Willkommen in der Postdemokratie

Telepolis, 27.07.2015
Das deutsche Krisendiktat gegenüber Hellas läutet eine dunkle Ära autoritärer Krisenverwaltung in einem erodierenden Europa ein

„Was ist der Unterschied zwischen der Mafia und der gegenwärtigen europäischen Führung? Die Mafia macht dir ein Angebot, das du nicht ausschlagen kannst. Die Führer der Europäischen Union machen dir ein Angebot, das du weder ausschlagen noch annehmen kannst, ohne dicht dabei selbst zu vernichten.“

Es war die Irish Times, die am treffendsten die sadistische Logik des deutschen Diktats charakterisierte, der sich Griechenlands Linksregierung während des berüchtigten Brüsseler Krisengipfels in den Morgenstunden des 13. Juli beugen musste. Die sozioökonomische Vernichtung und Demütigung Griechenlands war das eigentliche Ziel, das Merkel und Schäuble verfolgten.

Sollte Syriza tatsächlich versuchen, dies extremistische Kahlschlagprogramm umzusetzen, mit dem Berlin Hellas in eine Art ökonomisches Protektorat verwandelte, wird die griechische Volkswirtschaft noch weiter abstürzen, ohne dass eine Aussicht auf Besserung bestünde.

Dies wäre auch durch einen – von Schäuble offensichtlich favorisierten – Grexit erreicht worden, bei dem Hellas mittels tätiger Mithilfe der Bundesregierung auf den Status eines Dritte-Welt-Landes abgesunken wäre. Ein anderes als ein katastrophales Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone kann Berlin gar nicht zulassen, da sonst andere krisengeplagte Eurostaaten versucht wären, einen ähnlichen Weg einzuschlagen.

Der deutsche „Bolldozer“ und eine neue EU
Die Empörung über das rabiate Vorgehen Berlins, bei dem der offene Bruch mit Frankreich riskiert wurde, erfasste folglich die Öffentlichkeit so ziemlich aller westlichen „Partner“ der Bundesrepublik. Die Washington Post etwa warnte vor der Rückkehr des „grausamen Deutschen“, bei der ein in Dekaden akkumuliertes politisches Kapital von Berlin binnen kürzester Zeit verspielt wurde. Das US-Hauptstadtblatt zitierte in dem Bericht den französischen Figaro, der das Diktat Berlins folgendermaßen zusammenfasste:

Es sind Bedingungen einem kleinen Mitgliedsland aufgezwungen worden, die früher nur durch Waffengewalt durchgesetzt werden konnten.

Der Britische Guardian bemerkte, das Berliner Diktat sei „grausam um der Grausamkeit willen.“ Sowohl die US-Newssite Bloomberg als auch der britische The Telegraph veröffentlichten Leitartikel, in denen die BRD aufgefordert wurde, aus der Eurozone auszutreten.

Die konservative Zeitschrift Forbes warnte, dass der deutsche Sparsadismus gegenüber Hellas im Endeffekt einen Kriegsgrund darstelle. The Telegraph bezeichnete Griechenland als ein „okkupiertes Land“, in dem grundsätzliche demokratische Spielregeln ausgehebelt werden.

Die bekannte US-Newssite Foreign Policy verglich die Bundesregierung mit einem Bulldozer, der Athen erobert und der „Werte wie Demokratie und nationale Souveränität zertrampelt“ habe, um einen „Vasallenstaat“ zu errichten. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis Deutschland weitere Opfer in dem „monströsen, undemokratischen“ Schuldenturm, zu dem Europa verkommen sei, finden werde:

Welches Land wird als Nächstes drankommen?

Die Zeit fasste die vernichtende Kritik aus Frankreich an dem deutschen Va-banque-Spiel in Brüssel zusammen. Deutschland wurde vom Mitbegründer des linksliberalen Medienportals Mediapart, François Bonnet, als ein „neues Problem“ Europas bezeichnet, dass durch „eine brutale und doktrinäre“ Machtentfaltung „die europäische Kompromisskultur in den Wind schlägt“. Berlin gehe es um nichts anderes als die Etablierung eins neuen, autoritären Europa unter deutscher Führung, so Bonnet:

Mit dem griechischen Exempel wird deutlich, dass Deutschland das Projekt eines offenen, pluralistischen, solidarischen, aber nicht uniformen Europa bekämpft, das den Mitgliedsstaaten bisher weiten politischen Spielraum ließ, ohne den Demokratie nicht möglich ist. (…) Das wird in den kommenden Jahren das europäische Projekt nachhaltig verändern.

