„Junge Welt“, 15.08.2012
Deutscher Leistungsbilanzüberschuß von 210 Milliarden US-Dollar für 2012 prognostiziert. Besonders Ausfuhren in Nicht-EU-Staaten nehmen zu. Kritik an Ungleichgewicht
Deutschlands Exportindustrie verstärkt mit zunehmender Krisenintensität ihre globale Expansionsstrategie. Den Titel des Exportweltmeisters hat die »Deutschland AG« zwar 2009 an die Volksrepublik China verloren. Nun dürfen sich die Lohnabhängigen zwischen Flensburg und München aber darüber freuen, für den Exportüberschußweltmeister bis zum Burnout zu ackern. Laut Berechnungen des Münchener Ifo Instituts für die Financial Times Deutschland (FTD) soll der deutsche Überschuß in der Leistungsbilanz in diesem Jahr auf 210 Milliarden US-Dollar ansteigen. Damit wären wieder die Ungleichheiten erreicht, die kurz vor Krisenausbruch im Jahr 2008 den deutschen Außenhandel prägten.
Die Leistungsbilanz umfasst neben Warenhandel auch den Umsatz mit Dienstleistungen und die Geldüberweisungen. Neuste Zahlen der Bundesbank, laut denen der Überschuß im ersten Halbjahr 2012 um 16 Prozent auf 77 Milliarden Euro gegenüber dem Vorjahreszeitraum anstieg, bestätigen den Trend. Chinas Exportindustrie wird laut Ifo-Prognose einen Überschuß von 203 Milliarden US-Dollar erwirtschaften. Dabei dürfte die Exportzunahme wesentlich dazu beigetragen haben, daß die Bundesrepublik im zweiten Quartal immer noch ein leichtes Wachstum verbuchen konnte, während die Euro-Zone bereits in eine Rezession überging. Gegenüber dem Vorquartal legte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Deutschland um 0,3 Prozent zu. Die Euro-Zone hingegen mußte nach einer Stagnation im ersten Quartal 2012 nun ein Minus von 0,2 Prozent verbuchen. Besonders heftig fiel der Einbruch in den südeuropäischen Krisenstaaten aus, denen ein striktes Spardiktat auferlegt wurde: Das BIP in Italien schrumpfte um 0,7 Prozent, in Spanien waren es 0,4 Prozent.
Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang die geographische Verschiebung des deutschen Exportwachstums. Wegen der Stagnation in Europa verzeichnete es vor allem im außereuropäischen Ausland enorme Zugewinne. In der gesamten EU gingen Deutschlands Ausfuhren im Juni 2012 um 0,5 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat zurück, was maßgeblich auf den Einbruch bei den 17 Euro-Staaten zurückzuführen ist, der drei Prozent betrug. In die übrige EU konnte die BRD ihre Exporte hingegen um 4,5 Prozent steigern. Ein enormes Wachstum von elf Prozent konnte Deutschlands Exportindustrie hingegen bei den Ausfuhren in Drittländer verzeichnen. Im Juni übertrafen sie laut dem Statistischen Bundesamt mit 41,1 Milliarden Euro sogar die Exporte in die Euro-Zone, die sich auf 35 Milliarden Euro beliefen.
Insgesamt legten die deutschen Ausfuhren im Juni gegenüber dem Vorjahr um 7,4 Prozent zu. Der Industrie ist es somit gelungen, die Absatzeinbußen in der Euro-Zone zumindest partiell durch eine Handelsoffensive außerhalb Europas zu kompensieren. Dabei konnten vor allem die Exporte von Investitionsgütern nach China zulegen, das im März sogar ein Handelsdefizit mit der BRD verzeichnete. Deutsche Konzerne fungieren somit im wachsendem Maße als Ausrüster der chinesischen »Werkstatt der Welt«. Für die deutschen Maschinenbauer und die Autobranche – die eine umfangreiche Investitionstätigkeit in China entfaltet – stellt die Volksrepublik bereits den wichtigsten Exportmarkt dar.
Diese exzessive Exportausrichtung der BRD gerät international immer stärker in die Kritik, da die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse automatisch die Defizite der Zielländer sind und so maßgeblich an der Herausbildung der entsprechenden globalen Handelsungleichgewichte. Das Industriekapital der BRD trägt somit aufgrund der erzielten Überschüsse zur Verschuldungsdynamik und Massenarbeitslosigkeit in den Zielländern deutscher Produkte bei. Dieses wurde bei der Ausarbeitung des »Fiskalpaktes« für die Euro-Zone deutlich. Hier gab es Auseinandersetzungen zwischen Berlin und den meisten Euro-Staaten um die Einführung von verbindlichen Sanktionen für Länder, die durch Lohndumping besonders hohe Leistungsbilanzüberschüsse erzielen. Berlin konnte sich durchsetzen. Deutschland droht im kommenden Jahr höchstens eine unverbindliche »Ermahnung« der EU-Kommission.
Die Erfolge der deutschen Exportmaschine jenseits der Euro-Zone wären ohne die gemeinsame Währung nicht möglich. Und sie verleihen den etwa in Italien geäußerten Vorwürfen Plausibilität. Das Land wirft der BRD vor, aus Eigeninteresse die gegenwärtige Krisenkonstellation in Europa zu verlängern. Der deutsche Staat profitiert nicht nur von dem niedrigen Zinsniveau seiner Anleihen, hiesiges Kapital zieht zudem aus dem krisenbedingten sehr niedrigen Euro-Kurs seinen Vorteil, der die Exporte aus der BRD in Länder jenseits der Euro-Zone unschlagbar günstig macht. Den dritten Faktor, der den deutschen Exportwahn beflügelt, bildet selbstverständlich die seit »Rot-Grün« umgesetzte Prekarisierungs- und Verelendungsstrategie, die vermittels der Hartz-IV-Arbeitsgesetze die Lohnabhängigen Deutschlands für die Investitions- und Exportoffensiven deutschen Kapitals bitter zahlen läßt. Der »Wirtschaftsweise« Peter Bofinger umschrieb die Folgen dieser gezielten Lohndumping-Politik diplomatisch gegenüber der FTD: »Die deutsche Binnennachfrage ist viel zu schwach.«
Dabei ist diese exzessive ExportÂausrichtung der deutschen Industrie zum Scheitern verurteilt. Durch seine Leistungsbilanzüberschüsse profitiert die BRD im Endeffekt von Verschuldungsprozessen, ohne sich im selben Ausmaß verschulden zu müssen. Sobald die mit diesen Verschuldungsprozessen einhergehenden Defizitkonjunkturen zusammenbrechen, wird auch die deutsche Exportmaschinerie kollabieren. Die global wieder ansteigenden Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen verweisen somit nur auf die innere Schranke des warenproduzierenden Systems, das aufgrund permanenter Produktivitätssteigerungen nur noch vermittels andauernder Defizitbildung aufrechterhalten werden kann.