Erkenntnisse einer neuen Zeit

german-foreign-policy, 02.09.2011
Mit Besorgnis registrieren US-amerikanische Leitmedien das immer offenere deutsche Dominanzstreben in der EU. Zur Bewältigung der Euro-Krise versuche Berlin „seinen Willen in der europäischen Politik in einer Weise durchzusetzen, wie es dies nie zuvor getan“ habe, heißt es in einem aktuellen Überblicksartikel in der New York Times. Anlass sind die deutschen Diktate in Sachen „Schuldenbremse“ ebenso wie etwa die Forderung, Kreditempfänger müssten ihre Haushaltssouveränität preisgeben. Inzwischen drohen zudem eine wachsende Anzahl von Bundestagsabgeordneten, den von der EU beschlossenen Europäischen Krisenmechanismus EFSF zu Fall zu bringen – ein schwerer Schlag für die vom Staatsbankrott bedrohten Länder. Der Streit zwischen Deutschland und der Mehrzahl der Euro-Staaten erstreckt sich über ein kaum noch zu überblickendes Themenspektrum, das von der Frage, ob „Eurobonds“ eingeführt werden sollen, über die EZB-Geldpolitik und die Durchsetzung einer restriktiven Etatpolitik bis hin zur Forderung nach gravierenden Kürzungen bei den Sozialausgaben reicht. Inzwischen stellen Teile des Berliner Establishments sogar zentrale Elemente der „europäischen Integration“, etwa den Euro, in Frage.

Vetorecht für Deutschland

Die Auseinandersetzungen um die deutsche Politik in der Euro-Krise spitzen sich zu. Kurz nach der Zustimmung des Kabinetts zur Ausweitung des Europäischen Krisenmechanismus EFSF (European Financial Stability Facility) sind einflussreiche Parlamentarier aus den Regierungsfraktionen mit der Forderung an die Öffentlichkeit getreten, in der entsprechenden Bundestagsabstimmung den Fraktionszwang aufzuheben. Wolfgang Bosbach (CDU) erklärt, es handele sich um eine „Entscheidung von fundamentaler Bedeutung“, bei der jeder Abgeordnete „nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden“ müsse.[1] Mehrere Abgeordnete aus CDU und FDP machten ihre Zustimmung von umfassenden Mitspracherechten des Bundestages bei künftigen EFSF-Rettungsaktionen abhängig – bis hin zu einem deutschen Vetorecht. FDP-Generalsekretär Christian Lindner erklärt: „Das ist für uns wesentlich, weil es sicherstellt, dass Hilfen einen Ultima-ratio-Charakter behalten und dass Hilfen in Europa nicht gegen Deutschland beschlossen werden können.“[2] Inzwischen kursieren Berichten zufolge im Bundestag die Namen von 23 Koalitionsabgeordneten, die der Regierung die Gefolgschaft verweigern wollen. Damit wäre das Kabinett Merkel ohne Mehrheit. Die offene Rebellion in Teilen der Regierungskoalition wird von konservativen Leitmedien wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder vom einflussreichen Springer-Verlag unterstützt, die neue finanzielle Verpflichtungen ablehnen. Die Ausweitung des EFSF ginge mit einer Erhöhung der entsprechenden Staatsgarantien von 440 Milliarden Euro auf 780 Milliarden einher; der deutsche Anteil würde sich von 123 Milliarden auf 211 Milliarden Euro vergrößern.

Souveränität preisgeben

Der eskalierende Streit in der Bundesregierung findet seine Entsprechung in Auseinandersetzungen in den großen Wirtschaftsverbänden. Ende August erneuerte Anton Börner, Präsident des Außenhandelsverbandes BGA, seine Forderung nach der Einführung von gemeinsamen Anleihen in der Euro-Zone („Eurobonds“) [3]: Nur mittels dieses „starken Signals“ könnten die Finanzmärkte beruhigt werden. Andernfalls drohe eine Eskalation der Schuldenkrise, die zu „einer Rezession, im schlimmsten Fall zu einer weltwirtschaftlichen Depression“ führen könne. Der Außenwirtschaftsexperte des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Volker Treier, sprach sich hingegen klar gegen Eurobonds aus. Sie würden eine „unsolide“ Haushaltspolitik in der Euro-Zone befördern; erst wenn die von der Pleite bedrohten Staaten bereit seien, ihre haushaltpolitische Souveränität preiszugeben, könne man über die Einführung von Eurobonds reden.[4]