Der linksliberale Historiker Emmanuel Todd zog hingegen Parallelen zu den letzten beiden Versuchen Berlins, in Europa eine Hegemonie zu errichten:

Europa ist ein Kontinent, der im 20. Jahrhundert in zyklischer Regelmäßigkeit unter deutscher Führung Selbstmord begeht. Zuerst im Ersten Weltkrieg, dann im Zweiten Weltkrieg (…). Wir sind zweifellos dabei, einer dritten Selbstzerstörung Europas beizuwohnen, und wieder unter deutscher Führung.

Die Irisch Times schlussfolgerte im eingangs erwähnten Artikel, dass die „Peinigung Griechenlands“ durch Deutschland dem Ziel diene, eine Nachricht zu senden: Man sei nun in „einer neuen EU“, die von einer „dominanten Macht“ und einer einzigen „akzeptierten Ideologie“ beherrscht werde. Die Deutschen benehmen sich nicht einmal mehr als Erste unter Gleichen: „Deutschland ist der Erste in einem Europa der Ungleichheit.“

Eine ähnliche Einschätzung der deutschen Motivation für die sadistische Sonderbehandlung Griechenlands lieferte der deutsche Ökonomieprofessor Christian Rieck gegenüber der Washington Post. Die „harte Haltung“ Berlins werde Berlin langfristig von Nutzen sein, da sie beweise, dass Deutschland die Fähigkeit habe, es „zu Ende zu bringen“.

Krieg der Funktionseliten gegen die Demokratie
Es ging Berlin folglich darum, ein Exempel zu statuieren und Angst zu säen. Niemals wieder soll die Bevölkerung eines Krisenlandes es wagen, eine Linksregierung zu wählen, die Deutschlands desaströses Krisendiktat in „seiner“ Eurozone herausfordert. Die Botschaft an die Krisenstaaten Europas war klar: Wer Widerstand leistet und nicht bereit ist, für Deutschlands Größe zu hungern, der wird fertiggemacht und fliegt raus, um als ein gescheiterter Staat Teil des globalen Südens zu werden.

Die Empörung über das deutsche Vorgehen gegenüber Hellas war somit von Berlin einkalkuliert. Alle sollten sehen, wozu Deutschland fähig ist, um hieraus die entsprechenden Schlussfolgerungen zu ziehen – und sich der deutschen Dominanz zu fügen. Den Fallout internationaler Kritik am deutschen Vorgehen, der sich nun über Berlin ergießt, will die Bundesregierung in bester kohlscher Tradition einfach aussitzen. Die neuen antidemokratischen „Spieregeln“ der Eurozone, bei denen Berlin als die entscheidende Machtinstanz der Eurozone fungiert, sollen so mittelfristig durchgedrückt werden und zu einer neuen spätkapitalistischen „Normalität“ avancieren, nachdem sich der kurzfristige Sturm der Empörung legen wird.

Nach dem 13. Juli ist evident geworden, dass man im Fall der Eurostaaten nicht mehr von funktionierenden bürgerlichen Demokratien sprechen kann. Die Entscheidungsfindung des Souveräns über die künftige Wirtschaftspolitik hat keine reellen Auswirkungen mehr, wie es an dem Referendum in Hellas offenbar wurde – stattdessen muss sich die politische Klasse der Eurozonenländer den Weisungen aus Berlin fügen.

Attrappen der Demokratie
Der Begriff Postdemokratie scheint für den gegenwärtigen Zustand angemessen: Die Institutionen der bürgerlichen Demokratie sind noch vorhanden, aber sie stellen bloße Attrappen dar, hinter denen gnadenlose Machtpolitik und eskalierende Krisendynamik ineinandergreifen. Deutschland führt somit auch einen Krieg gegen die Demokratie, wie es an den Reaktionen Schäubles und Merkels auf das Referendum in Griechenland deutlich wurde, die ja die intendierte Demütigung Griechenlands auf die Spitze treiben.

Nicht nur die Interviewäußerungen des geschassten griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis, dem von Schäuble klargemacht wurde, dass Wahlen nichts an Deutschlands Spardiktat ändern dürften, belegen dieses tief sitzende antidemokratische Ressentiment in Deutschlands Funktionselite.

Schäuble habe immer wieder betont, dass er Änderungen an dem beschlossenen Programm nicht diskutieren werde, so Varoufakis. Er habe Schäuble schließlich gefragt, ob es dann nicht besser wäre, Wahlen in verschuldeten Ländern überhaupt nicht mehr abzuhalten, erinnerte sich Varoufakis – er habe vom deutschen Finanzminister keine Antwort hierauf erhalten.

