„Junge Welt“, 20.10.2011
Bericht über Zwei-Billionen-Euro-Rettung
Wer bietet mehr? Kurz vor dem Wer-weiß-wievielten Euro-Krisengipfel wurde der europäische Blätterwald von einem wilden Spekulationsfieber ergriffen. Die Financial Times Deutschland spricht von einer »Hebelung« des Euro-Krisenmechanismus EFSF auf eine Billion Euro, auf die sich Merkel und Sarkozy geeinigt haben sollen, der britische Guardian erhöhte auf zwei Billionen. Bis Redaktionsschluß wurden weitere Angebote nicht bekannt.
Ab einem gewissen Schwellenwert werden die Summen, mit denen die Krisenpolitik derzeit hantiert, unvorstellbar. Welchen Bezug haben Beträge mit zwölf Nullen zur Lebenswirklichkeit jener Bevölkerungsmehrheit, die mit permanenten Verzichtsforderungen und sozialen Erosionsprozessen konfrontiert ist? Hilft es, zwei Billionen Euro auf rund 570 Millionen Hartz-IV-Monatssätze umzurechnen, ohne daß dies absurd wirkt? Vor allem: Glaubt noch jemand von den Beteiligten, daß diese Schulden jemals beglichen werden?
Die grotesken Dimensionen besagen, daß die Verschuldungsprozesse an ihre Grenzen stoßen. Sie fungierten jahrzehntelang als Konjunkturtreibstoff der Weltwirtschaft. Das Limit dieser alle Gesellschaftsbereiche umfassenden und auf den Finanzmärkten realisierten Schuldenmacherei ist dann erreicht, wenn ein kritischer Anteil der Marktteilnehmer sich der Absurdität des Unterfangens bewußt wird. In diesem Moment kann es schnell gehen: Lawinenartige Flucht- und Spekulationsbewegungen dürften dann zur berüchtigten »Kernschmelze« des Weltfinanzsystems führen, die 2008 durch staatliche Verschuldungsprozesse hinausgezögert wurde.
Von Marx ist die Auffassung überliefert, ein Gesellschaftssystem gehe nie unter, bevor es alle Entwicklungsmöglichkeiten ausgeschöpft habe. Wir werden gerade Zeuge von Bemühungen der kapitalistischen Funktionseliten, die Agonie »ihres« Systems zu prolongieren. Ironischerweise nähern sich die verantwortlichen Politiker hierbei den zügellosen Spekulationspraktiken jener Finanzmarkt-»Heuschrecken« an, die jahrelang die Verschuldungsdynamik im Immobiliensektor bestimmten. Die »Hebelung« des EFSF soll durch Kreditversicherungen auf Staatsanleihen erfolgen – ähnlich den Absicherungen fauler Hypotheken, die in den Immobilienblasen den Marktteilnehmern Sicherheit vorgaukelten. Bis die Kreditversicherer pleite gingen.
Sollte die »Hebelung« des EFSF politisch durchgesetzt werden, könnte tatsächlich der Verschuldungsprozeß in der Euro-Zone länger aufrechterhalten werden. Der unvermeidliche Crash wird einsetzen, wenn die Staaten als die Kreditversicherer letzter Instanz ausfallen. Diese verzweifelte und abenteuerliche »Heuschreckenpolitik« wird witzigerweise von Staatsführern durchgesetzt, die derzeit gern in die allgemeine Empörung über die Finanzmärkte einstimmen. Für die Linke wird es höchste Zeit, ernsthaft über grundlegende SystemÂalternativen zum Krisenwahnsinn nachzudenken und sie in die öffentliche Debatte zu bringen.