Die Welt des 21. Jahrhunderts

Der harte Kurs der Bundesregierung, der mit ungeschminkter Dominanz über die EU verbunden ist und auch darüber hinaus mit verstärkten Großmachtbestrebungen einhergeht (german-foreign-policy.com berichtete [5]), bildet den Hintergrund für die jüngsten Angriffe zweier Ex-Kanzler gegen die Regierung Merkel. Die „Westbindung“ Berlins habe jahrzehntelang zum Fundament bundesdeutscher Außenpolitik gehört; die aktuelle Entwicklung werfe jedoch die Frage auf, „wo Deutschland heute eigentlich steht und wo es hin will“, schrieb Helmut Kohl in einem Beitrag für die Zeitschrift Internationale Politik: „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht alles verspielen. Wir müssen dringend zu alter Verlässlichkeit zurückkehren“. Helmut Schmidt schloss sich seinem Amtsnachfolger an: „Für mich ist der Kernsatz in Kohls Kritik: Man muss sich auf die Deutschen verlassen können. Und das ist gegenwärtig weder in Paris noch in London noch in anderen Hauptstädten in Europa der Fall“.[6] Außenminister Guido Westerwelle räumte indirekt eine Neuausrichtung der deutschen Außenpolitik ein: „Für uns ist nicht nur entscheidend, dass wir alte Partnerschaften pflegen, Freundschaften vertiefen, sondern in der Welt des 21. Jahrhunderts ist es auch notwendig, die neuen Kraftzentren der Welt ernst zu nehmen und neue strategische Partnerschaften aufzubauen.“ Hierbei soll es sich laut Westerwelle allerdings nicht um einen „Kurswechsel“, sondern um die „schlichte Erkenntnis einer neuen Zeit“ handeln.[7]

Ökonomische Verschiebung

Die in der Euro-Krise deutlich zutage tretende rücksichtslose Durchsetzung deutscher Interessen in der EU wird im Ausland aufmerksam rezipiert. Seit seiner wirtschaftlichen Erholung 2010 fühle sich Deutschland frei, „seinen Willen in der europäischen Politik in einer Weise durchzusetzen, wie es dies nie zuvor getan“ habe, urteilt etwa die New York Times.[8] Dabei würden Deutschlands „nationale Interessen – und sogar die politischen Interessen seiner Anführer – vor die Einheit“ Europas gestellt, die Berlin zuvor so lange gefördert habe. Die New York Times schreibt diese Umorientierung ökonomischen Ursachen zu. Da weite Teile Europas in Stagnation verharrten und „mit einer Schuldenkrise konfrontiert“ seien, habe Deutschland verstärkt sein „Geld und seine Energie außerhalb der Eurozone eingesetzt, um sein robustes Wachstum anzutreiben“.[9] Die Eurozone bleibe zwar weiterhin der wichtigste Markt der deutschen Exportindustrie, doch sinke ihr Anteil beständig. Diese „ökonomische Verschiebung“ habe „wichtige Konsequenzen“ innerhalb Europas: „Während Deutschland weniger abhängig von den Märkten der Eurozone ist, gibt es Anzeichen dafür, dass es auch strikter mit seinen angeschlagenen Partnern wie Griechenland, Italien und Portugal umgeht, was den Druck auf die ohnehin angespannte Europäische Union verstärkt.“

