

Von diesem massenmörderischen Wahnsinn scheint das gegenwärtige Deutschland, wie auch der Großteil seiner politischen Rechten, meilenweit entfernt. Angesichts des historisch einmaligen Zivilisationsbruches, den Nazideutschland beging, verbieten sich eigentlich alle leichtfertigen historischen Gleichsetzungen und die notorischen „Hitlervergleiche“. Gegenwärtig terrorisieren keine Braunhemdenhundertschaften bei Fackelaufmärschen Ausländer und Andersdenkende – zumindest nicht massenhaft. Und dennoch ist die aktuelle gesellschaftliche Situation in Deutschland durchaus mit dem Vorfaschismus der späten 20er und frühen 30er Jahre des 20. Jahrhunderts vergleichbar. Eine breite, reaktionäre, ins Rechtsextreme tendierende gesellschaftliche Dynamik hat sich der Bundesrepublik bemächtigt. Eine ideologische Massenbewegung, die sich im Wahn verliert, ist sehr wohl wieder präsent in Deutschland.

Die Wahlerfolge der AfD sind nur Ausdruck dieser reaktionären Dynamik, die in der Mitte der Gesellschaft in Reaktion auf deren krisenhafte Erschütterungen aufkommt. Diese derzeit sich ausformenden rechtsextremen Ideologiesplitter, die keine Kohärenz eines in sich geschlossenen Wahnsystems wie des Nationalsozialismus ausbildeten, sind Teil einer Organisations- und schichtenübergreifenden protofaschistischen Bewegung. Neben offen reaktionären Teilen der Mittelklasse sind auch die „zu kurz gekommenen“ Kleinbürger mit einem spezifischen Unterschichten-Rassismus hierin stark vertreten. Seine politische Heimat hat der neue deutsche Protofaschismus, neben der AfD, insbesondere in weiten Teilen der CDU/CSU, der FDP, sowie im geringeren Ausmaß in der „Sarrazinpartei“ SPD. Der rechtsextreme Mob und die erzreaktionäre Elite finden hier – mal wieder – im Gemeinsamkeit stiftenden Hass zusammen. Doch selbst in der Linkspartei gibt es Auseinandersetzungen mit einem aufkommenden national-sozialen Flügel, der mit „Patriotismus-Parolen“ und Ressentimentproduktion auf Wählerabwanderungen von der Linken zu der AfD reagiert.
Ideologische Radikalisierung und das Fallen der Tabus

Die braune Bewegung – in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts wie auch gegenwärtig – muss somit auch als Bewegung analysiert werden. Woher kommt sie? Wohin treibt das Ganze? Der Tendenz zu „Verdinglichung“ gesellschaftlicher Prozesse („was ist“?) muss das Denken in eben diesen Prozessen entgegengesetzt („was wird“?) werden. Es ist somit nicht entscheidend, was die AfD jetzt gerade „ist“, sondern wohin sich die „Bewegung“ entwickeln wird, sobald neue Krisenschübe über den Spätkapitalismus hereinbrechen werden, die sich bereits überdeutlich (etwa in Gestalt der italienischen Bankenkrise) abzeichnen. Dies kann durch eine ideologische „Radikalisierung“ der AfD geschehen, oder auch durch das Aufkommen neuer rechtsextremer Gruppierungen und Massenbewegungen, die den Prozess des „Ins-Extreme-Treibens“ fortsetzen.

Diese Dynamik der „ideologischen Radikalisierung“ ist ja gerade anhand der „Alternative für Deutschland“ bestens nachvollziehbar. Die prominenten rechtspopulistischen Gründerväter der ehemaligen „Professorenpartei“ AfD, der Ökonom Bernd Lucke und der Manager Hans-Olaf Henkel, haben diese angesichts zunehmender rechtsextremistischer Tendenzen bereits verlassen, um ihre rechtspopulistische Partei „Alfa“ zu gründen. Für das rechte Alfamännchen Henkel sei die Entwicklung der AfD „in Richtung einer NPD“ schon seit einiger Zeit absehbar, wie er im Interview mit dem Handelsblatt ausführte. Parteigründer Lucke erklärte bei seinem Parteiaustritt wiederum, er wolle nicht als „bürgerliches Aushängeschild“ für ausländerfeindliche Ansichten missbraucht werden.

