„Junge Welt“, 27.05.2010
2010 sollte für die Staaten Osteuropas das Jahr der wirtschaftlichen Erholung werden. Doch die Finanzkrise läßt alle Prognosen zur Makulatur werden
Wirtschaftsprognosen zufolge sollte das Jahr 2010 für die meisten Länder Osteuropas das Jahr werden, in dem die schlimmsten Auswirkungen der größten Wirtschaftskrise überwunden sein sollten, die die Region seit Zusammenbruch des realexistierenden Sozialismus erschütterte. Insbesondere der Internationale Währungsfonds (IWF) begleitete die Durchsetzung knallharter Sparprogramme in etlichen osteuropäischen Ländern mit entsprechenden Heilsversprechen. Noch im Herbst wurde ein leichtes Wachstum der Bruttoinlandsprodukte verhergesagt.
Diese Hoffnung der Osteuropäer auf ein rasches Krisenende nährte auch die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) auf ihrer jährlichen Generalversammlung im kroatischen Zagreb am 14. Mai, als sie ihre WachstumsÂprognose für die Region von 3,3 auf 3,7 Prozent für 2010 anhob.
Dieser optimistische Konjunkturausblick basierte vor allem aus der Erholung der russischen Wirtschaft, die von den steigenden Preisen für Energieträger profitieren konnte. Bei den südosteuropäischen Ländern Bulgarien und Rumänien, den baltischen Republiken sowie den meisten Nachfolgestaaten Jugoslawiens mußte die EBWE hingegen konstatieren, daß die Wirtschaftserholung sich weiter »verzögern« werde. Diese 1991 gegründete Institution sieht ihre Aufgabe vor allem darin, die kapitalistische Systemtransformation der Länder Mittel- und Osteuropas zu forcieren.
Auch der Chef des EBWE, Thomas Mirow (SPD), kam auf der Tagung nicht umhin, ein wenig Wasser in den Wein zu schütten. Die Schuldenkrise in Griechenland könne unter Umständen die Bemühungen um eine Erholung in der Region untergraben, warnte der ehemalige Staatssekretär im Bundesfinanzministerium. Konkret besteht laut Mirow die Gefahr, daß griechische Banken die südosteuropäischen Länder trotz ihrer »eigentlich guten Gesundheit anstecken« würden.
Die »griechische Tragödie« dürfte vor allem den Arbeitsmarkt und den Finanzsektor belasten. Zum einen könnte die bevorstehende schwere Rezession in Griechenland die Arbeitsmigranten aus Südosteuropa schwer treffen, die derzeit zu Hunderttausenden dort ein Auskommen finden. Schätzungen zufolge soll etwa eine halbe Million Albaner ganzjährig oder saisonal in Griechenland tätig sein. Erfahrungsgemäß trifft ein starker Wirtschaftseinbruch diese prekär Beschäftigten zuerst. Rund ein Viertel aller albanischen Haushalte ist auf die Geldüberweisungen dieser Wanderarbeiter angewiesen. Die Krise in Hellas könnte aber vor allem den Finanzsektor Rumäniens und Bulgariens hart treffen. Allein die vier größten griechischen Finanzinstitute halten auf dem Balkan einen Marktanteil von rund 20 Prozent, in Bulgarien sind es sogar 35 Prozent. Sollten diese Geldhäuser aufgrund der Verwerfungen in Griechenland ihr Engagement in Südosteuropa zurückfahren, könnte dies erneut den dortigen Finanzsektor destabilisieren und zu einer Kreditklemme in der Region führen.
Osteuropa verzeichnet seit Krisenausbruch ohnehin einen beständigen Abfluß von Kapital. »Wir sehen derzeit eine Kapitalflucht, die der wirtschaftlichen Erholung hinderlich ist«, erklärte ein Mitarbeiter der EBWE gegenüber der Wiener Zeitung am Rande der Zagreber Tagung. Während 2007 noch 383 Milliarden US-Dollar an Direktinvestitionen nach Osteuropa flossen, wurden 2009 bereits 33 Milliarden US-Dollar abgezogen. Weitere Probleme in der Region resultieren aus den schrumpfenden Geldüberweisungen der in Westeuropa tätigen Arbeitsmigranten nach Rumänien, Bulgarien oder Polen überweisen. Diese mehrere Milliarden Euro betragenden Transfers bildeten zuvor ein wichtiges Standbein der Binnennachfrage in etlichen Ländern Osteuropas.
Einen weiteren wichtigen Konjunkturmotor der Region bildete bis zum Krisenausbruch die expansive Kreditvergabe durch westeuropäische Banken, die einen Großteil der Finanzsektoren Osteuropas kontrollieren. Nach dem Zusammenbruch dieser schuldenfinanzierten Defizitkonjunktur und milliardenschweren Rettungspaketen für die in Osteuropa tätigen Westbanken ist die Kreditvergabe massiv eingebrochen, während die Zahl der faulen Bankkredite weiter zunimmt. Laut EBWE werden die Kreditausfälle in Osteuropa bis Mitte 2010 weiter steigen. Immerhin verständigten sich in Zagreb die EBWE, der IWF, osteuropäische Notenbanken und Finanzinstitute auf eine »Local-Currency-Initiative«, die auf eine Förderung von Darlehen in Landeswährungen in Osteuropa abzielt, um künftig Kreditausfälle bei Kursschwankungen zu vermeiden.
Schließlich bedroht auch die lahmende Binnenkonjunktur in Westeuropa wirtschaftliche Erholung in den östlichen EU-Staaten und ihren Nachbarn: »Die erheblichen Einsparungen in Westeuropa werden die Nachfrage beeinflussen. Wegen der Exportabhängigkeit Osteuropas wird das starke Auswirkungen haben«, erklärte EBWE-Chefökonom Erik Berglöf gegenüber dem österreichischen Standard. Betroffen ist insbesondere die Tourismusbranche. Aber auch die Industriesektoren etlicher osteuropäischer Staaten, die zumeist zu »verlängerten Werkbänken« westlicher Konzerne umgebaut wurden, verzeichnen heftige Einbrüche. »Eine neue Rezession im Osten ist nicht unser Hauptszenario, aber wir machen uns Sorgen. Bei einigen Staaten gehen wir derzeit von einem schwachen Wachstum aus, das bei anhaltenden Turbulenzen unter die Null fallen könnte«, konstatierte Berglöf.