„Junge Welt“, 20.07.2011
Neofaschistische und rassistische Gewalt in den Großräumen Moskau und St. Petersburg
In den frühen Morgenstunden des 12. Juli griffen mehrere maskierte Täter die Darchei-Shalom-Synagoge im Nordosten Moskaus mit sechs Brandsätzen an. Bei dem Brandanschlag wurde niemand verletzt, und es entstand nur geringer Sachschaden, da keine der verwendeten Brandbomben explodierte. Die Täter konnten unerkannt fliehen. Lokale Polizeistellen klassifizierten diesen Angriff als eine antisemitische Vergeltungsaktion, die in Zusammenhang mit der Verurteilung einer Bande von Nazimördern am Vortag stünde. Kurz zuvor verübten Unbekannte auch einen Bombenanschlag auf die Räumlichkeiten der Staatsanwaltschaft im Westen Moskaus, bei dem beträchtlicher Sachschaden entstand.
Am Vortag dieser Anschläge hatte ein Moskauer Gericht für etliche Mitglieder der Naziorganisation »Nationalsozialistische Gesellschaft« langjährige Haftstrafen ausgesprochen. Fünf Angeklagte wurden zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt, da sie der Organisierung einer Mordserie an Migranten aus Zentralasien und dem Kaukasus überführt wurden, der 27 zumeist als Wanderarbeiter tätige Menschen zum Opfer fielen. Die Morde wurden teilweise auf Video festgehalten und ins Internet gestellt. Während der Gerichtsverhandlung haben die Bandenmitglieder wiederholt Naziparolen gegrölt und den Hitlergruß gezeigt. Weitere sieben Mitglieder der »Nationalsozialistischen Gesellschaft« haben Haftstrafen von zehn bis 25 Jahren erhalten – u.a. für die Planung von Terroranschlägen.
Mit den Verurteilungen vom 11. Juli setzt die russische Justiz – der Kritiker jahrelang vorgeworfen haben, Naziumtriebe zu ignorieren – ihr entschiedenes Vorgehen gegen faschistische Gruppierungen in Rußland fort. Im Frühjahr wurden bereits etliche Mitglieder von Nazibanden in St. Petersburg und Moskau verurteilt, wie etwa vier Faschisten aus der Moskauer Gruppe »Autonomer Slawischer Widerstand«, die Übergriffe auf Ausländer und Bombenanschläge durchgeführt haben und zu Zuchthausstrafen von neun bis 22 Jahren verurteilt wurden.
Im ersten Halbjahr 2011 seien insgesamt 116 Mitglieder faschistischer Gruppen bei 28 Schuldsprüchen aufgrund von Akten rassistischer Gewalt verurteilt worden, erklärte das Moskauer Sova-Zentrum, das die rechtsextreme Gewalt in Rußland beobachtet, gegenüber der Nachrichtenagentur Interfax Anfang Juli. Die Großräume Moskau und St. Petersburg bilden weiterhin die Zentren faschistischer Gewalt in Rußland, doch kam es im vergangenen Halbjahr auch zu Verurteilungen in Archangelsk, Pskow, Tomsk oder Tula. »Bisher registrieren wir einen klaren Rückgang der Mordrate im Vergleich zum Vorjahr«, erklärte der Sova-Direktor Alexander WekchowÂskij gegenüber Interfax. Dies sei vor allem auf die Tatsache zurückzuführen, daß die meisten gefährlichen Gruppen radikaler Nationalisten, die regulär Morde begingen, gefaßt wurden. Insgesamt seien im ersten Halbjahr 2011 bei Naziübergriffen 14 Menschen getötet und 58 verletzt worden.
Dennoch bleibe die »Rate aggressiver xenophober Attacken in Rußland sehr hoch«, warnte Wekchowskij. Ihr ungebrochen hohes Mobilisierungspotential stellte die Naziszene im vergangenen Dezember unter Beweis, als an die 5000 Anhänger in der Moskauer Innenstadt sich brutale Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften lieferten.
Am 5. Juli setzte sich auch Präsident Dmitri Medwedew mit dem Thema beim Treffen der russischen Menschenrechtsrates auseinander. Ethnische Diskriminierung sei nicht nur in bestimmten Regionen Rußlands zu finden, sondern sie betreffe das gesamte Land. Die rassistisch motivierten Unruhen stellten eine Gefahr für die »Stabilität« des Landes dar, warnte Medwedew.