Und selbstverständlich geht dieser Prozess des ideologischen „Ins-Extreme-Treibens“ reaktionärer – und inzwischen ordinär faschistischer – Ideologeme munter weiter. Inzwischen droht das letzte noch intakte zivilisatorische Tabu zu fallen, das in der Bundesrepublik in den Nachkriegsjahrzehnten erreichtet werden konnte: das Tabu antisemitischer Hetze. Die Auseinandersetzungen in der AfD um offen antisemitische Äußerungen in der Parlamentsfraktion in Baden-Württemberg, führten nicht etwa zum Ausschluss des Täters, sondern zu einer Spaltung der Fraktion. Dieses Verhalten, das den zunehmend offen agierenden Rechtsextremisten nun eine Beobachtung seitens des Verfassungsschutzes einbringt, wird durch den zunehmenden ideologischen Druck motiviert, den unterdrückten Antisemitismus nun endlich voll ausleben zu können. Das latente antisemitische Ressentiment will manifest werden, die krisenbedingten Verwerfungen und Spannungen sollen endlich öffentlich als „Judenwerk“ halluziniert werden können.

Dieser letzte öffentliche Tabubruch, vor dem der deutsche Rechtsextremismus nun steht, verweist auch die Ursprünge dieser reaktionären gesellschaftlichen Dynamik. Der Prozess der Faschisierung der deutschen Gesellschaft wird ja auch von „mutigen“ Tabubrüchen und „klaren Worten“ rechter Demagogen begleitet. Und es war der SPD-Politiker und Bundesbank-Hinterbänkler Thilo Sarrazin mitsamt seinem Machwerk „Deutschland schafft sich ab“, der sich 2010 im Verlauf der Sarrazin-Debatte tatsächlich durchsetzen und die öffentliche Artikulierung von Ressentiments etablieren konnte. Sarrazin kann getrost als der Urknall der neuen deutschen Rechten bezeichnet werden. Und es ist bezeichnend, dass es die SPD-Führung aus Angst vor Stimmverlusten nicht wagte, Sarrazin aus der Partei zu werfen.

Seit Sarrazin, seit der Etablierung eines ressentimentgeladenen, offen reaktionären Diskurses in der Öffentlichkeit (der zuvor nur am Stammtisch gepflegt wurde), setzte der Prozess der massenwirksamen „Radikalisierung“ der rechten und rechtsextremen Ideologie ein, an dessen – vorläufigen – Ende die antisemitischen Ausfälle und Auseinandersetzungen von Stuttgart stehen. Gewissermaßen gibt es kein Halten mehr, nachdem 2010 der Sozialdarwinismus und der antimuslimische Rassismus, die in Sarrazins Bestseller propagiert wurden, sich öffentlich etablieren konnten. Sarrazin kann getrost als einer der Vordenker der AfD bezeichnet werden.

Falls man hier überhaupt noch vom Denken sprechen kann. Die ganze intellektuelle Erbärmlichkeit der neuesten deutschen Rechten, die schlicht eine Biologisierung der Krisenfolgen betreibt, wird gerade an Sarrazin offensichtlich. Seinen politischen Aufstieg erlebte der SPD-Politiker während seiner Amtszeit als Berliner Finanzsenator, als er eine knallharte Sparpolitik mit ungehemmter Hetze und Pöbeleien gegen die Opfer seiner Politik, gegen Arbeitslose und Hartz-IV-Bezieher anreicherte. Sarrazin war somit daran beteiligt, den massiven Verelendungsschub, ja die Ausformung einer breiten Unterschicht in Berlin zu exekutieren, die im Rahmen der Agenda 2010 von Rot-Grün eingeleitet wurde. Hiernach erklärte Sarrazin das von ihm mitgeschaffene Massenelend zu der Folge einer übermäßigen Vermehrung genetisch minderwertiger Menschen, die aufgrund einer jahrzehntelangen „negativen Selektion“ durch den deutschen Sozialstaat einsetzte.

