„Junge Welt“, 10.09.2009
Pathos ohne Substanz: US-Präsident signalisiert Kompromißbereitschaft bei Gesundheitsreform. Allgemeine staatliche Krankenversicherung hat kaum noch Chancen
Wenig Neues kam vom US-Präsidenten zur Gesundheitsreform. Mit Pathos sparte Barack Obama bei seinem Auftrit vor dem US-Parlament am Mittwoch nicht: »Ich bin nicht der erste Präsident, der sich dieser Sache annimmt, aber ich bin entschlossen, der letzte zu sein,« verkündete er im Hinblick auf die mehrmals gescheiterten Reformbemühungen. »Jetzt ist die Zeit des Handelns.« Dabei zeigte er sich bei einem zentralen Punkt der Gesundheitsreform kompromißbereit, sehr zum Ärger seiner progressiven Basis. Obama beteuerte zwar seine weitere Unterstützung für die Einrichtung einer staatlichen Krankenversicherung, doch zugleich zeigte er sich offen gegenüber Alternativen, die den Bürgern »Stabilität und Sicherheit« bringen würden.
Schon Tage vor der Rede hatte das Weiße Haus unablässig Kompromißbereitschaft gegenüber Republikanern, rechtsgerichteten Demokraten und der Gesundheitsindustrie signalisiert. Die stemmen sich mit Macht gegen die Einführung einer landesweiten staatlichen Krankenversicherung. Präsidentenberater David Axelrod erklärte gegenüber dem Fernsehsender NBC, daß Obama eine öffentliche Krankenversicherung immer noch als ein »gutes Werkzeug« ansehe, doch dürfe diese Option nicht »die gesamte Gesundheitsdebatte dominieren«.
Ursprünglich galt diese Versicherung als ein unverzichtbares Kernelement der Gesundheitsreform. Sie sollte es den nahezu 50 Millionen US-Bürgern ohne Versicherungsschutz ermöglichen, erstmals einen solchen zu erwerben. Ziel war es auch, hierdurch die hohen Kosten für die privaten Krankenversicherungen zu senken. Das größtenteils privat betriebene Gesundheitssystem gilt als maßlos überteuert, notorisch verschwendungssüchtig und ineffizient. Die Kosten pro Kopf der Bevölkerung sind etwa doppelt so hoch wie die in vergleichbaren Industriestaaten. Und die Gesamtaufwendungen steigen beständig: Von 2,1 Billionen US-Dollar 2006 auf 2,5 Billionen (2500 Milliarden) in diesem Jahr. Ein Ende dieser Kostenexplosion ist laut einer von der Washington Post zitierten Studie nicht in Sicht. Demnach könnten die Gesamtausgaben sogar auf vier Billionen Dollar im Jahr 2016 anwachsen – sollte keine substantielle Reform realisiert werden.
Der Gesundheitsindustrie ist es jedoch bereits gelungen, zentrale Aspekte des Reformvorhabens aufzuweichen oder gar ganz zu verhindern. Während die staatlichen Gesundheitsprogramme für verarmte und ältere Bürger, Medicaid und Medicare, finanziell massiv beschnitten wurden, sollen im Gegenzug milliardenschwere staatliche Subventionen bereitgestellt werden, damit mehr US-Bürger sich die ineffektiven, überteuerten, auf das finanzielle Wohl der Anbieter ausgerichteten privaten Krankenversicherungen leisten können. Der Pharmaindustrie sicherte das Weiße Haus zu, bei Einführung einer öffentlichen Krankenversicherung deren Einkaufsmacht nicht dazu nutzen zu wollen, die gnadenlos überhöhten Medikamentenpreise zu senken. Ähnliche Deals wurden mit den KrankenÂhausgesellschaften und angeblich sogar mit der Krankenversicherungsbranche vereinbart. Letzterer soll die Regierung sogar einen Verzicht auf eine öffentliche Krankenversicherung im vorhinein zugesichert haben (siehe jW vom 27. August) – die jüngsten Äußerungen aus dem Weißen Haus scheinen dies zu bestätigen.
Ungeachtet der pathetischen Rede Obamas geht hinter den Kulissen das Tauziehen um das ohnehin bereits bis zur Unkenntlichkeit verwässerte Reformprojekt weiter. Inzwischen kursieren im Kongreß sehr »industriefreundliche« Vorschläge, die beispielsweise erst dann eine staatliche Krankenversicherung greifen lassen wollen, wenn private Krankenversicherer an einem Patienten kein Interesse haben. Sollte das Realität werden, könnten die privaten Gesundheitskonzerne »kostenintensive Kunden« beliebig entsorgen. Hoch im Kurs steht auch die Idee der Einführung von Krankenversicherungsgenossenschaften, deren Kapital größtenteils von den Genossenschaftsmitgliedern aufgebracht werden müßte.
Schließlich gibt es auch Überlegungen, unter Androhung von Bußgeldern alle Bürger zum Abschluß von Krankenversicherungen zu nötigen. Im Gespräch sind Strafen von bis zu 3800 US-Dollar. Diese Ideen brütete das wichtigste Senatsgremium aus, das sich um die Ausgestaltung eines parteiübergreifenden Kompromisses in der Gesundheitsreform bemüht. Es wird von dem demokratischen Senator Max Baucus geleitet. Darin sind drei republikanische und drei demokratische Senatoren vertreten. Kurz vor der Ansprache Obamas ließ Baucus einen Vorschlag in Umlauf bringen, der ab 2013 alle Bürger verpflichten würde, eine Gesundheitsversicherung zu erwerben. Genau auf diese Überlegungen nahm Obama in seinen Ausführungen Bezug. Staatliche Unterstützung für den Erwerb privater Krankenversicherungen werden all diejenigen US Bürger erhalten, die nicht durch ihre Unternehmen krankenversichert sind. Eine allgemeine, staatliche Krankenversicherung sieht dieser Vorschlag nicht mehr vor.
Damit gehen Baucus und auch Obama auf direkte Konfrontation zum linksliberalen Flügel der Demokraten, der weiterhin auf der Einführung einer öffentlichen Krankenversicherung im Rahmen der Gesundheitsreform besteht. Am 8. September machte Nancy Pelosi, die Demokratin und einflußreiche Sprecherin des Repräsentantenhauses, nach einem Treffen mit Obama nochmals klar, daß »eine öffentliche Option essentiell sein wird, um unser Gesetz durch das Repräsentantenhaus zu bringen.«
Doch auch seitens der Republikaner dürfte selbst der von Baucus propagierte weichgespülte Reformvorschlag kaum Unterstützung erfahren. Die Rechte hofft hingegen, die Gesundheitsreform gänzlich scheitern lassen zu können, um so Obamas Präsidentschaft bereits jetzt eine vernichtende Niederlage zu bereiten: »Wenn wir Obama jetzt stoppen können, wird das sein Waterloo und es wird ihn zerbrechen«, frohlockte der republikanische Senator Jim DeMint.