„Junge Welt“, 15.12.2009
Die ungarische Wirtschaft befindet sich auf Talfahrt. Rechtskonservative Parteien wittern Morgenluft und kündigen im Wahlkampf soziale Wohltaten an
Mit einer »Verjüngungskur« versuchen Ungarns Sozialdemokraten das sich abzeichnende Wahldebakel abzuwenden. Doch die Ende November erfolgte Ernennung ihres 35jährigen Fraktionschefs Attila Mesterházy zum Spitzenkandidaten für die Parlamentswahlen im April 2010 brachte für die regierenden ungarischen Sozialisten (MSZP) bislang keine Wende. Die eindeutig neoliberal ausgerichtete Regierungspartei konnte ihre Umfragewerte im Dezember gerade mal von zwölf auf 14 Prozent gegenüber dem Vormonat steigern, während die rechtskonservative Fidesz des Oppositionsführers Victor Orban weiterhin mit 35 Prozent WähÂlerzuspruch vorn liegt. Bei den vergangenen Parlamentswahlen Ende 2006 konnte die MSZP noch 43,3 Prozent aller Stimmen erringen. Der Wahlsieg der stramm rechten Fidesz scheint also so gut wie sicher.
Investoren nervös
Ein derartiger Wahlausgang könnte eine wahre »Investorenflucht« aus Ungarn auslösen, warnte am 8. Dezember die Nachrichtenagentur Bloomberg. Da die Fidesz bereits angekündigt habe, das ungarische Haushaltsdefizit auszuweiten und den harten Sparkurs aufzugeben, könnten die Bewertung der ungarischen Staatsanleihen herabgestuft und so die Kosten der Defizitfinanzierung für Budapest weiter steigen, erklärten Analysten der RatingÂagentur Fitch gegenüber Bloomberg. Fidesz kündigte an, das Haushaltsdefizit doppelt so hoch ausfallen zu lassen, wie von der derzeitigen Regierung vorgesehen. »Es ist lebenswichtig für das Land, auf dem Pfad der strikten finanziellen Konsolidierung über die angesetzten Parlamentswahlen hinaus zu verbleiben«, mahnte der Fitch-Analyst David Heslam gegenüber Bloomberg. Wer die aktuellen Vorgänge in Griechenland nach der Bonitätsabstufung des Landes durch Fitch beobachtet, weiß, daß dies ernst zu nehmen ist.
Ungarn ist auf ausländische Investoren angewiesen, um sein Haushaltsdefizit zu finanzieren. Bei Ausbruch der Weltwirtschaftskrise mußte das mittelosteuropäische Land einen 20 Milliarden Euro umfassenden Hilfskredit des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Anspruch nehmen, mit dem ein akut drohender StaatsbanÂkrott abgewendet werden konnte. Im Gegenzug verpflichtete sich Budapest zur Senkung des Budgetdefizits auf weniger als drei Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP), wie dies im Euro-Stabilitätspakt festgeschrieben ist. Das Haushaltsminus konnte auf diese Weise von 9,4 Prozent des BIP 2006 zwischenzeitlich auf 3,7 Prozent gedrückt werden. Für das kommende Jahr wird allerdings ein Anstieg auf 4,2 Prozent erwartet, ohne daß der brutale Sozialabbau dadurch abgemildert würde.
Die Fidesz trägt mit ihren populistischen Forderungen, die sie scheinbar in Widerspruch zu einflußreichen Kapitalkreisen bringen, der Stimmung in der Bevölkerung Rechnung. Nach einer halben Dekade permanenter »Sparprogramme« und dem wirtschaftlichen Einbruch des vergangenen Jahres herrscht in weiten Teilen der Wählerschaft Ungarns eine äußerst widersprüchliche Stimmungslage. Sowohl antikapitalistische Einsichten als auch rassistische und antisemitische Ressentiments spielen eine wesentliche Rolle: Breiter Widerstand gegen Privatisierungen auf der einen, verstärkter Nationalismus und Hetze gegen Roma und Juden auf der anderen Seite.
BIP schrumpft weiter
Punkten kann die Fidesz bei Konflikten, wie sie beispielsweise in Pecs ausgetragen werden. Die Stadtverwaltung befindet sich in einem Rechtsstreit mit dem französischen Konzern Suez, nachdem sie die lokale Wasserversorgung rekommunalisiert hatte. Während sich der ungarische Premier nach Protesten der französischen Regierung partiell auf die Seite des Konzerns stellte, ging die Fidesz mit dem Vorwurf auf Stimmenfang, die MSZP würde »ausländische Investoren gegenüber dem ungarischen Volk« bevorzugen. Auch die Forderung nach Nachverhandlungen mit dem IWF zwecks Gewährung besserer Kreditkonditionen stößt auf breite Zustimmung.
Jenseits des Wortgeklingels ist zwischen Balaton und Puszta eine dramatische Wirtschafts- und Haushaltslage zu verzeichnen. Prognosen zufolge soll das BIP Ungarns in diesem Jahr um nahezu sieben Prozent einbrechen und 2010 weiter schrumpfen. Folge ist unter anderem ein massiver Anstieg der Arbeitslosigkeit, die ohnehin binnen eines Jahres von 7,7 Prozent auf 10,4 Prozent im dritten Quartal 2009 hochschnellte. Jüngste Schätzungen gehen davon aus, daß diese Rate binnen der nächsten Monate auf bis zu 11,5 Prozent steigen wird.
Die Lebenssituation großer Teile der ungarischen Bevölkerung hat sich derweil dramatisch verschlechtert. Die Energieversorger Ungarns klagen inzwischen über Außenstände in Höhe von »Dutzenden von Milliarden Forint«, weil viele Haushalte ihre Rechnungen nicht mehr begleichen können. Dessen ungeachtet kündigte Premierminster Gordon Bajnai Anfang November weitere Kürzungen an, die »tiefe Einschnitte im Sozial- und Pensionssystem« mit sich bringen würden.