Richter entmachtet

Junge Welt, 12.03.2013
Ungarische Regierung peitscht undemokratische Verfassungsänderungen durchs Parlament. Zur Zerschlagung der Proteste plant Fidesz eigene »Parteigarde«

Nach Ansicht von Gábor Kubatov, dem Generalsekretär der Rechtspartei Fidesz, gibt es in Ungarn immer noch viel zu wenige paramilitärische Formationen. Fidesz müsse die Gründung einer eigenen »Parteigarde« in Angriff nehmen, erklärte Kubatov in einem Rundschreiben an Parteimitglieder. Diese aus Freiwilligen bestehende Formation solle mit der Sicherung von Parteigebäuden und dem Schutz von Parteiveranstaltungen betraut werden, so der Regierungspolitiker.

Mit dieser Initiative zur Gründung einer eigenen »Garde«, die das unüberschaubare Milieu rechter ungarischer Schlägertruppen und Milizen bereichern würde, reagiert Fidesz auf die jüngste Protestwelle in Ungarn. Am vergangenen Donnerstag hatten jugendliche Demonstranten einen friedlichen Sitzstreik vor der Fidesz-Parteizentrale in Budapest durchgeführt, um gegen die von der Regierung von Premier Viktor Orban forcierte Aushöhlung der Gewaltenteilung zu protestieren.

Die von regierungsnahen Medien als »Angriff« bezeichnete Sitzblockade war Teil der Proteste gegen abermalige Verfassungsänderungen, die nach Ansicht von Kritikern zur Entmachtung des ungarischen Verfassungsgerichts führen dürften. Künftig dürfen die Verfassungsrichter beschlossene Gesetze nur noch auf formelle Fehler überprüfen, deren konkreten Inhalt aber nicht mehr bewerten. Überdies soll die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts nur noch auf Grundlage der 2011 von Fidesz verabschiedeten neuen Verfassung erfolgen, die Berufung auf frühere Urteile des Verfassungsgerichts wird so unmöglich. Schließlich wird dem von der Fidesz ernannten »Präsidenten der Nationalen Gerichtskammer« das Recht eingeräumt, bestimmte Streitfälle nach eigenem Gutdünken an andere Gerichte zu transferieren. Dank ihrer Zwei-Drittel-Mehrheit im ungarischen Parlament konnte Fidesz die Änderungen am Montag problemlos verabschieden.

Die Verfassungsrichter hatten sich mit abermaligen Vetos gegen undemokratische Gesetzesvorhaben den Zorn der Regierung Orban zugezogen, die nun die Gelegenheit nutzte, etliche der höchstrichterlich als verfassungswidrig eingestuften Gesetze in den Rang von Verfassungsartikeln zu erheben. Unter anderem bleibt künftig Wahlwerbung in privaten Medien verboten, Obdachlose werden sich weiterhin nicht auf »öffentlichen Flächen« aufhalten dürfen, und die Meinungsfreiheit wird suspendiert werden, sobald die Regierung die »Würde der ungarischen Nation« verletzt sieht.

Parallel zu dieser fortgesetzten Aushöhlung demokratischer Mindeststandards setzt Fidesz vermehrt auf die nationale Karte, indem Konflikte um die ungarischen Auslandsminderheiten bewußt hochgekocht werden: Fidelitas, die Jungendorganisation der Fidesz, organisierte am 7. März eine Demonstration von dem Büro von Amnesty International in Budapest, um gegen die angebliche Diskriminierung von Ungarn in Serbien zu protestieren, die nach Ansicht der Demonstranten von der renommierten Menschenrechtsorganisation nicht wahrgenommen werde. Am 9. März erklärte Staatssekretär Zsolt Nemeth, Budapest werde die »Autonomiebestrebungen« der ungarischen Minderheit der Szekler in Rumänien unterstützen. Etliche regierungsnahe und rechtsextreme Gruppierungen organisierten am vergangenen Wochenende anläßlich des »Tages der Freiheit der Szekler« nationalistische und antirumänische Demonstrationen.

Die »westliche Wertegemeinschaft« hat bislang auf diesen Dammbruch autoritärer und chauvinistischer Tendenzen in Ungarn mit leeren Ermahnungen reagiert. EU-Komissionspräsident zeige sich »besorgt« und forderte Orban bei einem Telefongespräch auf, »in Übereinstimmung mit den demokratischen Prinzipien der EU« zu handeln. Laut dem US-amerikanischen State Department hätten die Verfassungsänderungen »größere Sorgfalt« verdient. Bezeichnend ist auch die Reaktion der Bundesregierung, die eine lauwarme Kritik des Verfassungsputsches in Budapest vom Außenministerium publizieren ließ, während Angela Merkel bei einem Treffen mittelosteuropäischer Regierungschefs in Warschau am 6. März dieses Thema aussparte. Bislang beteuerte Merkel, sie hege »keine Zweifel« daran, daß sich Ungarn auf einem demokratischen Weg befinde.

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