german-foreign-policy, 05.12.2011
Vor dem heutigen deutsch-französischen Gipfeltreffen droht Bundeskanzlerin Angela Merkel mit der definitiven Spaltung der Europäischen Union. Sollte es zu Widerstand gegen geplante Änderungen der EU-Verträge kommen, würden entsprechende Abkommen eben innerhalb der Eurogruppe durchgesetzt, kündigt Merkel an. Die deutschen Pläne beinhalten insbesondere sogenannte Durchgriffsrechte, die die Souveränität der betroffenen Staaten im Kernbereich staatlichen Handelns außer Kraft setzen – in Haushaltsfragen. Eine wachsende Zahl hochrangiger Politiker und einflussreicher Medien in immer mehr EU-Staaten äußern harte Kritik an den Berliner Finanzdiktaten. Die Bundesregierung drohe die gesamte Eurozone in die Krise zu reißen, warnt der scheidende spanische Regierungschef Zapatero. Die britische Tageszeitung „The Times“ urteilt, Deutschland habe faktisch mit der „Unterwerfung fremder Völker“ begonnen. Auch deutsche Medien benennen offen die deutsche Hegemonie. Sollte es gelingen, den Euro zu retten, dann „wird Europa deutscher werden“, heißt es in einer großen Tageszeitung: „Mehr Kontrolle, mehr Disziplin und härtere Strafen.“
Spaltung der EU
In ihrer Regierungserklärung Ende letzter Woche hat Bundeskanzlerin Angela Merkel die deutsche Bevölkerung auf harte Zeiten und die Staaten Europas auf die deutsche Hegemonie eingestimmt. Die parlamentarische Aussprache fand im Vorfeld des deutsch-französischen Gipfeltreffens am heutigen Montag statt, auf dem Merkel und Sarkozy die zwischen beiden Regierungen ausgehandelten Reformpläne für die EU-Verträge der europäischen Öffentlichkeit vorstellen wollen. „Wer sich ihrer Taktik nicht fügt, bleibt auf der Strecke“, fasste das größte deutsche Nachrichtenportal die brachiale Durchsetzung der von Merkel vorgegebenen Linie zusammen.[1] In Europa gebe „Kanzlerin Merkel den Kurs vor“.[2] In ihrer Regierungserklärung forderte Merkel, die Krisenpolitik mit einem langwierigen und entbehrungsreichen „Marathonlauf“ vergleichend, zum wiederholten Male die Umgestaltung der Europäischen Union gemäß deutschen Interessen. Die in Europa anschwellenden Warnungen vor deutscher Dominanz nannte sie „abwegig“, um wenig später für den Fall von „Widerstand gegen die Änderungen der EU-Verträge“ eine Spaltung der Europäischen Union anzudrohen, bei der „neue Verträge innerhalb der Euro-Gruppe geschaffen“ würden: „Es führt kein Weg daran vorbei, die europäischen Verträge zu ändern oder – das wäre die zweitbeste Lösung – neue Verträge innerhalb der Euro-Gruppe zu schaffen.“[3]
Durchgriffsrechte
Merkel stellte dabei abermals klar, dass verschuldete Euro-Staaten künftig auf ihre Souveränität in zentralen Haushalts- und Finanzfragen verzichten müssen: „Regeln müssen eingehalten werden; ihre Einhaltung muss kontrolliert werden; ihre Nichteinhaltung muss Konsequenzen haben“ – und zwar „ohne Wenn und Aber“.[4] Um entsprechende Sanktionsmechanismen schnellstmöglich zu installieren, kursieren in Berlin inzwischen konkrete Ideen; sie sehen bilaterale Abkommen unter Umgehung der bisherigen EU-Regeln vor. Bis zum Jahresende soll ein entsprechendes, von Berlin und Paris ausgearbeitetes Vertragswerk vorliegen und den Staaten Europas oktroyiert werden.[5] Die Neuausrichtung der EU sieht entsprechend den bekannten deutschen Forderungen eine „europäische Schuldenbremse“ ohne „politischen Spielraum“, eine strenge Haushaltskontrolle der Eurostaaten samt „Durchgriffsrechten“ europäischer Institutionen sowie automatische Sanktionen gegen sogenannte Schuldensünder vor.[6] Zudem verlangt Merkel die Umsetzung von „weiteren Strukturreformen insbesondere im Arbeitsrecht der Mitgliedstaaten“; im Endeffekt läuft dies darauf hinaus, die in Deutschland unter den Schlagworten „Agenda 2010“ und „Hartz IV“ bekannten Regularien durchzusetzen, die Arbeitszwang beinhalten und erhebliche Bevölkerungsteile in Verelendung treiben.