Nach deutschem Modell

Der aus der der rasch voranschreitenden Krisendynamik resultierende Druck innerhalb der EU entlädt sich in immer neuen Angriffen deutscher Spitzenpolitiker auf EU-Institutionen und -Mitgliedstaaten. Jüngst griff Bundespräsident Christian Wulff die Europäische Zentralbank (EZB) in ungewöhnlich scharfer Form an. Er forderte die EZB auf, die Aufkäufe von Staatsanleihen zur Stützung der südeuropäischen Schuldenstaaten rasch einzustellen. Wulff nannte diese oftmals als „Quantitative Easing“ bezeichnete Praxis „rechtlich bedenklich“.[10] Ähnlich argumentierte gestern Bundesbankpräsident Jens Weidmann, der überdies abermals vor einem „Marsch in die Transferunion“ warnte.[11] Inzwischen prescht auch Arbeitsministerin Ursula von der Leyen mit neuen Forderungen vor.[12] Von der Leyen verlangt von denjenigen Eurostaaten, die aufgrund der enormen deutschen Außenhandelsüberschüsse [13] nun vor der Staatspleite stehen und durch Notkredite gestützt werden müssen, „Sicherheiten“ in Form von Goldreserven oder Industriebeteiligungen. Inzwischen kann Berlin bereits handfeste Erfolge bei der Umgestaltung der EU nach deutschem Modell verbuchen: So haben Spanien und Portugal eine „Schuldenbremse“ in ihren Verfassungen verankert.[14]

Gegen Null

Dabei ist Deutschland selbst von neuen Krisen bedroht. Seine rasche ökonomische Erholung ist auf seine extreme Exportfixierung zurückzuführen. Nach dem Kriseneinbruch 2008 wurden weltweit Konjunkturprogramme im Umfang von rund drei Billionen US-Dollar aufgelegt, von denen gerade die deutsche Exportindustrie profitieren konnte. Ihr gelang es – durch jahrelange Niedriglohnpolitik gestärkt – besonders gut, diese durch staatliche Verschuldung generierten Mittel zu nutzen. Die weltweit aufgelegten Konjunkturprogramme, die in den USA und in China den größten Umfang hatten, liefen zumeist Mitte 2010 aus; seitdem befindet sich die globale Konjunktur im Sinkflug. Die EU, die in Relation zum BIP weit geringere Mittel aufwandte als die USA und China, befindet sich bereits am Rande der Rezession – und auch beim Krisenprofiteur Deutschland mehren sich die konjunkturellen Warnsignale. Dabei wirkt die Exportfixierung der deutschen Industrie prozyklisch, weshalb der Wirtschaftseinbruch in Deutschland 2009, aber auch die anschließende Erholung weitaus heftiger als in anderen Industrieländern verliefen. Da die meisten Industriestaaten aufgrund der ausufernden Schuldenkrise heute kaum noch Möglichkeiten haben, weitere Konjunkturpakete aufzulegen, dürfte der nun einsetzende globale Abschwung auch Deutschland bald hart treffen. Die ersten ökonomischen Schockwellen dürften aber auch die ohnehin geringe Kompromissbereitschaft Berlins in den innereuropäischen Konflikten gegen Null tendieren lassen.

[1], [2] Abgeordnete sollen bei Euro-Rettung frei entscheiden; www.abendblatt.de 31.08.2011
[3] s. dazu Der Krisenprofiteur
[4] Tomasz Konicz: Pulver verschossen; www.konicz.info 27.08.2011
[5] s. dazu Alleingänge und Renationalisierung
[6] Nach Kohl rügt auch Helmut Schmidt Schröders Politik; www.welt.de 31.08.2011
[7] Merkel weist Kohl-Kritik zurück; www.ftd.de 25.08.2011
[8] Germany; topics.nytimes.com
[9] Europe’s Economic Powerhouse Drifts East; The New York Times 18.07.2011
[10] Wulff kritisiert Europäische Zentralbank; www.abendblatt.de 25.08.2011
[11] Weidmann kritisiert Europas Regierungen – und die EZB; www.handelsblatt.com 01.09.2011
[12] s. auch Die Germanisierung Europas
[13] s. dazu Die deutsche Transferunion
[14] Portugal will Schuldenbremse einführen; www.handelsblatt.com 31.08.2011

Nach oben scrollen