Pokern um EU-Vertrag

„Junge Welt“, 10.12.2008
Widersprüchliche Interessen bei Debatte im tschechischen Parlament. Brüssel setzt Irland unter Druck, »schnellstmöglichst« ein neues Referendum zu organisieren

Kaum eine Debatte des tschechischen Parlaments wurde in Europas Hauptstädten aufmerksamer verfolgt als die am gestrigen Dienstag auf Initiative der Sozialdemokraten (CSSD) einberufene Sondersitzung. Die parlamentarische Aussprache galt dem umstrittenen EU-Reformvertrag von Lissabon, den Teile des politischen Spektrums Tsche­chiens ablehnen. Neben Irland, das den Reformvertrag in einem Referendum abgelehnt hat, bildet die tschechische Republik das letzte Mitgliedsland der Europäischen Union, in dem eine nennenswerte Opposition sich dem undemokratischen, unter weitgehenden Ausschluß der Öffentlichkeit von den europäischen Hegemonialmächten oktroyierten Vertragswerk entgegenstellt.

Die Fronten verlaufen hierbei quer durch das gesamte politische Spektrum. Während die oppositionellen Sozialdemokraten und die an der Regierung beteiligten »Grünen« eine schnellstmögliche Ratifizierung des Lissaboner Vertrages anstreben, sind Teile der regierenden konservativen Demokratischen Bürgerpartei (ODS) um Präsident Vaclav Klaus, wie auch die gesamte Kommunistische Partei Böhmens und Mährens (KSCM), gegen den EU-Vertrag. Es ist insbesondere der Präsident, der unermüdlich den antidemokratischen Charakter und die Machtverlagerung zugunsten der europäischen Großmächte anprangert, die in dem Vertragswerk festgeschrieben wurden. Dieses entspricht in Großteilen der bereits bei Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden gescheiterten EU-Verfassung.

Den stärksten Druck zur schnellen Ratifizierung der reanimierten EU-Verfassung entfalteten im Vorfeld der Debatte die Sozialdemokraten. Am 3. Dezember machte der Vorsitzende der CSSD, Jiri Paroubek, die Unterstützung der Regierung bei der ab Jahresanfang 2009 anstehenden EU-Ratspräsidentschaft Tschechiens von einer raschen Ratifizierung des europäischen Reformvertrages abhängig. »Jedwede Vereinbarung ist ohne die Erfüllung dieser Schlüsselforderung nichtig«, stellte Paroubek kategorisch fest. Dies ist keine leere Drohung, da die Regierungskoalition inzwischen nur noch über 98 von 200 Abgeordneten verfügt, somit auf die Unterstützung seitens unabhängiger oder oppositioneller Abgeordneter angewiesen ist.

Der vom 5. bis 7. Dezember abgehaltene Parteitag der ODS führte überdies zu einem Sieg der proeuropäischen Kräfte in dieser Partei. Der derzeitige, pragmatisch europafreundliche Premier Mirek Topolanek setzte sich in einer Kampfkandidatur gegen seinen Herausforderer, den Prager Bürgermeister Pavel Ben, mit 284 zu 162 Stimmen als Parteivorsitzender durch. Ben kündigte im Vorfeld des Parteitages an, im Falle seiner Wahl zum Parteivorsitzenden eine Resolution auf den Weg zu bringen, die den ODS-Parlamentariern eine »Unterstützung des Lissaboner Vertrages nicht empfehlen« würde. Nach der Niederlage der EU-Kritiker zog auch Präsident Klaus seine Konsequenzen und trat von seinem Posten als Ehrenvorsitzender der ODS zurück.

Doch auch die EU macht derzeit mächtig Druck. Der derzeitige französische Ratspräsident Nicolas Sarkozy setze im Vorfeld der kommenden EU-Gipfels die Iren unter Druck, berichtete die polnische Tageszeitung Gazeta Wyborcza. Bei dem für Donnerstag und Freitag anberaumten Gipfeltreffen solle verbindlich festgeschrieben werden, daß der Reformvertrag am 1. Dezember 2010 in Kraft trete, so die Wyborcza. Derzeit würden »hitzige Verhandlungen« zwischen Paris, Berlin und Dublin geführt, um »schnellstmöglich« ein weiteres Referendum über den EU-Vertrag in Irland organisieren zu können.

Es verwundert somit nicht, daß Teile der ODS diesem Druck ausweichen und schließlich wohl lustlos der Neuauflage der EU-Verfassung zustimmen dürften. Der Lissaboner Vertrag sei »der Preis, den Tschechien für die Teilnahme an der Europäischen Gemeinschaft« zu zahlen habe, erklärte beispielsweise Premier Topolanek. Somit stellt sich nur noch die Frage, wann, und nicht, ob der EU-Vertrag in Prag ratifiziert wird – denn die Konservativen sind durchaus gewillt, noch etwas zu pokern. Letzten Meldungen zufolge wollte die ODS die Parlamentsdebatte blockieren und erst dann über das europäische Vertragswerk abstimmen, wenn die Sozialdemokraten ihre Zustimmung zur Stationierung der US-Radarbasis in Tschechien gegeben haben, die im Rahmen des US-amerikanischen Raketenschutzschildes geplant ist.

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