Euro am Ende

„Junge Welt“,  28.12.2011
Jahresrückblick 2011. Heute: »Euro-Krise«. Scheitern der Einheitswährung geht mit Entdemokratisierung einher

So langsam können die Europäer Kapitalismus und Krise als Synonyme verwenden. Mit zunehmendem Überdruß mußte die europäische Öffentlichkeit ihre Politelite 2011 dabei beobachten, wie sie bei einer nicht endenwollenden Abfolge von Krisengipfeln an der Eindämmung der europäischen Schuldenkrise scheiterte. Immer wieder verkündeten die Staats- und Regierungschefs der EU nach aufreibenden Verhandlungen den endgültigen Durchbruch bei der Bewältigung der Krise, nur um wenige Wochen später mit einer erneuten Eskalation der Krisendynamik konfrontiert zu werden, die abermals eiligst auf weiteren Gipfeln beschlossene Notmaßnahmen erforderlich machte.

Die Politik stolperte dem Krisengang hinterher und reagierte nur auf die Entwicklung. Immer weiter mußte etwa der EFSF – der »Schutzschirm« der EU für die vom Staatsbankrott bedrohten Staaten – aufgespannt werden, um ein Übergreifen der Schuldenkrise auf weitere EU-Länder zu verhindern. Doch selbst die geplante »Hebelung« des Krisenfonds auf die astronomische Summe von rund einer Billion Euro ist zu klein dimensioniert. Italien und Spanien werden auch künftig unter Druck der »Märkte« bleiben. Zudem werden mit der ständigen Ausweitung des »Schutzschirms« in gewisser Weise die Spekulationspraktiken während der Immobilienblase kopiert.
Spardiktat

Eine sadistische Kontinuität legte Europa bei der Abstrafung der südlichen Mitgliedsländer der Euro-Zone an den Tag. Diese werden durch ein knallhartes Spardiktat in den wirtschaftlichen Zusammenbruch getrieben. Die von IWF, Brüssel und Berlin durchgesetzten Austeritätsprogramme lassen in Südeuropa die staatliche und private Nachfrage einbrechen, was zu einer schweren Rezession führt, die Pauperisierung und letztendlich einen weiteren Anstieg der Verschuldung nach sich zieht. Trotz des offensichtlichen Scheiterns dieser Strategie in Griechenland, das selbst nach dem vereinbarten Schuldenschnitt eine ähnlich hohe Staatsverschuldung aufweisen wird wie vor Beginn der rabiaten »Sparprogramme«, wurde die gleiche Roßkur auch Portugal und Irland verschrieben. Mit voranschreitender Krisendynamik wurde das Spardiktat auch in Ländern wie Spanien und Italien durchgesetzt, bis es spätestens mit dem letzten EU-Krisengipfel auf Betreiben Berlins zur verbindlichen europäischen Politikvorgabe institutionalisiert wurde. Europa spart sich derzeit in die Rezession, mitsamt anschließendem Bankrott.

In diesem Jahr hat sich auch die ideologische Vorstellung eines gemeinsamen »europäischen Hauses« an den eskalierenden nationalen Gegensätzen in der Euro-Zone blamiert. In der Krise wurde deutlich, daß Kapitalismus und Nationalismus untrennbar verwoben sind. Die Krisenpolitik wurde zunehmend von dem dominanten EU-Mächten Deutschland und Frankreich bilateral ausgehandelt und danach den restlichen Euroländern zu Billigung vorgelegt. Dabei verkamen die Institutionen der EU zu einem bloßen Machtmittel dieser beiden Großmächte, mit dem alle Krisenfolgen auf jene südeuropäischen Euro-Länder abgewälzt wurden, die bereits von der Krise voll erfaßt wurden. Für diese Politik kann die Allegorie der sinkenden Titanic gewählt werden, bei der die Passagiere der ersten Klasse diejenigen der zweiten und dritten über Bord werfen, um noch etwas Zeit zu gewinnen – bis sie selbst an die Reihe kommen.

