Wie Osteuropa mittels Inflation für den Kapitalismus zugerichtet wurde
Lunapark21, Heft 11, Herbst 2010
‚Du hast deine ganzen Ersparnisse auf der Bank, einen riesigen Haufen Kohle, und auf einmal kannst du dir davon gerade mal ein paar Bananen kaufen.‘ Jeder hierzulande, der alt genug ist, kann sich an die Hyperinflation erinnern, die Polens lohnabhängige Bevölkerung 1990, zu Beginn der schockartig durchgeführten Systemtransformation, enteignete. Die Erinnerungen der Betroffenen kreisen zumeist um die paar erbärmlichen, während des real existierenden Sozialismus kaum erhältlichen Westgüter, die nach der Hyperinflation von den einstmaligen Ersparnissen erworben werden konnten: Für die viel zitierten Südfrüchte, einen Videorekorder oder vielleicht noch eine vollautomatische Waschmaschine reichten die rapide an Wert verlierenden Rücklagen, wenn die Möglichkeit gegeben war, an diese schnell genug heranzukommen.
Oberflächlich betrachtet scheint es absurd: Ausgerechnet in dem historischen Augenblick, in dem der – scheinbare – kapitalistische Warenüberfluss die verschriene staatssozialistische Mangelwirtschaft abgelöst hat, wurden den Konsumenten die Mittel zum Warenkonsum durch rasante Geldentwertung entwendet.
Zur Erklärung dieses Phänomens hilft vielleicht ein Rückblick auf die alltäglichen Erfahrungen beim Warenkauf, die nahezu alle Menschen in den Ländern Mittel- und Osteuropas gesammelt haben. In den Staaten des Staatssozialismus herrschte ein – zur heutigen Lage – umgekehrtes Verhältnis zwischen Geld und Ware. Im neoliberalen Spätkapitalismus verdienen prekarisierte Niedriglohnempfänger oftmals zu wenig Geld, um selbst die nötigsten Bedürfnisse durch Warenkauf befriedigen zu können. In den sozialistischen Volksrepubliken hingegen herrschte nie Mangel an Geld, sondern an Waren. Die Arbeiter und Angestellten in der Volksrepublik Polen, in der Sowjetunion oder in der Deutschen Demokratischen Republik sahen sich mit dem Problem konfrontiert, ihr verdientes Geld selten gemäß der eigenen Wünsche ausgeben zu können.
Aus diesem permanenten Warenmangel, der nahezu alle staatssozialistischen Volkswirtschaften kennzeichnete, resultierte eine durchweg sehr hohe Sparquote der Lohnabhängigen. Beim Erwerb bestimmter Gebrauchsgüter – wie Kraftfahrzeugen, Möbeln oder größeren Haushaltsgeräten – musste man sich oftmals in Wartelisten einschreiben, bei denen mitunter Jahre bis zur Warenlieferung vergehen konnten. In der Zwischenzeit legten die betroffenen Lohnabhängigen einen großen Teil ihrer Löhne auf die hohe Kante, um dann bei Warenlieferung diese sogleich bar bezahlen zu können. Generell lässt sich festhalten, dass in allen Ökonomien des real existierenden Sozialismus eine große Menge von Geld zirkulierte oder auf Bankkonten schlummerte, das für geleistete Lohnarbeit ausgezahlt wurde, aber auf kein hinreichendes Warenangebot traf.
Ostgeld? Nein, danke!
Diese Geldmenge musste im Zuge der kapitalistischen Systemtransformation größtenteils entwertet werden. Großkapital aus Westeuropa – hier insbesondere aus der BRD – oder den USA wäre niemals zum Warenexport oder gar zu Investitionen in die Transformationsökonomien bereit gewesen, wären dort Unmengen von ‚altem‘, in sozialistischen Zeiten erarbeitetem Geld in Umlauf gewesen, das noch eine gewisse Kaufkraft hatte. Die aus dem Dollar oder DM-Raum agierenden ‚Investoren‘ brauchten eine massive Abwertung der osteuropäischen Währungen gegenüber den zuvor staatlich festgesetzten Wechselkursen aus staatssozialistischer Zeit, um billig Investitionen tätigen zu können und auf keine nennenswerte Nachfrage zu stoßen, die auf geleistete Arbeit in sozialistischen Zeiten zurückzuführen war. Um die Transformationsökonomien zu ‚Investitionsstandorten‘ westlichen Kapitals zuzurichten, musste ferner nach der Abwertung der osteuropäischen Währungen eine Währungskonvertibilität mitsamt freiem Kapitalverkehr hergestellt werden, um so den verlustfreien Abfluss von Profiten zu gewährleisten.