Budgetdisziplin
Kurz zuvor hatte der französische Präsident Nikolas Sarkozy in einer Rede an die Nation sein Einschwenken auf die deutsche Linie bekräftigt. „Der Vertrag von Maastricht hat sich als mangelhaft herausgestellt“, erklärte Sarkozy über das Vertragswerk, das 1999 die Einführung des Euro regelte.[7] Er schloss sich den deutschen Forderungen nach „automatischen, schneller wirkenden und schärferen Sanktionen“ für verschuldete Staaten an: „Wenn man mehr Solidarität will, braucht man mehr Budgetdisziplin.“[8] Deutschland und Frankreich würden künftig im „Zentrum einer Stabilitätsunion in Europa stehen“, die ein „Zeitalter der Entschuldung“ zu bewältigen habe. Sarkozy kündigte auch harte Sparmaßnahmen und Reformen nach deutschem Vorbild an. Hierbei kritisierte er insbesondere die 35-Stunden-Woche und das angeblich zu niedrige Renteneintrittsalter in Frankreich.
Deutsche Gussform
Damit setzt der französische Staatschef seine Politik der Unterordnung unter die deutschen Pläne fort. „Ob Euro-Bonds, die Rolle der Europäischen Zentralbank (EZB) – immer wieder ging Sarkozy vor der Berliner Kanzlerin in die Knie,“ bilanziert ein einflussreiches deutsches Nachrichtenportal.[9] Im Pariser Establishment regt sich inzwischen zunehmend Kritik an Sarkozys Kurs. Die Vorsitzende der französischen Sozialisten, Martine Aubry, wirft ihm öffentlich die „Kapitulation vor Deutschland“ vor. Der Linkspolitiker Jean-Pierre Chevènement klagte, Sarkozy schmiege sich „in die extrem starre deutsche Gussform. Das führt uns geradewegs in die Katastrophe.“[10] In dem französischen Magazin „Marianne“ wurde Sarkozy als ein Politiker bezeichnet, der „mit ängstlichem Blick auf die Rating-Agenturen“ nichts andere tue, „als sich an unserem deutschen Nachbarn“ zu orientieren.[11] Der Unmut über Deutschlands Dominanz erstreckt sich auch auf Regierungskreise. Gegenüber der Zeitung „Le Monde“ klagte ein französisches Regierungsmitglied: „Die Deutschen dominieren alles. Wir warten auf ihre Entscheidungen, ohne dass wir Einfluss auf die Ereignisse haben.“[12] Jacques Attali, Ökonom und längjähriger Berater des französischen Präsidenten François Mitterrand, formulierte eine deutliche Warnung vor den drohenden Folgen deutscher Dominanz: „Europa hat sich zweimal selbst umgebracht während der beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert. Heute ist es wieder Deutschland, das die Waffe für den kollektiven Selbstmord in der Hand hält.“[13]
Va Banque
Dabei regt sich angesichts des deutschen Griffs nach der Hegemonie in Europa – und der damit verbundenen Blockadehaltung gegenüber jeglicher Unterstützung für verschuldete Staaten – nicht nur in Frankreich zunehmend Unmut. Die Krise erfasst, gefördert durch das Va Banque-Spiel Berlins, längst auch Kernländer der Eurozone. Vor einer daraus resultierenden „Katastrophe“ warnte auch Polens Finanzminister Jacek Rostowski, der langfristig sogar neue Kriege in Europa nicht ausschließen wollte.[14] Der spanische Regierungschef Zapatero wandte sich kurz vor seiner Abwahl mit einem dramatischen Appell an Berlin, endlich durch Anleiheaufkäufe der Europäischen Zentralbank (EZB) „die gemeinsame Währung zu verteidigen“. Deutschland ziehe zwar „gewisse Vorteile“ aus der gegenwärtigen Situation, doch drohe die „gesamte Euro-Zone (…) von der Krise“ erfasst zu werden – „einschließlich Deutschlands“. Forderungen nach mehr EZB-Aufkäufen wurden auch von der britischen Regierung mehrmals eindringlich erhoben.