Die zunehmenden Auseinandersetzungen in der Euro-Zone gingen mit einem rasant fortschreitenden Verlust nationaler Souveränität der südeuropäischen Krisenländer einher, die unter eine Art technokratisch verwaltete Schuldknechtschaft gerieten. Berlin und Paris konnten in Griechenland und Italien Regierungswechsel herbeiführen, in deren Gefolge EU-hörige Kabinette an die Macht gelangten, die in blindem Gehorsam die Sparvorgaben aus Brüssel, Paris und Berlin umsetzen. Die Technokratenregierungen manifestieren auch eine den gesamten Kontinent erfassende Tendenz zur Einschränkung demokratischer Handlungsspielräume. Die europäischen Staaten werden derzeit einer Diktatur des ökonomistischen Sachzwangs unterworfen, bei der sich alle Gesellschaftsbereiche den Erfordernissen der kriselnden Kapitallogik anpassen sollen: Sozialkahlschlag, Lohnraub und Prekarisierung werden mit zunehmender Krisenentfaltung als alternativlose Vorgaben der »Märkte« wahrgenommen, die von der Politik nur noch exekutiert werden können.

Die Aushöhlung staatlicher Souveränität und der Abbau demokratischer Rechte bilden auch das Fundament des »deutschen Europa«, das auf dem letzten diesjährigen EU-Gipfel geformt wurde. Deutschlands Exportindustrie gelang es in den vergangenen Jahren, dank gnadenlosem Sozialkahlschlag in der Bundesrepublik durch extreme Handelsüberschüsse von der Verschuldung in der Euro-Zone zu profitieren. Seit der Euro-Einführung konnte die BRD einen gigantischen Leistungsbilanzüberschuß von 770 Milliarden Euro erwirtschaften. Diese auf dem Rücken der Lohnabhängigen errungene wirtschaftliche Dominanz wandelte die deutsche Regierung nun in einen politischen Führungsanspruch in Europa um. Berlin konnte sich bei der forcierten Änderung der EU-Verträge in nahezu allen Streitpunkten durchsetzen und eine auf »mehr Kontrolle, mehr Disziplin und härteren Strafen« (Welt online) basierende Währungs­union formen. Zentral ist hierbei der Sparzwang, die bindende Verpflichtung zur Vorlage ausgeglichener Staatshaushalte, wie auch die Abtretung von Souveränitätsrechten an EU-Institutionen, die künftig den EU-Staaten ihre Finanzpolitik diktieren werden. Alle Länder der EU werden somit bald das Ausmaß an Entmündigung erfahren, dem derzeit Griechenland, Portugal oder Italien ausgesetzt sind. Die einzige Ausnahme bildet hierbei Großbritannien, das sich aufgrund der geplanten Finanzmarktregulierung dem deutsch-französischen Diktat widersetzte.
EU erodiert

Das gegenwärtige Abdriften Großbritanniens dürfte nur einen ersten Markstein in der sich abzeichnenden Erosion der EU darstellen. Das maßgeblich von Berlin geformte repressive Fundament aus Solidaritätsverbot und Sparzwang, auf dem das »deutsche Europa« errichtet werden soll, ist in höchstem Maße instabil. Sollte die deutsche Führung weiterhin bei ihrer Ablehnung von Euro-Bonds oder massiven Aufkäufen von Staatsanleihen durch die EZB bleiben, dann werden Spanien und Italien mittelfristig in den Staatsbankrott getrieben. Dies würde die Euro-Zone und schließlich auch die EU sprengen. Zusätzlich destabilisierend wirkt sich auch die EU-weit verordnete Sparpolitik aus, die zur Vertiefung der nun in Europa einsetzenden Rezession beiträgt und somit Haushaltskonsolidierung mitsamt etwaigem Schuldenabbau vollends illusionär machen wird.

Dabei bildet die Euro-Zone nur den gegenwärtigen Brennpunkt einer fundamentalen Systemkrise der gesamten kapitalistischen Welt, die ohne fortwährende Verschuldung nicht mehr reproduktionsfähig ist. Die in den vergangenen Jahren aufgetürmten Schuldenberge hielten ein System aufrecht, das aufgrund fortgesetzter Rationalisierungsschübe an seiner eigenen Hyperproduktivität erstickt, die kaum noch ins morsche Korsett der kapitalistischen Produktionsverhältnisse gezwängt werden kann. Rückblickend betrachtet war die EU-Integration selbst ein Reflex auf diese Krise. Das »Europäische Haus« wurde spätestens seit der Euroeinführung auf einem beständig wachsenden Schuldenberg errichtet, der bis zum Platzen dieser Schuldenblase allen Beteiligten die Illusion gab, an einer allgemein vorteilhaften Entwicklung beteiligt zu sein. Damit ist es nun vorbei: Mit ihrer wahnhaften Fixierung auf brutale Sparprogramme zwingt die Bundesregierung die EU auf einen rigiden Sparkurs, der diesen Verschuldungsprozeß kappt und eine globale Depression, vor der die IWF-Chefin Christine Lagarde jüngst bereits warnte, sehr wahrscheinlich macht.

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