Oranje im Niedergang

„Junge Welt“, 03.08.2013
Immobilienblase, Stagnation, hohe Arbeitslosigkeit, Überschuldung: Die Systemkrise erfaßt mit den Niederlanden das erste Kernland der Euro-Zone

Die niederländische Rechtsregierung gilt als einer der letzten europäischen Verbündeten Berlins. Das Kabinett um Premier Mark Rutte stützte bisher vorbehaltlos dessen Spardiktat in der Euro-Zone, während es zugleich selbst immer neue Kürzungsprogramme auflegte, um die EU-Haushaltsauflagen zu erfüllen. So sollen nach der Sommerpause erneut Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen im Umfang von rund sechs Milliarden Euro wirksam werden.

Der »Spareifer« in Den Haag kann kaum darüber hinwegtäuschen, daß sich die Niederlande mit einer ausgewachsenen Schuldenkrise konfrontiert sehen, deren Dimension sogar die Südeuropas in den Schatten stellt. Damit scheint das erste Kernland der Euro-Zone vor ähnlichen Verwerfungen zu stehen, wie jenen, die bislang Südeuropa verheerten.

Deutschlands westlicher Nachbar weist die höchste private Verschuldungsrate Europas auf, die inzwischen bei 250 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) liegt. Zum Vergleich: Die Verbindlichkeiten der Privathaushalte in Spanien haben nie den Wert von 125 Prozent des BIP überschritten. Ein großer Teil dieses Schuldenberges ist auf die Hypotheken zurückzuführen, die während des lang anhaltenden Immobilienbooms im Oranje-Staat abgeschlossen wurden. Das Volumen ausstehender Hypothekenkredite stieg von 140 Milliarden Euro 1995 (das waren 46 Prozent des BIP) auf 640 Milliarden im vergangenen Jahr, was etwa 105 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung des Landes entspricht. Eine erste kleinere Bankenrettung (zehn Milliarden Euro) mußte der Staat bereits Anfang 2013 wegen der Bankengruppe SNS Reaal schultern.

Im Zeitraum zwischen Euro-Einführung und dem Höhepunkt der Spekulationseuphorie 2008 verdoppelten sich die Wohnungspreise. Nun geht es steil abwärts: Seit die Immobilienblase zusammenfiel sind die Preise für Wohneigentum um durchschnittlich 16,6 Prozent eingebrochen. Selbst die niederländische Maklervereinigung geht von einem weiteren Wertverfall von sieben Prozent allein in diesem Jahr aus. Dadurch gerät das gesamte Finanzsystem immer stärker in Schieflage, weil in immer mehr Fällen der Wert der Häuser niedriger ist als der der Hypotheken, die zu ihrem Erwerb abgeschlossen wurden.

Diese charakteristischen Krisensymptome haben bereits 20 Prozent der Hypothekenverträge erfaßt. Sollten die Häuserpreise um weitere zehn Prozent fallen, wäre sogar jede Dritte abgeschlossene Hypothek nicht mehr durch den Wert der damit finanzierten Immobilie gedeckt. Verstärkte Verluste der niederländischen Banken, die ohnehin steigende Ausfallraten bei Hypotheken melden, wären das Ergebnis. Hypotheken umfassen rund ein Drittel aller Kreditgeschäfte des niederländischen Finanzsektors.

Der anhaltende Preisverfall geht mit einer entsprechenden Kontraktion der Binnennachfrage einher, die bereits zwei Jahre andauert. Seit Krisenausbruch 2008 sind die Einzelhandelsumsätze um nahezu 20 Prozent zurückgegangen, wobei der Absatz langlebiger Güter einen regelrechten Einbruch verzeichnet: Neuzulassungen von Pkw sind beispielsweise im Juni um 53,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr abgesackt. Insgesamt ging der private Konsum zwischen Mai 2012 und Mai 2013 um 1,8 Prozent zurück.

Die Nachfrageeinbrüche, die durch private Überschuldung und staatliche Sparbemühungen ausgelöst wurden, haben zu einer langanhaltenden Periode sinkender Wirtschaftsleistung und Stagnation geführt. Die Niederlande befinden sich bereits in der dritten Rezession seit 2009, das BIP fiel im ersten Quartal 2013 um 1,8 Prozent. Selbst die Regierung Rutte geht davon aus, daß in diesem Jahr die Wirtschaftsleistung um rund ein Prozent schrumpfen werde. Folglich hat sich die Arbeitslosenquote seit Krisenausbruch mehr als verdoppelt. Im Juni wurden vom Statistischen Amt der Niederlande 675000 Personen als arbeitslos erfaßt, das waren 8,5 Prozent aller arbeitsfähigen Lohnabhängigen – im Mai betrug die Quote 8,3 Prozent.

Das Land, das mit der großen Tulpenspekulation (»Tulpenmanie«) von 1637 die erste größere Spekulationskrise der Weltgeschichte auslöste, wird selbst nach der Einschätzung bürgerlicher Wirtschaftsblätter noch lange unter den Folgen der geplatzten Immobilienblase leiden. Es gebe aufgrund der privaten wie staatlichen Ausgabekürzungen und der fallenden Binnennachfrage »keinen schnellen Ausweg« aus der Stagnation, kommentierte das Wall Street Journal. Während das Land immer stärker »vom Kern der Euro-Zone abdriftet«, laufe es Gefahr, seine Top-Bonitätsnote »AAA« bei den großen Ratingagenturen zu verlieren. Holland werde »hochgehen, genauso wie Irland, Griechenland oder Portugal«, kommentierte das US-Nachrichtenportal Marketwatch. Der einzige Unterschied bestehe darin, daß die Zündschnur im Fall der Niederlande »etwas länger« sei.

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