[15] Heftige Auseinandersetzungen um die Änderung der EU-Verträge lieferte sich Merkel auch mit dem britischen Premier Cameron. Die britische Zeitung „The Times“ sprach gar von einem „Krieg“, den Berlin der Eurozone erklärt habe und der auf die „Unterwerfung fremder Völker“ abziele.[16] Heftige öffentliche Kritik an der Blockadehaltung Deutschlands übten auch Kommissionschef Barroso, der Vorsitzende der Eurogruppe Jean-Claude Juncker und die OECD.[17]
Technokratenkabinette
Tatsächlich ist die deutsche Dominanz in der EU im Laufe der letzten Wochen und Monate dramatisch gestiegen. Berlin entscheidet mit seiner Blockadepolitik in Sachen Euro inzwischen de facto über den Fortbestand von Regierungen in der südlichen Peripherie der Eurozone: Ebendiese Blockadepolitik war maßgeblich für den Sturz der gewählten Regierungen in Italien und Greichenland verantwortlich, die durch gegenüber Berlin und Brüssel hörige Technokratenkabinette ersetzt wurden. Die Methode, mit der diese Regierungen installiert wurden, bezeichnete die Zeitschrift Businessweek jüngst als „Einmischung durch Unterlassung“: „Der schnelle Fall von Regierungen in der Eurozone demonstriert den enormen Einfluss, den Deutschland und die EZB über souveräne Nationen errungen haben. Durch das Zurückhalten von Geld, das zur Wiedergewinnung des Vertrauens in die Finanzen der strauchelnden Länder benötigt wird, haben sie dabei geholfen, die Führer Griechenlands, Italiens und (…) Spaniens zu stürzen, zugunsten von Regierungen, die auf Austerität fokussiert sind.“[18] Tatsächlich deutet einiges darauf hin, dass die EZB in jüngster Zeit die Wahrung eines hohen Zinsniveaus bei den europäischen Schuldenstaaten fördert. Gerade in derjenigen Woche, als der langjährige EU-Funktionär Mario Monti aufgrund eines eskalierenden italienischen Zinsniveaus auf den Posten des italienischen Regierungschefs gehievt wurde, beliefen sich die Anleiheaufkäufe der europäischen Notenbanken auf nur 4,5 Milliarden Euro – in der Vorwoche waren es noch 9,5 Milliarden gewesen.[19]
Der Wahn der Deutschen
Das Berliner Hegemonialstreben wird inzwischen in deutschen Medien offen bejubelt. So schrieb die „Süddeutsche Zeitung“, in der Euro-Krise hänge nun alles von Deutschland ab: „Die Bundesrepublik könnte in Europa wirtschaftlich das werden, was Amerika immer noch für die Welt ist: unvollkommene, ungeliebte, aber entscheidende Macht. Jetzt muss Deutschland führen, und Merkel ist dazu bereit.“[20] In Europa regiere jetzt „Angela Merkels harte Hand“, jubelte die Online-Ausgabe der Tageszeitung Die Welt: „Klar ist: Wenn die gemeinsame Währung weiter bestehen sollte – und die Chancen dafür stehen nicht so schlecht -, wird Europa deutscher werden. Mehr Kontrolle, mehr Disziplin und härtere Strafen.“[21] Angesichts dieses ungeschminkt angemeldeten Herrschaftsanspruchs und einer damit einhergehenden chauvinistischen Welle werden inzwischen warnende Stimmen laut. „Merkel hat Deutschland mit ihrer Politik in Europa isoliert“, urteilt der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt und vergleicht das Agieren der Bundesregierung mit „der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg“.[22] Der „Wahn der Deutschen, sich aufzuspielen“, urteilt Schmidt, „macht mir wirklich Sorgen“.