Auch die antidemokratischen Absonderungen der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ), immerhin eines der führenden deutschen Leitmedien, schockieren. Dort hieß es mit Blick auf das griechische Referendum lapidar:

Es gibt ein paar Dinge auf der Welt, wo die Demokratie nichts zu suchen hat. Schulden zum Beispiel.

Hierbei wurde die bizarre schwäbische Hausfrauenökonomie bemüht und ein verschuldeter Häuslebauer, der seine Familie über die Abzahlung der Hypothek abstimmen lässt, mit einer Volkswirtschaft gleichgesetzt.

Der fundamentale Unterschied zwischen einem Individuum und einer in langjähriger Rezession versunkenen Volkswirtschaft, bei der Sparmaßnahmen zu Einnahmeausfällen führen (im Gegensatz zum Häuslebauer), fällt in einem chauvinistisch aufgeladenen deutschen Diskurs, in dem Nationen längst wieder zu Kollektivwesen imaginiert werden, kaum noch auf. Die Intention dieses primitiven ideologischen Konstrukts ist klar: Über Deutschlands Krisendiktat darf in den Krisenstaaten nicht abgestimmt werden.

Offen sprach dies auf eine verlogene Art und Weise die Wochenzeitung Die Zeit aus, die über die deutsche „neue Härte“ jubelte, die „der Gemeinschaft guttut“. Der deutsche Wirtschaftskrieg um die Hegemonie in Europa wurde mit der US-Kriegstaktik „Shock and Awe“ verglichen:

Auch wenn das niemand offen ausspricht: Tsipras’ Niederlage musste so deutlich ausfallen, um potenzielle Nachahmer abzuschrecken. Shock and Awe auf Europäisch, nur ohne Waffen. Besonders fröhlich verließ deshalb der spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy am Montagmorgen das Brüsseler Ratsgebäude.

Der spanische Musterknabe Rajoy
Der erzkonservative spanische Premier Rajoy gilt tatsächlich als einer der engsten Verbündeten Berlins, während seine Rechtsregierung Sozialkahlschlag und Demokratieabbau ins Extrem treibt – ohne das die Bundesregierung, die ansonsten jede Abweichung vom Sparregime in Südeuropa gnadenlos verfolgt, jemals interveniert hätte.

Aushebelung des Versammlungsrechts
Wie weit die Erosion bürgerlich-demokratischer Freiheitsreste vorangeschritten ist, kann gerade am Beispiel dieses deutschen Musterknaben studiert werden, wo drakonische Gesetzesänderungen mit der schweigenden Zustimmung Berlins de facto zur Abschaffung des Demonstrationsrechts und der Redefreiheit führten. Die New York Times schrieb von einem Rückschritt in die „dunklen Tage des Franco-Regimes“.

Der Freitag fasste einige der absurd anmutenden Regelungen zusammen, mit denen offenbar die Entstehung künftiger Protestbewegungen verhindert werden soll:

Unangemeldete Versammlungen und Demonstrationen vor öffentlichen Gebäuden, seien es Krankenhäuser, Verwaltungen oder das spanische Parlament, werden von jetzt an mit bis zu 30.000 Euro geahndet. Protestaktionen innerhalb öffentlicher Gebäude kosten bis zu 600.000 Euro. Wer unautorisiert Bilder oder Videos von Sicherheitskräften verbreitet, muss ebenfalls mit Strafen von über einer halben Million Euro rechnen. … Störungen öffentlicher oder religiöser Veranstaltungen ziehen Geldbußen bis 600.000 Euro nach sich. Spontane Versammlungen auf öffentlichen Straßen oder Plätzen kosten 100 bis 600 Euro.

Trotz der astronomischen Bußgelder handele es sich nur um „Ordnungswidrigkeiten“, was letztendlich auf die Ruinierung der betroffenen Demonstranten abzielt:

Der Rechtsweg im Vorfeld ist damit ausgeschlossen. Das Bußgeld kann höchstens im Nachhinein gerichtlich angefochten werden, sofern der Kläger dann noch liquide ist. Der Gesetzgeber hat die Polizeibeamten quasi mit richterlichen Kompetenzen ausgestattet: Sie fällen das Urteil welche verwaltungsrechtliche Sanktion verhängt wird.

Diese Aushebelung des Versammlungsrechts ist selbstverständlich eine Reaktion auf den Erfolg der Protestpartei Podemos. Es findet somit eine Arbeitsteilung zwischen Berlin und Madrid statt: Während Schäuble an Hellas ein abschreckendes Exempel statuiert, geht Rajoy innenpolitisch gegen die Protestpartei vor.

