„Junge Welt“, 06.12.2008
Polen: EU-Bestimmungen entziehen Grenzregion die wirtschaftliche Basis
Bis zum 1. Dezember dieses Jahres galt die »Ameise« als das wirtschaftliche Rückgrat des gesamten östlichen Grenzgebiets Polens. Mit diesem Spitznamen werden die Kleinhändler in der strukturschwachen Region bedacht, die schwer bepackt mehrmals täglich über die Grenze zur Ukraine oder Belarus wandern, um mit Wodka und Zigaretten nach Polen zurückzukehren. Einen Liter hochprozentigen Schnaps und 200 Zigaretten durften die Händler bei jedem Grenzübertritt mit sich führen. Doch jüngst in Kraft getretene EU-Vorschriften entziehen ihnen nun die Existenzgrundlage: Das Limit liegt bei nur noch 40 Zigaretten und einem halben Liter Schnaps.
Für die Grenzregion, in der nahezu alle Großbetriebe stillgelegt wurden, ist dies ökonomisch ein schwerer Schlag. Der Handel bot vielen Menschen die einzig verbliebene Perspektive. Es gibt 16 Grenzübergänge zwischen Polen, der Ukraine und Belarus, die vorsichtigen Schätzungen zufolge täglich von mehreren zehntausend »Ameisen« benutzt wurden. Ganze Ortschaften wie Medyka oder Hrubieszow haben davon gelebt. »Wegen des aus dem Zigarettenverkauf stammenden Geldes, das in Lebensmittel und Kleidung umgesetzt wird, können Läden überleben. Auch werden Steuern daraus bezahlt«,« erklärte jüngst die Stadtverwaltung von Hrubieszow gegenüber der Zeitung Dziennik.
Bis zu 1000 Zloty (etwa 270 Euro) verdienten Polens Kleinhändler monatlich, weil sie die Preisdifferenzen zwischen Polen, Ukraine und Belarus ausnutzten. Ein Kilo Wurst kostet in Belarus beispielsweise umgerechnet etwa zehn, in Polen aber nur fünf Zloty. Einen anständigen Wodka kann man in der Ukraine für zehn Zloty erhalten, während der billigste polnische Fusel erst ab 16 Zloty zu haben ist. Am einträglichsten ist aber der Kleinhandel mit Zigaretten: Eine Schachtel Marlboro kostet in der Ukraine 2,50 und in Polen 9,20 Zloty.
Allein in Medyka überquerten täglich 15000 »Ameisen« die Grenze; an der gesamten Ostgrenze Polens wurden innerhalb eines Jahres 18 Millionen Passagen von Kleinhändlern registriert. Ihrer Lebensgrundlage beraubt, gingen zu Beginn dieser Woche mehrere hundert Betroffene dazu über, den Grenzübergang Medyka zu blockieren. Zunächst versperrten sie den Fußgängerübergang, danach wurde auch der Fahrzeugverkehr lahmgelegt. Daraufhin räumte polnische Polizei die Blockaden. Dabei kam es zu schweren Zusammenstößen, nach denen zwei Polizisten ins örtliche Krankenhaus eingeliefert werden mußten. Am Donnerstag gab die örtliche Staatsanwaltschaft die Aufnahme von Ermittlungsverfahren gegen mehrere Demonstranten bekannt, denen »Angriffe gegen Polizeibeamte« vorgeworfen werden.
Nunmehr finden Dauerkundgebungen in der Nähe des Grenzübergangs Medyka statt. Gerüchten zufolge sollen Proteste auch an den Grenzübergängen nach Belarus organisiert werden: »Wir werde bis zum Ende kämpfen. Es geht um unser Überleben,« erklärte eine Händlerin gegenüber der Regionalzeitung Zycie Podkarpackie. Zudem wird darüber diskutiert, den Protest nach Warschau zu tragen.