Der bundesrepublikanische Sozialstaat habe die natürliche Auslese der Schwächeren, den sozialdarwinistischen „Survival of the Fittest“ in der deutschen Population, unmöglich gemacht, weshalb nun die Unterschichten und die Muslime – die, da dümmer, eine höhere Geburtenrate aufweisen sollen – sich wie die Karnickel vermehrten, während die klugen, leistungstragenden Sarrazins dieser Republik kaum noch die Welt mit ihrem Elitennachwuchs beglücken würden. Die Schlussfolgerung Sarrazins aus diesem biologistischen Delirium: Deutschland verblödet, da der Intelligenzdurschnitt der Bevölkerung im Sinken begriffen sei.
Die Krisenursachen werden personifiziert

Dieser unsagbar dumme Gedankenmüll, der die Folgen von Hartz-IV und Agendapolitik in einer sozialdarwinistischen Pseudotheorie biologisiert, stellt aber auch das perfekte Muster für die weitere ideologische Entfaltung der neuen deutschen Rechten dar. Die operiert ja nicht im luftleeren Raum, sondern in einer krisengeschüttelten spätkapitalistischen Gesellschaft. Schon der historische Nationalsozialismus wurde von Krisenideologie angetrieben, die in Wechselwirkung mit den großen Krisenschüben der Zwischenkriegszeit erstarkte (Erster Weltkrieg, gescheiterte Revolution, Hyperinflation, Weltwirtschaftskrise). Und genauso verhält es sich auch aktuell. Die Sarrazindebatte brach kurz nach Ausbruch der Finanz- und Weltwirtschaftskrise 2007-09 aus, als hysterische Abstiegsängste die deutsche Mittelklasse plagten und sozialdarwinistische Abgrenzungsreflexe gegenüber der anwachsenden Unterschicht um sich griffen. Die Eurokrise ließ den gegen die „faulen Südländer“ gerichteten Kulturalismus und Rassismus explodieren, während die Flüchtlingskrise dem Hass auf Muslime und Menschen aus dem arabischen Kulturkreis in der Öffentlichkeit etablierte.

Ein jeder Krisenschub lässt die entsprechenden rechtspopulistischen und rechtsextremen Wahngebilde weiter anschwellen. Der ideologische Reflex ist – wie von Sarrazin etabliert – immer der gleiche: Ein Krisenschub wird immer auf halluzinierte rassische oder kulturelle Minderwertigkeiten der Krisenopfer zurückgeführt. Die Krisenursachen werden so personifiziert. Die Arbeitslosen sind schuld an Verblendung und Arbeitslosigkeit, die Südeuropäer sind schuld an der Eurokrise, die Araber sind schuld an Krieg und Staatszerfall in ihrer Region. Deutschland müsse sich folglich gegenüber diesen Regionen, gegenüber diesen „minderwertigen“ Menschengruppen schützen – koste es, was es wolle. Und seien es die letzten zivilisatorischen Mindeststandards. Die rechtsextreme Praxis, die aus solch einer Ideologie letztendlich resultieren muss, ist offensichtlich: Krieg gegen Arbeitslose, gegen Ausländer, gegen „volksfremde“ und „parasitäre“ Elemente, die das „Gastrecht“ missbrauchten.

Und es ist übrigens das historische Verhängnis des rechten Flügels innerhalb der Linken, die Ausbildung und das Anschwellen dieser ideologischen Dynamik in der Bundesrepublik mit einer populistischen Politik befördert zu haben (Mit nationalem Sozialismus gegen die AfD?). Sahra Wagenknechts Bemerkungen über das verwirkte Gastrecht von Flüchtlingen, die Forderungen nach der Abriegelung von Grenzen durch Oskar Lafontaine sowie die Umtriebe eines Dieter Dehm haben zur Verfestigung der rechtsextremen Ideologiemuster in der deutschen Öffentlichkeit beigetragen.

Die dargelegten ideologischen Reflexe zur Personifizierung der Krisenursachen werden so zusätzlich durch „Linke“ legitimiert, die an einer kategorialen Kritik des Kapitalismus längst nicht mehr interessiert ist. Die Rechten in der Linken sind somit Teil dieses ideologischen Prozesses, qausi dessen Nachgeburt, ohne selber organisatorisch in eben solchen Parteien oder Zusammenhängen vertreten zu sein. Nochmals: Wagenknecht, Dieter Dehm oder Lafontaine sind keine Nazis, sie müssen selber auch gar nicht zukünftig zu Nazis werden – sie tragen aber zur Etablierung, zur „Radikalisierung“ des entsprechenden reaktionären Narrativs bei, zur Verfestigung der protofaschistischen Ideologiesplitter, die sich schon in Millionen von Köpfen ganz gewöhnlicher Bürger finden lassen.

