„Junge Welt“, 21.08.2009
Keine allgemeine Krankenversicherung: US-Präsident knickt vor Pharmalobby und privaten Versicherern ein. Rest-»Reform« verstärkt Probleme
Die Aktienkurse der US-Gesundheitskonzerne legten Anfang der Woche deutlich zu. Während die US-Börsen einen eher durchwachsenden Wochenstart hinlegten, konnten die Kurse der privaten Krankenversicherer wie der UnitedHealth-Group oder Aetna Inc. Tagesgewinne von bis zu 4,7 Prozent verbuchen. Zu verdanken haben sie dieses kleine Kursfeuerwerk der Regierung unter Präsident Barack Obama. Die hatte am vergangenen Wochenende den Kern ihrer geplanten Gesundheitsreform – die Einführung einer landesweiten staatlichen Krankenversicherung – selbst in Frage gestellt.
Das deutlichste Signal sandte der Präsident während einer öffentlichen Diskussionsrunde über das Reformprojekt aus: »Die öffentliche Option, ob wir sie nun haben werden oder auch nicht, ist nicht die Gesamtheit der Gesundheitsreform«, sagte Obama während einer Fragerunde im Bundesstaat Colorado. Der fast nebenbei verkündete Kursschwenk wurde von Medienauftritten etlicher Mitglieder der Administration begleitet, die ähnliches verkündeten. Gegenüber dem Nachrichtensender CNN erklärte Gesundheitsministerin Kathleen Sebelius, daß die öffentliche Krankenversicherung kein »essentielles Element« mehr auf der Reformagenda der AdministraÂtion darstelle. Robert Gibson, Sprecher des Weißen Hauses, gab gegenüber dem Sender CBS zu bedenken, daß der Präsident nur »bis jetzt« der Meinung gewesen sei, eine öffentliche Krankenversicherung sei geeignet, »Wahlmöglichkeiten und Konkurrenz« auf dem Gesundheitsmarkt zu befördern. Der seit Monaten zunehmende Druck auf die Regierung, der im Kongreß seitens industrienaher Lobbygruppen und auf der Straße durch Aktvisten rechter Netzwerke aufgebaut wurde, scheint sein Ziel erreicht zu haben.
»Präsident Barack Obamas Administration signalisierte am Sonntag, daß sie bereit sei, die Idee aufzugeben, allen Amerikanern die Möglichkeit einer staatlichen Krankenversicherung im Rahmen eines neuen Gesundheitssystems einzuräumen«, berichtete bereits am Montag die Nachrichtenagentur AP. Für die privaten Krankenversicherer bedeute dies, daß ein prognostizierter Aderlaß von bis zu 120 Millionen ihrer »Kunden« ausbliebe. So viele US-Bürger wären im Falle der Einführung einer staatlichen Krankenversicherung von den privaten Versicherern abgewandert, erläuterte die Zeitung Newsday.
Nur wenige Stunden nach diesem Kniefall Obamas vor der Gesundheitsindustrie gingen einstmalige Unterstützer des als »Kandidaten des Wechsels« gewählten, ersten schwarzen Präsidenten auf direkten KonfrontaÂtionskurs. Linke Demokraten, progressive oder linksliberale Aktivisten und Mediennetzwerke, die maßgeblich zum Wahlsieg Obamas beigetragen hatten, wie auch prominente Befürworter der Reforem aus den Medien eröffneten ein regelrechtes Trommelfeuer auf den als »rückgratlos« und »schwach« titulierten Präsidenten. Eine Gruppe von 83 demokratischen Abgeordneten schickte am Dienstag einen Brief ans Weiße Haus. Sie kündigten darin an, jedweder Gesundheitsreform die Zustimmung zu verweigern, sollte diese nicht die Option einer staatlichen Krankenversicherung enthalten.
Angeführt wird dieser Aufruhr von dem ehemaligen Gouverneur des Staates Vermont und Vorsitzenden des Demokratischen Nationalen Komitees, Howard Dean, der fieberhaft Spendensammlungen für eine progressive Medienkampagne organisiert und den Präsidenten direkt mit öffentlichen Aussagen angreift: »Es gibt viele Menschen, die nicht verstehen, inklusive des Präsidenten selbst, daß die öffentliche Krankenversicherung unauflöslich mit der Reform verbunden ist. Es gibt keine Reform ohne öffentliche Krankenversicherung.« Bei einem Treffen von Aktivisten, die sich im Netzwerk »Netroots Nation« um die linksliberale Zeitung The Nation organisiert haben, markierte Dean Anfang August eine rote Linie: Das einzige Stück der geplanten Gesundheitsreform, das der Unterstützung wert sei, sei die staatliche Krankenversicherung. Dies sei »der letzte Fetzen« wahrer Veränderung, der nach etlichen Zugeständnissen an die Lobby der Gesundheitsindustrie und die Republikaner noch geblieben und unbedingt zu verteidigen sei.
Ohne die Einführung einer öffentlichen Krankenversicherung befürchten inzwischen viele Demokraten sogar eine Verschlechterung der Gesundheitsversorgung vieler US-Bürger, wenn die zusammengestrichene Refor in Kraft tritt. Dies sei nicht »der Wechsel, an dem wir glauben können«, parodierte der demokratische Kongreßabgeordneter Eddie Bernice Johnson den Wahlkampfslogan Obamas gegenüber CNN. Inzwischen ist klar, daß die bisherigen staatlichen Gesundheitsprogramme für ältere und verarmte Menschen, Medicare und Medicaid, finanziell massiv beschnitten werden sollen. Die dabei »eingesparten« Milliardenbeträge sollen für staatliche Subventionen aufgewendet werden, damit mehr US-Bürger die ineffektiven und überteuerten Krankenversicherungen der privaten Gesundheitsindustrie erwerben können. Das Weiße Haus soll überdies mit der Pharmaindustrie und der Versicherungsbranche geheime Abkommen getroffen haben, die deren im Zuge der Reform entstehenden Mindereinnahmen auf 80 bzw. 155 Milliarden US-Dollar binnen der nächsten Dekade beschränken soll. Im Verhältnis zu den derzeitigen Kosten für das US-Gesundheitssystem von 2500 Milliarden US-Dollar jährlich handelt es sich bei diesen Zugeständnissen um »Peanuts«.
Neuerdings unterstützen die Pharmaindustrie und die privaten Krankenversicherer die Gesundheitsreform Obamas mit einer millionenschweren Medienkampagne. Selbst der New York Times-Kolumnist Bob Herbert bemerkte hierzu: »Wenn die Pharmakonzerne und die Versicherungsindustrie lächeln, kann das nur bedeuten, daß das öffentliche Wohl mißachtet wurde.«