„Junge Welt“, 12.12.2008
US-Denkfabrik stellt den Nutzen der von Präsident Bush geplanten »Raketenabwehr« in Osteuropa in Frage
Einflußreiche Kräfte in der US-amerikanischen Politik stellen die in Osteuropa geplante sogenannte Raketenabwehr (ABM-System) in Frage. Eine wichtige Denkfabrik der Demokratischen Partei, das in Washington stationierte Center For American Progress, verpaßte in einer Analyse den diesbezüglichen Plänen der scheidenden Bush-Administration ein nahezu vernichtendes Zeugnis. Die USA planen den Aufbau einer entsprechenden Radarstation in Tschechien und die Stationierung von zehn AbfangÂraketen in Nordpolen. Rußland kritisiert dieses Vorhaben vehement, da es sein strategisches nukleares Abschreckungspotential gefährdet sieht.
Der unter dem Titel »Aufbau der Streitkräfte für das 21. Jahrhundert: Neue Realitäten und neue Prioritäten« publizierte Bericht hinterfragt zunächst die Zuverlässigkeit der Raketenabwehr: »Eine weitere Umsetzung des ABM-Programms muß gestoppt werden, bis es seine Effektivität bei realistischen Tests bewiesen hat«, zitiert die russische Nachrichtenagentur RIA-Nowosti aus dem Bericht. Bevor das System nicht »adäquat getestet« sei, müsse von einer »Aufstellung von Raketen und einer Radaranlage in Polen bzw. in Tschechien« abgesehen werden, hieß es weiter.
Doch die Verfasser der Analyse stellen auch generell den strategischen Nutzen eines Raketenabwehrsystems in Frage. Der Abschuß von Raketen gestalte sich immer noch sehr schwierig, und ein eventuell errichtetes ABM-System könne »durch eine einfache Erhöhung der Anzahl der Ziele überwunden werden.« In der Analyse wird auch Philip Coyle zitiert, der ehemaliger Direktor des Ressorts für Tests und Analysen des US-Verteidigungsministeriums, wie RIA-Nowosti berichtet. Dieser ziehe die allgemeine »strategische Logik des Aufbaus des Abwehrsystems in Zweifel«, da hierdurch »Rußland auf unnötige Weise provoziert« würde. Schließlich nennt der Bericht das finanzielle Entlastungspotential des US-Haushalts, das bei einem vollständigen Verzicht auf die Raketenabwehr auf 25 Milliarden US-Dollar beziffert wurde.
Die Hinweise auf eine eventuelle Kehrtwende der neuen US-Administration in der Frage der Raketenabwehr scheinen inzwischen sogar in Osteuropa wahrgenommen zu werden. So erklärte der tschechische Außenminister Karel Schwarzenberg gegenüber Brüsseler Journalisten am vergangenen Sonntag, daß die USA aufgrund der Finanzkrise genötigt sein könnten, den Aufbau der Raketenbasis in Tschechien vorerst auf Eis zu legen: »Ich kann mir eine gewisse Verschiebung des Projekts vorstellen«, so Schwarzenberg wörtlich, der aber umgehend betonte, daß die Tschechische Republik »kein Problem damit« hätte.
Selbst Polens Präsident Lech Kaczynski, einer der verbissensten Anhänger der US-Raketenabwehr, mußte Mitte November zur Kenntnis nehmen, daß sich der Wind in Washington zu drehen scheint. Nach einem Gespräch mit dem designierten US-Vizepräsident Joseph Biden sah sich das polnische Präsidialamt genötigt, eine Presseerklärung zu veröffentlichen, laut der die »Zukunft des Raketenschildes von der Beurteilung der Effektivität und Bezahlbarkeit des Projekts« abhängen würde. Und genau diese »Beurteilung« hat jetzt das Center For American Progress geliefert.