Der Prozess der rechtsextremen „Radikalisierung von Ideologie“ lässt sich sehr gut an dem Querfront-Projekt konkret nachvollziehen, an dem Dieter Dehm öffentlich beteiligt war: an den längst in Vergessenheit geratenen Montagsdemos. Hierbei trafen sich im Sommer 2014 wirre Verschwörungstheoretiker, rechte „Reichsbürger“ und versprengte Linke, um mit taktischer Unterstützung von Teilen der Linkspartei die Querfront gegen Krieg, Finanzkapital und Sozialabbau zu üben. Diese „Montagsdemos“ und Mahnwachen, aufbauend auf verkürzter Kapitalismuskritik, bildeten letztendlich aber nur den organisatorisch-praktischen Durchlauferhitzer, von dem dann PEGIDA und die offen faschistische deutsche Rechte profitieren konnte. Die Querfrontstrategie der „Mahnwachen-Bewegung“ bildete die Initialzündung für eine offen faschistische Massenbewegung auf Deutschlands Straßen, anstatt der Rechten das Wasser abzugraben. Mitunter sind diese beiden ressentimentgeladenen Protestbewegungen in etlichen Städten tatsächlich ineinander übergegangen, oder die Teile der Anhängerschaft der Montagsdemos sind zu PEGIDA und Co. übergelaufen. Die an den Montagsdemos beteiligten „Linken“ fungierten somit als – unfreiwillige – Geburtshelfer einer rechten Massenbewegung.

Wohin treibt das Ganze, diese partei- und strömungsübergreifende reaktionäre Bewegung, die sich zurücksehnt nach der guten alten Zeit, nach den 70er, 50er oder gleich 30er Jahren? Zum einen hat ja Sarrazin in einem einzigen Punkt tatsächlich recht: Deutschland verblödet tatsächlich – im Gefolge der krisenbedingt einsetzenden allgemeinen Verrohung. Der Sozialdarwinist Sarrazin ist der beste Beweis dafür, dass dieser Prozess der Verrohung und schlichten Verdummung auch die Funktionseliten ergriffen hat. Dabei wird inzwischen das Ressentiment mit regelrechter Aggressivität in den öffentlichen Raum hineingetragen. Ausgehend von Sarrazin hat sich eine allgemeine Tendenz etabliert, die eigene Blödheit wie eine Monstranz vor sich zu tragen, Respekt für den menschenverachtenden Wahn zu fordern, den man ausgebrütet hat – und sich sofort unterdrückt zu fühlen, sobald irgendwo noch Widerspruch erschallt. Der SPD-Politiker hat auch hier ein Bespiel geliefert für die Millionen von Trolls, die ihm im ganz persönlich modifizierten Wahn folgten. Die Rechtsverschiebung des öffentlichen Diskurses, die allgemeingesellschaftliche „Verrohung“, bilden die Vorstufen zur Barbarei. Dies ist ein breiter gesellschaftlicher Prozess.

Es gibt aber keine Tendenz zur Ausbildung einer einheitlichen rechtsextremen Großideologie, wie sie der Nationalsozialismus hervorbrachte. Stattdessen schwillt eine Vielzahl von Ideologiesplittern an, die im rechtsextremen Hassschwarm, wie er sich im Internet konstituierte (Fluchtpunkt Amok) beliebig kombiniert und modifiziert werden. Jeder Internettroll schleppt seine eigene kümmerliche Kleinideologie mit sich.

Diese Individualisierung des Wahns – besser: seine Molekularisierung – verweist aber auch auf die Unbeständigkeit der Gruppierungen, Parteien und Zusammenhänge, die der Neo-Rechtsextremismus hervorbringt. Auch hier herrschen rasch fluktuierende, schwarmartige Organisationsformen vor, die im Pogrom kulminieren. Die AfD könnte sich genauso als ein Übergangsphänomen erweisen wie Pegida oder die „Mahnwachen“. Das Racket, die lokal agierende Bande, gegebenenfalls in nationalen Netzwerken lose verankert, scheint die präferierte, zukunftsweisende Organisationsform des Rechtsextremismus zu sein. Die zentral gesteuerte, nationale Großpartei, wie der FN in Frankreich, könnte ein rechtsextremes Auslaufmodell zu sein – wie es objektiv und krisenbedingt auch die Nation ist (Die Nation in der Krise).

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