Die durch die Berliner Krisenpolitik forcierte autoritäre Transformation Europas ist somit keine düstere Zukunftsvision. Sie findet jetzt statt. Das deutsche Diktat des 13. Juli stellt einen offenen qualitativen Bruch dar, der diese autoritären Tendenzen massiv befördern wird.

Das Regime der Angst
Die neue deutsche Härte, die von der Zeit bejubelt wurde, findet sich auch in einer Reaktion der FAZ auf die Kritik an dem brutalen deutschen Dominanzstreben. Deutschland dürfe sich bei seinem dritten Anlauf zur Erringung der europäischen Hegemonie nicht „einschüchtern“ lassen, warnte das konservative Leitmedium. Insbesondere nicht von Gegenkräften, die die „deutsche Geschichte als Munition“ einsetzen:

Man soll also die Kirche im Dorf lassen und das (gespielte?) Erschrecken vor den „neuen“ Deutschen einstellen. Vielleicht wird die Währungsunion künftig tatsächlich stärker als bisher, weil alle wissen, was Sache und, dass die Zeit für Spielereien abgelaufen ist. Dann hätte die deutsche Verhandlungsführung ihren Zweck erfüllt.

Abermals wir hier letztendlich ausgesprochen, dass es Berlin um ein Exempel ging, das an Hellas zu statuieren war, um die Zeit der demokratischen „Spielereien“ in der deutschen Währungsunion zu beenden.

Überwachen und Strafen – auf diesen Nenner brachte der österreichische Standard die deutsche Ideologie, die mit einem „populistischen und nationalistischen Wahn“ in Deutschland einhergehe, „der seinesgleichen sucht“. Berlin wolle einen „neuen Politikstil“ etablieren, ein „Regime der Angst in ganz Europa: Wer ausschert, der wird niedergemacht“.

Das Regime der Angst zielt auf autoritäre Disziplinierung ab – die Zeit, als die Eliten noch versuchten, im Konsens zu regieren, ist vorbei. Der neue Regierungsstil setzt auf Zwang statt Konsens, das ist sein antidemokratischer Kern.

Uns selbstverständlich ist es die schwere Systemkrise (Die Krise kurz erklärt), in der sich der Kapitalismus befindet, die diese autoritäre Wende nun auch in den Zentren des kapitalistischen Weltsystems voll einsetzen lässt. Die Zeit der Gratifikationen, mit denen „Konsens“ erkauft wurde, ist endgültig vorbei, weil die eskalierende Krisendynamik die ökonomischen Möglichkeiten eines Regierens im Konsens zusendest erodieren lässt.

Damit entpuppt sich die kapitalistische Demokratie als eine bloße Schönwetterveranstaltung, die nur in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität den Lohnabhängigen die Illusion von Wahlfreiheit lässt. Das antidemokratische Ressentiment wächst in Krisenzeiten ja gerade in der Mitte der Gesellschaft heran, etwa in den deutschen Redaktionsstuben, wie die obigen Beispiele illustrieren.

Deswegen sind Analogien zu den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, als das kapitalistische Weltsystem seine bis dato schwerste Systemkrise erlebte, durchaus zutreffend. Nationaler Wahn und Demokratieverachtung der „Eliten“ greifen derzeit ebenso rasch in Europa um sich, wie es nach dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1929 der Fall war.

Endlose Kapitalvermehrung
In Krisenzeiten wird auch ersichtlich, wo die Grenzen der Demokratie im Kapitalismus liegen: bei den „Sachzwängen“ des Kapitals. Das Kapital und die „freien Märkte“ stehen selbst in der gegenwärtigen Systemkrise niemals zur Diskussion oder Disposition, weil sie in der herrschenden Ideologie den Charakter von natürlichen Gesetzmäßigkeiten annehmen, die aus unabänderlichen Wesenseigenschafen des Menschen oder der Natur entspringen.

In der kapitalistischen Demokratie werden somit auch in Zeiten der Prosperität nur verschiedene Wege erörtert, den kapitalistischen Selbstzweck der uferlosen Kapitalverwertung (Wachstum!) zu optimieren. Dieser irrationale Selbstzweck der endlosen Geldvermehrung ist axiomatisch allen politischen Entscheidungen und öffentlichen Debatten als eine Art Tabu vorausgesetzt, das tief in die öffentliche Diskurslogik eingebrannt wurde.

