Auslaufendes Wunder

Junge Welt, 11.06.2013
Türkische Wirtschaft in schwerem Fahrwasser. Proteste am Bosporus könnten dazu führen, daß die bislang erfolgreich scheinende Defizitkonjunktur zusammenbricht

Läuten die Demonstrationen auf dem Istanbuler Taksim-Platz auch das Ende des türkischen »Wirtschaftswunders« ein? Das aufstrebenden Schwellenland hatte in der vergangenen Dekade stolze Wachstumsraten beim Bruttoinlandsprodukt (BIP; Wirtschaftsleistung) von durchschnittlich fünf Prozent verzeichnet. Nun zeigen die anhaltenden Proteste gegen Staatschef Recep Tayyip Erdogan und dessen Regierungspartei zunehmend auch ökonomische Effekte. Seit Ausbruch der Auseinandersetzungen am 22. Mai ist der wichtigste türkische Aktienindex, der Istanbul Stock Exchange National 100 Index, bis zum 7. Juni um mehr als 15 Prozent gefallen. Allein am 3. Juni verzeichnete die Börse mit Verlusten von 10,5 Prozent den größten Kurssturz sei März 2003. Zudem wuchs die Zinsbelastung des Staates für seine Verbindlichkeiten schnell an: Die Renditen zehnjähriger türkischer Anleihen stiegen allein am vergangenen Donnerstag um acht Prozent. In den zurückliegenden Tagen setzte die türkische Lira ihren Abwärts­trend fort, bei dem sie bereits mehr als acht Prozent gegenüber dem US-Dollar eingebüßt hat.

Dies deutet darauf hin, daß »die Liquidität aus dem Markt verschwunden« sei, erklärte ein Analyst gegenüber dem US-Sender CNN. Es sei ein »eisiger Wind« der nun über der Türkei wehe, titelte das Wall Street Journal (WSJ). Viele Investoren bekämen »kalte Füße« und würden ihr Engagement in dem Land reduzieren. Dabei seien es gerade »Zuflüsse von ausländischem Kapital« gewesen, die zur Verbesserung der Wirtschaftslage am Bosporus beigetragen hätten. Die Proteste kämen zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt, da ein großer Teil der türkischen Bankschulden binnen des nächsten Jahres refinanziert werden müsse. Außerdem könne die Aufnahme billiger Auslandskredite durch ein eventuelles Ende des Schuldenaufkaufprogramms (Quantitative Easing) der US-Notenbank Fed die Lage zusätzlich verschlechtern, über das bereits spekuliert werde, warnte das WSJ.

Die New York Times (NYT) verwies darauf, daß solche Defizitkonjunkturen nicht unbegrenzt fortgesetzt werden können: Es seien nur wenige Wirtschaftswissenschaftler gewesen, die in den vergangenen zwei Jahren warnten, daß die Türkei – wie zuvor Japan, die USA, Spanien oder Irland – einen Boom erfahre, »der auf einem Berg von Schulden« errichtet sei – und der ein »schmerzhaftes Ende« nehmen werde. Dabei weist das Land auf den ersten Blick ein stabiles wirtschaftliches Fundament auf: Das Haushaltsdefizit liegt unterhalb von zwei Prozent des BIP, während die Staatsverschuldung mit rund 40 Prozent des BIP eher moderat scheint. Mitte Mai ließ sich Erdogan noch dafür feiern, die letzte Tranche eines Kredits des Internationalen Währungsfonds (IWF) abgezahlt zu haben und gegenüber dem Fonds schuldenfrei zu sein.

Dieser »Triumph« maskiere aber »einen Anstieg privater Schulden« in der Türkei, bemerkte die Finanznachrichtenagentur Bloomberg. Die Auslandsverbindlichkeiten belaufen sich demnach auf rund 51 Prozent des BIP, wobei sich die Verschuldungsdynamik zuletzt weiter beschleunigt habe. Die Regierung verdiene »Lob für ihre Haushaltsdisziplin«, erklärte ein Finanzanalyst der Agentur, doch sei es offensichtlich, »daß der Privatsektor an ihre Stelle getreten« sei. Die Türkei befinde sich in einem »klassischen Kreditboom«, bei dem »Geld speziell den türkischen Banken nachgeworfen« wurde, so der Ökonom Tim Lee gegenüber der NYT: »Doch an einem Punkt wird der Moment erreicht, wo die Musik zu spielen aufhört.« Diese Abhängigkeit von ausländischen Kreditquellen zeigt sich in einem Leistungsbilanzdefizit (negativer Saldo verschiedener Einzelbilanzen, wie der aus Handel, Kapitalverkehr, Dienstleistungen etc.) in Höhe von rund sieben Prozent des BIP. Dies sei einer der weltweit höchsten Werte, der Erinnerungen an »Spanien und Griechenland vor 2008« wecke, kommentierte die NYT.

In diesem Jahr muß der gesamte private Sektor Schulden im Umfang von umgerechnet 221 Milliarden US-Dollar refinanzieren – was etwa 25 Prozent der Wirtschaftsleistung entspricht. Allein die Auslandsverbindlichkeiten der Banken sind von rund acht Prozent des BIP 2008 auf 14,3 Prozent Ende 2012 geklettert – zwei Drittel dieser Summe stehen nun zur Refinanzierung an. Das enorme Volumen resultiert daraus, daß die exzessive Geldaufnahme vor allem durch kurzfristige, niedrig verzinste Kredite befeuert wird. In Wechselwirkung mit einer niedrigen Sparrate von nur 15,2 Prozent des BIP stelle die Türkei ein von »externen Stimmungsschwankungen« abhängiges Schwellenland dar, bemerkte hierzu das WSJ. Den wichtigsten Frühindikator, der ein Platzen der Schuldenblase (beispielsweise durch einen plötzlich Anstieg uneinbringlicher Ausleihen) andeuten würde, stellt der Kurs der Landeswährung dar. Sobald die Lira über einen längeren Zeitraum stark abwertet, kann eine nachhaltige Absetzbewegung von Kapital aus der Türkei konstatiert werden. Hierdurch könnte eine Kreditklemme entstehen und die Bedienung der bereits vergebenen Auslandsdarlehen würde immer teurer. Bei den größten Finanzimplosionen in der jüngsten Geschichte der Türkei, von 1993 und 2001 handelte es sich laut NYT gerade um solche »Währungsdesaster«, die durch eine »Herdenpanik fliehender Investoren« ausgelöst wurde.

Die Proteste gegen Erdogan könnten den sprichwörtlich letzten Tropfen darstellen, der das türkische Schuldenfaß zum Überlaufen bringt. Zudem meldet der wirtschaftlich bedeutende Tourismussektor ebenfalls erste Einbußen. Gegenüber dem WSJ gaben Hoteliers in Istanbul an, daß bis zu einem Viertel ihrer Reservierungen storniert worden seien. Deviseneinnahmen von umgerechnet rund 26 Milliarden Euro aus dem Bereich konnten im vergangenen Jahr verhindern, daß das Leistungsbilanzdefizit nicht noch größer ausgefallen ist. Es sei »sehr besorgniserregend, daß die Proteste in der Tourismussaison ausbrachen«, erklärte ein Branchensprecher im WSJ.

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