Ein einfacher Deal
Indes scheint die Machtpolitik Berlins eher auf knallhartem Kalkül denn auf Wahnvorstellungen zu beruhen. Beobachter halten es für möglich, dass Merkel ihre Blockadehaltung gegenüber Eurobonds oder unbegrenzten Anleiheaufkäufen durch die EZB aufgibt, sobald die Änderungen der EU-Verträge gemäß deutschen Vorstellungen durchgesetzt sind. Die französische Zeitung „Le Canard Enchainé“ zitierte eine entsprechende Äußerung Sarkozys: „Das Tauschgeschäft ist eher einfach: Das Ende des EZB-Dogmas gegen absolute Einhaltung der Haushaltsdisziplin.“[23] Merkel selbst lässt sich diese Hintertür offen, indem sie immer wieder betont, die EZB müsse unabhängig bleiben. Selbstverständlich könnte die EZB, wenn die Deutschen die Umstrukturierung der EU durchgesetzt haben, die Notenpresse anwerfen – formal aus freien Stücken. Berlin jedoch wird das nur zulassen und damit die Eurozone „retten“, wenn es über sie herrschen kann.
Weitere Berichte und Hintergrundinformationen zur Euro-Krise finden Sie hier: Die deutsche Transferunion, Die Germanisierung Europas, Teilsieg für Deutsch-Europa, Aus der Krise in die Krise, Steil abwärts, Alles muss raus!, Im Mittelpunkt der Proteste, Der Wert des Euro, Die Widersprüche der Krise, Der Krisenprofiteur, In der Gefahrenzone, Erkenntnisse einer neuen Zeit, Souveräne Rechte: Null und nichtig, Die Folgen des Spardiktats, Auf Kollisionskurs, Europa auf deutsche Art (I), Europa auf deutsche Art (II), Ausgehöhlte Demokratie, Jetzt wird Deutsch gesprochen und Ein imperiales System.
[1] Merkel verschärft Tempo im Rettungs-Marathon; www.spiegel.de 02.12.2011
[2] Geangel der Euro-Sanitäter; www.spiegel.de 01.12.2011
[3], [4] Merkel fordert „neue europäische Schuldenbremse“; www.faz.net 02.12.2011
[5] Planspiele für neuen Stabilitätspakt; www.spiegel.de 26.12.2011
[6] s. dazu Jetzt wird deutsch gesprochen
[7] Sarkozy will mit Merkel Europa reformieren; www.tagesschau.de 01.12.2011
[8] Berlin und Paris übernehmen die Führung; www.faz.net 02.12.2011
[9] Gerangel der Euro-Sanitäter; www.spiegel.de 01.12.2011
[10] Anschmiegsam in der „deutschen Gussform“? www.tagesschau.de 02.12.2011
[11] Geangel der Euro-Sanitäter; www.spiegel.de 01.12.2011
[12] Warnungen vor deutscher Hegemonie; www.faz.net 25.11.2011
[13] Die französische Angst vor einem „deutschen Europa“; www.welt.de 28.11.2011
[14] Polen fürchtet Euro-Katastrophe; www.n-tv.de 21.11.2011
[15] Gerangel auf der Titanic; www.konicz.info/?p=1920
[16] „Deutschland hat der Euro-Zone den Krieg erklärt“; www.welt.de 23.11.2011
[17] OECD rügt Berliner Blockadekurs; www.spiegel.de 02.12.2011
[18] Germany Should Take Wisdom From Keynes Instead of Weimar: View; www.businessweek.com 21.11.2011
[19] Gerangel auf der Titanic; www.konicz.info/?p=1920
[20] Es gibt drei Modelle; www.sueddeutsche.de 25.11.2011
[21] Jetzt regiert Angela Merkels harte Hand in Europa; www.welt.de 28.11.2011
[22] Helmut Schmidt macht „Wahn“ der Deutschen Sorgen; www.welt.de 02.12.2011
[23] Merkel verschärft Tempo im Rettungs-Marathon; www.spiegel.de 02.12.2011