Der Bürger darf somit darüber abstimmen, wie das fetischisierte Wirtschaftswachstum angekurbelt, wie weitere „Arbeitsplätze“ geschaffen werden sollen, aber es ist schlicht unmöglich, im Mainstream über Alternativen jenseits von Markt und Kapital selbst in der gegenwärtigen Systemkrise auch nur zu diskutieren – schon eher wird die ehemals Heilige Kuh der kapitalistisch verstümmelten Pseudodemokratie geopfert, als dass die Herrschaft der „Märkte“ auch nur in Zweifel gezogen würde.

Ein ungeheures Identifikationspotenzial
Dabei birgt diese Pseudofreiheit einer Scheindemokratie, in der die Bürger nur über die effizientesten Wege zur Optimierung des als naturwüchsig imaginierten Wirtschaftssystems abstimmen und diskutieren können, ein ungeheures Identifikationspotenzial mit sich. Sobald die Bürger über die konkrete Ausformung, über die Nuancen der unabänderlichen Systemzwänge und Kapitalimperative abstimmen können, setzen bei ihnen Prozesse der Verinnerlichung ein, die zu einer umfassenden Selbstdisziplinierung führen.

Durch die Wahlen wird die Illusion befördert, die durch autoritäre Diskurse vermittelten Imperative der Wirtschaftsmaschinerie würden dem Eigenen subjektiven Willen entsprechen. Und wer würde sich schon dem eigenen Willen nicht unterwerfen wollen? Hiernach ärgert man sich höchstens, dass „die da oben“ eh wieder alles versauen würden.

Aktive Mitwirkung an der Optimierung der Ausbeutungs- und Herrschaftstechniken
In der gegenwärtigen Systemkrise bringt diese kapitalistische Pseudodemokratie eine reale Dystopie hervor, die den Albträumen George Orwells und Aldous Huxleys ebenbürtig ist: Der scheinbar mündige Bürger (in Wirklichkeit ein ohnmächtiges Objekt im heteronomen Prozess der Kapitalverwertung) wählt die Art und Weise, wie seine verstärkte Ausbeutung und Entfremdung konkret zu organisieren und zu vervollkommnen ist. Keine Herrschaftsform ist effizienter, als diejenige, die ihre Herrschaftsobjekte dazu bringen kann, an der Optimierung der Ausbeutungs- und Herrschaftstechniken aktiv mitzuwirken.

Diese Selbstdressur und Verinnerlichung der kapitalistischen Systemimperative, die im öffentlichen Diskurs in Orwellscher Manier als „Demokratie und Freiheit“ tituliert wird, kann in der gegenwärtigen Krise kaum noch aufrechterhalten werden. Das liegt einfach daran, dass es in vielen Ländern keine gangbaren Wege zur Optimierung oder auch nur zur Aufrechterhaltung der Kapitalverwertung gibt, über die in demokratischer Manier mit einer Aussicht auf Erfolg abgestimmt werden könnte.

In der gegenwärtigen Systemkrise, die global ein riesiges Heer „überflüssiger“ Menschen produziert, werden diese Lohnabhängigen aus dem Arbeitsprozess schlicht ausgestoßen und der Verelendung überlassen. Somit verlangt die kapitalistische Krisenlogik – die in Europa mit besonderer Hingabe von Schäuble und Merkel exekutiert wird – schlicht die weitgehende sozioökonomische Marginalisierung des überflüssigen „Menschenmaterials.“ Das Kapital verlangt folglich von den Bürgern etwa in Griechenland, Spanien oder Portugal den ökonomischen Selbstmord, umgesetzt durch immer neue Sparprogramme.

Und eben hier scheint nun die tiefe Absurdität des Referendums in Griechenland auf: Es handelte sich angesichts der deutschen Dominanz in der Eurozone de facto um die Wahl zwischen verschiedenen Formen des ökonomischen Selbstmordes. Grexit in den Failed States oder Schuldknechtschaft – dies war die Wahl, vor der Griechenlands Wähler standen.

In der gegenwärtigen Krise blättert der demokratische Lack an der zunehmend stotternden kapitalistischen Verwertungsmaschine ab, während der barbarische Kern kapitalistischer Vergesellschaftung – die totale Konkurrenz in allen Gesellschaftssphären – immer brutaler und deutlicher zutage tritt. Das Härte predigende Deutschland ist somit letztendlich das Subjekt, das diese autoritären und barbarischen Krisentendenzen auf europäischer Ebene exekutiert. Und auch hier können zum letzten deutschen Griff nach der Weltmacht gezogen werden.

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