Plötzlich überflüssig

„Junge Welt“, 27.02.2009
Osteuropäer galten im Westen lange als hochmotiviert, fleißig und preiswert. Jetzt geraten Millionen Arbeitsmigranten durch Wirtschaftskrise in Existenznot

Die existentielle Krise des Kapitalismus führt auch zu nachhaltigen Änderungen der europäischen Migrationsbewegungen. Es waren Millionen von Osteuropäern, die sich nach der EU-Erweiterungen in den Jahren 2004 und 2007 auf den Weg nach Westen machten, um dem Elend ihrer größtenteils deindustrialisierten Heimatstaaten zu entkommen. Zu den wichtigsten Ursprungsländern der Massenauswanderung zählen Polen, Rumänien und Bulgarien. Hierbei etablierten sich zwei parallel von Ost nach West verlaufende Migra­tionsströme: Im Norden wanderten die polnischen Migranten hauptsächlich gen Großbritannien und Irland aus, im Süden strömten Rumänen und Bulgaren nach Italien und Spanien. Bis zu zwei Millionen Menschen sollen seit 2004 auf diesem Weg Polen verlassen haben. Die Anzahl der rumänischen Arbeitsmigranten wird auf etwa eine Million geschätzt, die der bulgarischen Auswanderer auf 300000.

Nun befinden sich gerade Großbritannien, Irland und Spanien im Epizentrum der Weltwirtschaftskrise, Staaten, die zu den bevorzugten Zielländern der osteuropäischen Auswanderer gehörten. Diese Staaten hatten in den vergangenen Jahren ein besonders stürmisches Wirtschaftswachstum hingelegt, das oftmals von einem Immobilienboom begleitet war. Vor allem der trug zur Nachfrage nach billigen Arbeitskräften bei.

Nach dem Zusammenbruch dieser schuldenfinanzierten Bau- und Konsumsorgie befinden sich nunmehr die Volkswirtschaften aller genannten Länder im freien Fall. Bereits jetzt sind nahezu zwei Millionen Briten offiziell arbeitslos, bis Ende 2009 werden sogar drei Millionen erwartet. In Spanien soll die Erwerbslosenquote bald auf 18 Prozent steigen. Dramatisch ist die Lage auch in Irland, wo inzwischen nahezu zehn Prozent Arbeitslose gezählt werden. Die einstmals händeringend gesuchten Handwerker und Facharbeiter aus Polen oder Rumänien sehen sich nun zunehmender Arbeitsplatzkonkurrenz ausgesetzt.

Für Befremden sorgte in der polnischen Öffentlichkeit eine Welle wilder Streiks, die vor kurzem Großbritannien erschütterte und sich gegen die Beschäftigung von Ausländern auf britischen Baustellen richtete. Unter den Parolen »Britische Arbeitsplätze für britische Arbeiter« und »Briten zuerst« traten Lohnabhängige einer Ölraffinierie bei Lincolnshire in den Ausstand, nachdem sie erfahren haben, daß italienische Vertragsarbeiter ein Bauvorhaben auf dem Gelände realisieren sollen. Binnen weniger Tage schwappten diese Streiks auf mehr als ein Dutzend Betriebe des britischen Energiesektors über. Selbst nachdem in Lincolnshire eine Einigung erzielt wurde, bei der neben den italienischen Arbeitern auch britische Lohnabhängige Berücksichtigung fanden, wurde die Kampagne fortgesetzt. Von Pöbeleien berichtete auch ein polnischer Journalist, der dem Protest gegen ausländische Arbeiter vor dem Elektrizitätswerk der Isle of Grain beiwohnte: »Dank euch, den Polen, ist schon jede Oma in dieser Stadt eine Faschistin. Ich bin auch Nationalist. Und alle in England werden es sein. Ihr nehmt uns die Arbeit weg«, wurde er beschimpft.

Dabei setzt der Exodus der polnischen Arbeitsmigranten aus Irland und England bereits ein. An die 60 Prozent der 1,2 Millionen Polen, die in Großbritannien und Irland leben, wollen nun erneut auswandern. Umfragen zufolge werden als beliebte Zielländer vor allem Norwegen, Kanada und Australien genannt. Jedoch plant nahezu eine halbe Million dieser Migranten, nach Polen zurückzukehren.

Anders sieht es in Spanien aus, wo sich etwa eine halbe Million rumänischer Arbeitsmigranten und weit über 100000 bulgarische Wanderarbeiter durchzuschlagen versuchen. Die spanische Regierung bemüht sich derzeit, die Immigranten zur Rückkehr in ihre Heimatländer durch Kompensa­tionszahlungen von bis zu 14000 US-Dollar zu bewegen. Doch hat diese Aktion bislang nur bescheidene Erfolge erzielt, da bis Januar nur 1400 ausländische Arbeitskräfte dieses Angebot annahmen. Für rumänische Arbeitsmigranten gibt es nicht viele Ausweichmöglichkeiten. Die meisten EU-Staaten schotten ihre Arbeitsmärkte gegenüber den EU-Neumitgliedern ab. In vielen Regionen Spaniens schliefen die ausländischen Wanderarbeiter – die längst wieder von einheimischen Arbeitskräften verdrängt wurden – inzwischen »in den Türbogen der Häuser oder im Kirchenasyl«, berichtete das Wall Street Journal (WSJ). Man betrete »unbekanntes Terrain«, skizzierte Ökonom Fernando Eguidazu die Situation gegenüber dem WSJ, »da ist nun einer Gruppe von fünf Millionen Immigranten«, und die Wirtschaft schrumpfe dramatisch. »Wir wissen nicht, wie das ausgehen wird.«

Wie schnell Ausländer zu Prügelknaben werden können, läßt sich momentan südlich der Alpen beobachten. In Italien, wohin nahezu 300000 Rumänen auswanderten, schaukelt sich – angefacht von der Regierung Berlusconi – die ausländerfeindliche Stimmung in weiten Teilen der Bevölkerung hoch. Nach einigen Ausländern zur Last gelegten Vergewaltigungen demonstrierte die faschistische Forza Nuova am 23. Februar in über 100 italienischen Städten für Verschärfungen im Ausländerrecht. Die italienischen Medien, die praktischerweise zum guten Teil dem Regierungschef gehören, überboten sich in einer fremdenfeindlichen Hysterie über diese Fälle. Schließlich »beugte« sich Berlusconi dem – selbst entfachten – Druck und brachte neue Gesetzesverschärfungen auf dem Weg, die unter anderem den Aufbau von »Bürgerwehren« vorsehen. Viele der derzeit noch vermummt Ausländer angreifenden italienischen Faschisten dürften in dieser neu geschaffenen Formationen Aufnahme finden.

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