Endstation Bettvorleger

„Junge Welt“, 07.02.2009
Die »baltischen Tigerstaaten« stecken in einer existenziellen Krise. Nun rächen sich Wachstum auf Pump und die zügellose Kreditvergabe westlicher Banken

Im Baltikum zeitigen die wirtschaftlichen Verwerfungen verheerende Auswirkungen. So sind immer mehr Letten nicht mehr in der Lage, die gesellschaftliche Realität zu ertragen – sie legen Hand an sich. Vor einer »sozialen Krise« warnte Maris Taube, stellvertretende Direktorin der öffentlichen Gesundheitsagentur Lettlands, gegenüber lokalen Medien. Demnach würde bereits jetzt die ohnehin hohe Selbstmordrate in der Baltenrepublik ansteigen, so daß bald die Spitzenwerte der Jahre 1993 bis 1995 erreicht sein würden, als aufgrund der kapitalistischen Systemtransforma­tion Lettland besonders viele Suizide aufwies. Die Selbstmordrate stieg damals von 26 Fällen pro 100000 Einwohner 1990 auf 40,7 Fälle 1995.

Zumeist ist es die mit Arbeitsplatzverlust einhergehende Zukunftsangst, die viele Menschen in den Freitod treibt. Dabei schwillt das Heer der Arbeitslosen im Baltikum derzeit rasch an. Im Dezember 2008 war die Erwerbslosenquote in Lettland auf 10,4 Prozent gestiegen, während noch ein Jahr zuvor die damals als »baltischer Tiger« gefeierte wachstumsstarke Volkswirtschaft mit zirka fünf Prozent eine der niedrigsten Arbeitslosenraten europaweit aufwies. In Estland sieht es kaum besser aus, dort stieg die Arbeitslosenquote auf 9,2 Prozent – von 4,1 Prozent im Vorjahreszeitraum. In Litauen sind offiziell acht Prozent der Erwerbsfähigen ohne Job.

Dennoch steht den drei Baltenrepubliken der richtige ökonomische Kollaps noch bevor, was die Masse der Arbeitslosen und Verzweifelten noch weiter anwachsen lassen dürfte. Neuesten Prognosen zufolge soll die Erwerbslosenrate 2010 in Lettland 16 Prozent und in Estland zwölf Prozent betragen. Einen regelrechten wirtschaftlichen Einbruch prognostiziert eine Ende Januar von einem schwedischen Kreditinstitut veröffentlichte Wirtschaftsprognose allen drei Volkswirtschaften. Demnach soll Lettlands Bruttosozialprodukt (BSP) 2009 um zehn Prozent schrumpfen. Die litauische Wirtschaftsleistung werde um sechs, die estnische um 4,7 Prozent zurückgehen, hieß es in der Analyse. Auch für das kommende Jahr sehen die schwedischen Banker nur wenig Besserung: »Selbst das Jahr 2010 wird kein positives Wachstum bringen, obwohl gegen Jahresende die Wachstumsraten ins positive drehen könnten«, hieß es in Banker-Neusprech des Berichts.

Auch andere skandinavische Banken, wie die Nordea AB und die Swedbank-Tochter Hansabank, veröffentlichten jüngst ähnlich Wirtschaftsprognosen für das Baltikum. Die Hansa Bank sieht beispielsweise das estnische BSP 2009 um sieben Prozent fallen. Laut Nordea AB droht Lettland im kommenden Jahr eine starke Deflation von 6,5 Prozent, die für das stark verschuldete Land besonders verheerende Konsequenzen – eine »Inflationierung der Schulden« – mit sich bringen würde. »Die Möglichkeiten der Regierungen, ihren Ökonomien zu helfen, sind sehr begrenzt, und folglich haben sich diese darauf konzentriert, die Situation zu stabilisieren und dann – wenn möglich – den Unternehmen zu helfen«, lautete das Resümee der Swedbank: »Die sozialen Spannungen nehmen zu, und sollten die politischen Probleme nicht gelöst werden oder sich gar verschlimmern, wird die Lage der Ökonomien sich extrem verschlechtern.« Die heftigen Protestdemonstrationen, die etliche Baltenrepubliken im Januar erschütterten, hinterließen wohl auch bei den schwedischen Finanzjongleuren nachhaltigen Eindruck.

Es gibt einen triftigen Grund, weswegen sich die skandinavischen Banken so rührend um ihre baltische Peripherie sorgen. Es war gerade die äußerst großzügige Kreditvergabe der skandinavischen Geldhäuser, die jahrelang die dortigen Volkswirtschaften befeuerte, die nun unter ihrer Schuldenlast zusammenbrechen. Zwischen 2002 und 2007 stieg die private Verschuldung im Baltikum von 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf das Doppelte. Diese atemberaubende Verschuldungsdynamik wird beispielsweise am Wachstum der estnischen Verbraucherkredite um stolze 65 Prozent allein im Jahr 2006 deutlich. Diese hatten schon damals ein Volumen von 38 Prozent der gesamten jährlichen Wirtschaftsleistung und von 70 Prozent der verfügbaren Einkommen des Landes erreicht. 2007 wuchs die private Verschuldung im gesamten Baltikum noch einmal um 45 Prozent. Erst ab April 2008 wurde ein langsames Erlahmen dieses kreditfinanzierten Hasardspiels sichtbar. Die private Kreditverschuldung wuchs in Lettland nur noch um 4,6 Prozent, in Estland um elf und in Litauen um 24 Prozent. Diese in ihrer Intensität in Osteuropa einmalige Defizitkonjunktur ist nun zusammengebrochen.

Inzwischen sind die schwedischen Banken, wie auch die baltischen Staaten, auf milliardenschwere Hilfspakete angewiesen. Lettland mußte einen Notkredit in Höhe von 7,5 Milliarden Euro vom Internationalen Währungsfonds aufnehmen, da wegen fallender Steuereinnahmen und ausgetrockneter Finanzmärkte die Baltenrepublik in den Staatsbankrott zu treiben drohte. Spätestens im kommenden Herbst werde auch Estland um Notkredite bitten müssen, erklärten Vertreter der Swedbank vor kurzem. Ohne die notwendigen Einschnitte im Haushalt werde Estland »Bankrott machen«, so der Vorsitzender von Swedbank-Baltic, Erkki Raasuke. Hier spricht der Experte. Beim umschiffen des Bankrotts haben Schwedens Finanzjongleure inzwischen Erfahrungen gesammelt. Ende Januar stimmte die europäische Kommission dem schwedischen Bankenrettungsplan zu, der staatliche Garantien für »mögliche Verluste in den baltischen Nationen« vorsieht. Die kommenden Ausfälle von Konsumentenkrediten und Hypotheken im Baltikum werden somit den baltischen Kreditnehmern und dem schwedischen Steuerzahler aufgebürdet.

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