„Junge Welt“, 03.02.2009
Aus der Revolutionsforschung. Ein Aufsatz von 1962 wird aktuell
Der US-Soziologe James C. Davies publizierte 1962, also in der Hochphase des Kalten Krieges, einen Text zur Entstehung revolutionären Bewußtseins in American Sociological Review: »Towards a Theory of Revolution«. Bis heute wird der Text in US-amerikanischen Soziologieseminaren gern diskutiert. Davies entwickelt in ihm Theorien des Historikers Clarence Crane Brinton weiter, der sich in seiner Studie »Anatomy of Revolution« mit den Bedingungen einer revolutionären Situation auseinandersetzt.
Revolutionäres Bewußtsein resultiert bei Davies aus der Differenz zwischen persönlichen Hoffnungen/Erwartungen und der sozialen Realität. Solange persönliche materielle Erwartungen und tatsächliche materielle Entwicklungen übereinstimmen, bildet sich kein revolutionäres Bewußtsein heraus. Erst wenn Erwartungen und Realität auseinanderdriften, wenn also das Individuum, das einen steigenden Lebensstandard erwartet, der Verarmung ausgesetzt ist, kommt es auf revolutionäre Ideen.
Davies benennt die spezifische gesellschaftliche Konstellation, die mit größter Wahrscheinlichkeit zur massenhaften Herausbildung revolutionären Bewußtseins in »ökonomisch entwickelten« Gesellschaften führt. Dies sei insbesondere dann der Fall, wenn eine lange, mit wachsenden Erwartungen einhergehende Periode wirtschaftlichen Wohlstandes plötzlich und unvermittelt in einen Absturz übergehe, der zur massenhaften Verarmung und Enttäuschung führe: »Revolutionen ereignen sich am wahrscheinlichsten, wenn eine anhaltende Periode objektiver ökonomischer und sozialer Entwicklung von einem scharfen Abschwung abgelöst wird. Der wichtige Bewußtseinseffekt auf die Bevölkerung einer gegebenen Gesellschaft ist – während des Aufschwungs: die Produktion steigender Erwartungen, und, im Nachhinein, ein Zustand der Ängstlichkeit und Frustration, wenn die manifeste Realität von der antizipierten Realität wegbricht.«
Die moderne politische Propaganda der auch »Öffentlichkeit« genannten Bewußtseinsindustrie beherzigt diese theoretischen Einsichten, indem sie jeglichen Verelendungsschub mit einer Rhetorik begleitet, die parallel sich bemüht, die Erwartungen der Bevölkerung zu senken. Hier ist der praktische Nutzen all des Geredes von den enger zu schnallenden Gürteln zu finden, das uns die letzten Jahre über begleitete: Menschen, die Verarmung erwarten, rebellieren nicht so schnell, wenn sie tatsächlich verarmen.
Davies und Brinton führen weitere Punkte an, die eine revolutionäre Stimmung entstehen lassen: ein verschärfter Klassenkampf von oben, das Überlaufen von Teilen der Intelligenz ins revolutionäre Lager, die Inkompetenz der Politik. Doch als zentraler revolutionärer Faktor wirkt eben die Verschiebung im Bewußtsein der Menschen, die einen steigenden Lebensstandard erwarten und sich plötzlich in einer Situation finden, in der sie ihre einfachsten Bedürfnisse nicht befriedigen können. Der entscheidende Punkt ist laut Davies die Angst der Menschen, »daß über eine lange Periode gewonnener Boden schnell verlorengeht.« Angesichts des an seine Entwicklungsgrenzen stoßenden kapitalistischen Systems, dessen Zusammenbruch bald Millionen Menschen den Boden unter den Füßen wegziehen wird, gewinnen diese Überlegungen wieder an Aktualität. Es ist an der Zeit, die Zeit nach dem Kapitalismus zu diskutieren und vor allem zu organisieren.