Handstreich Hyperinflation
Der Einführung der kapitalistischen Eigentümergesellschaft in Osteuropa ging also die Enteignung der Lohnabhängigen durch Hyperinflation voraus. Dabei handelte es sich oftmals um relativ kurze Zeitspannen von wenigen Monaten, in denen alle zuvor erarbeiteten Ersparnisse entwertet worden. So erreichten etwa die Inflationswellen 1991 in Rumänien 200 Prozent und in Bulgarien 320 Prozent. Besonders krass fiel die Geldentwertung in der Ukraine und Russland aus. Zwischen Leningrad und Wladiwostok betrug die Teuerungsrate 1992 rund 1500 Prozent, während sie in der Ukraine von 1200 Prozent im Jahr 1992 auf 1500 Prozent 1991 kletterte.
Wie rasant und schockartig dieser Prozess der Enteignung durch Hyperinflation von statten ging, illustriert vielleicht am besten das Beispiel Polen. Laut Daten des polnischen Statistischen Amtes verzeichnete die in Transformation begriffene Volksrepublik im Jahr 1989 eine Inflationsrate von 251 Prozent und von 585 Prozent 1990. Der inflationäre Hauptschub in dieser Periode fand aber innerhalb von nur sieben Monaten statt! Zwischen August 1989 und Februar 1990 lag die Inflation allmonatlich gegenüber dem Vormonat in zweistelligen Prozentbereich, sodass allein im Januar 1990 die Inflationsrate gegenüber dem Dezember einen Spitzenwert von nahezu 80 Prozent erreichte. Ab März 1990 sank die monatliche Teuerung wieder in den einstelligen Prozentbereich. Es dürfte klar sein, dass die meisten Sparer bei solch einer rasch ablaufenden Inflationswelle keine Möglichkeit zu einer adäquaten Reaktion hatten.
Hand in Hand mit dem IWF
Die initiierte Hyperinflation bildete sozusagen die erste Stufe der neoliberalen Schocktherapie, die der damalige Finanzminister und stellvertretende Regierungschef Leszek Balcerowicz in enger Koordination mit dem Internationalen Währungsfonds und neoliberalen US-Ökonomen durchführte – größtenteils unter Umgehung demokratischer Prozesse und ohne eine adäquate Informierung der Öffentlichkeit. Die erste Teuerungswelle ab August 1989 wurde durch die Freigabe der Lebensmittelpreise in Polen ausgelöst, bei gleichzeitigem Einfrieren der staatlichen Lebensmittelsubventionen, wodurch sich die Nahrungspreise innerhalb nur eines Monats verdoppelten. Im Oktober wiederum wurden nahezu alle der zuvor eingefroren Lebensmittelsubventionen ersatzlos gestrichen und die Preise für Dienstleistungen staatlicher Unternehmen erhöht, was zu einer weiteren Teuerungswelle führte.
Während die Inflation die Spareinlagen der polnischen Lohnabhängigen vernichtete, führte Balcerowicz in Absprache mit dem Internationalen Währungsfonds eine Serie von Währungsabwertungen des Zloty durch, dessen offizieller Wechselkurs gegenüber dem US-Dollar binnen weniger Monate von 1050 Zl. auf 6500 Zl. absackte. Schließlich erfolgte am 1. Januar 1990 der große Knall mit der totalen Freigabe aller Preise bei nahezu vollkommener Abschaffung jeglicher Subventionen. Diese erste Stufe der auch als ‚Balcerowicz-Plan‘ bezeichneten neoliberalen Schocktherapie in Polen löste in den folgenden drei Monaten die stärkste Inflationsdynamik in der Nachkriegsgeschichte Polens aus.
Selbstverständlich kann eine Hyperinflation auch zu einem Absinken des Lohnniveaus führen, wenn der Anstieg der realen Löhne nicht mit der Inflationsdynamik schritt hält. Im Falle Polens gingen die am ‚Runden Tisch‘ versammelten politischen Kräfte aus Staatspartei und Solidarnosc-Opposition sogar soweit, diesem Mechanismus der Lohnabsenkung in Gesetzesform zu gießen. Ein 1989 verabschiedetes Indexierungsgesetz erlaubte den Betrieben maximale Lohnerhöhungen in Höhe von 80 % Prozent der Inflationsrate, was einer entsprechenden permanenten Absenkung des Lohnniveaus gleichkam. Am 1. August 1989, als die Hyperinflation in Polen voll einzusetzen begann, waren die realen Löhne polnischer Lohnabhängiger bereits um 45 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum gesunken.
Die Inflation, die in größerem oder kleinerem Maßstab nahezu alle Transformationsökonomien des ehemaligen Ostblocks heimsuchte, erwies sich als eine Grundvoraussetzung zur Wiedererrichtung kapitalistischer Ökonomien in dieser Region. Den Lohnabhängigen Mittelosteuropas konnte nur mit leeren Taschen Einlass in die mit überquellenden Schaufenstern gespickte, kapitalistische Warenwelt gewährt werden. Die Zurichtung der Länder Mittelosteuropas zur Peripherie der Europäischen Union erforderte verarmte, willige und damit billige Arbeitskräfte.