Auf in die Schuldenunion

„Junge Welt“, 15.06.2012
Rettung oder Amoklauf: Kann eine umfassende wirtschaftliche und politische Integration der Euro-Zone helfen, deren schwere Krise zu überwinden

In der deutschen Presse mehren sich Berichte, in denen die Öffentlichkeit auf einen weiteren europäischen Integrationsschub vorbereitet wird. Die Welt berichtete Anfang Juni von einem geheimen »Masterplan«, ausgeheckt in den Hinterzimmern der EU-Bürokratie, der bei einem abermaligen Krisengipfel Ende Juni enthüllt werden solle. Darin seien Grundlagen eines europäischen »Superstaates« skizziert. Es gehe um »eine Fiskalunion, eine Bankenunion, eine politische Union«, sowie »die Festschreibung von Strukturreformen« in den einzelnen Mitgliederstaaten. Dieser »Zukunftsplan« liefe allerdings auf die Spaltung der Europäischen Union hinaus, da die diskutierten Integrationsschritte nur auf die Euro-Zone abzielen.

In der Arbeitsgruppe, die laut der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) beim letzten EU-Krisengipfel Ende Mai eingerichtet worden sei, brächten EU-Ratspräsident Hermann Van Rompuy, Euro-Gruppen-Chef Jean-Claude Juncker, EU-Kommissionschef José Manuel Barroso und der Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, ihre Vorstellungen über die Zukunft des Währungsraumes zu Papier. Wie Spiegel-Online berichtete, gehe es hierbei »um erste Schritte hin zu den Vereinigten Staaten von Europa«. Demnach soll ein zentrales Machtzentrum geschaffen werden, das mit umfassenden Befugnissen ausgestattet in der Lage sei, tief in die nationalen Souveränitätsrechte der einzelnen Mitgliedsstaaten einzugreifen.

Man kann dieses Vorgehen Verschwörung gegen bestehende Verfassungsgrundsätze nennen, denn es sind keine einfachen Gedankenspiele mehr: Die Vorschläge erschüttern faktisch die Grundfeste nationaler Souveränität. Im europäischen Superstaat der Zukunft sollen die Mitgliedsländer z.B. nicht mehr in der Lage sein, eigenständig Kredite aufzunehmen. Ausgaben, die nicht mehr durch eigene Einnahmen gedeckt seien, müßten die nationalen Regierungen (die dann lediglich Verwaltungen wären) bei einem künftigen zentralen EU-Gremium beantragen. Auf dieser Ebene würde »dann gemeinsam entschieden, welches Land in welcher Höhe neue Schulden machen darf«, so das Spiegel-Onlineportal. Dieser Genehmigungsprozeß soll von Vertretern der einzelnen nationalen Parlamente überwacht werden. Im Gegenzug sollen künftig gemeinsame Anleihen, sogenannte Euro-Bonds, zur Finanzierung der »genehmigten Schulden« ausgegeben werden. Diese durch die Medien geisternden Überlegungen spiegeln die Vorschläge wider, die das deutsche EZB-Direktoriumsmitglied Jörg Asmussen bereits Ende Mai in die Öffentlichkeit lancierte (siehe jW vom 23. Mai).

Tatsächlich gilt Berlin – und hier insbesondere Kanzlerin Angela Merkel – als die treibende Kraft hinter diesen Ini­tiativen und dem korrespondierenden Kalkül, laut dem die Krise durch eine forcierte europäische Integration überwunden werden könnte. Das Wall Street Journal (WSJ) berichtete unlängst, diese Bemühungen seien Teil eines »Kurswechsels« der deutschen Krisenpolitik. Berlin sende derzeit »starke Signale«, daß es bereit sei, »seine Einwände gegen Euro-Bonds aufzugeben«, wenn andere Staaten bereit seien, »weitere Machtbefugnisse an Europa zu transferieren«. Neben der Kontrolle der Kreditaufnahme und den Euro-Bonds seien laut WSJ noch eine gemeinsame Finanzmarktaufsicht und Einlagensicherung, die strikte Koordinierung der nationalen Steuerpolitik, sowie eine »Stärkung der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik« im Gespräch.

Diesem Integrationsschub verweigere sich insbesondere Paris, das gegen Einschränkungen seiner haushaltspolitischen Souveränität »unerschütterlich opponiere«. Es sei immer noch unklar, ob bis zum kommenden EU-Krisengipfel »Hollande seine Opposition aufweichen« werde, so das WSJ. Die Gründe für diesen Widerstand werden aus einer von der Welt lancierten Bemerkung Merkels ersichtlich, mit der sie bei Euro-Skeptikern in den Reihen der CSU für eine enge politische Union warb, weil dies »auch stärkere Zugriffsrechte mit sich bringe, um Schuldenländer zur Haushaltskonsolidierung zwingen zu können«. Deutschland wäre von den haushaltspolitischen Einschränkungen kaum betroffen, da Berlin vermittels der gigantischen eigenen Leistungsbilanzüberschüsse den Haushalt auf Kosten der Euro-Zone sanieren könnte. Die meisten Euro-Staaten müßten indes schwerwiegende Souveränitätseinbußen hinnehmen. Die in den Medien propagierte »europäische« Integrationsoffensive, entpuppt sich als Teil des Machtkalküls Deutschlands.

Euro-Bonds und die forcierte EU-Integration wären jedoch nur die unverzichtbaren Mindestvoraussetzungen, um den sich inzwischen deutlich abzeichnenden Zusammenbruch der Währungsunion zumindest zu verzögern. Die Integrationsbemühungen waren spätestens mit der Einführung des Euro nur ein institutioneller Reflex auf die kapitalistische Systemkrise. Das »europäische Haus« wurde auf einem beständig wachsenden Schuldenberg errichtet, der Deutschlands Exportindustrie schuldenfinanzierte Märkte und den Peripheriestaaten ihre Defizitkonjunkturen verschaffte. Nachdem dieses Modell nicht mehr funktioniert, droht das Gebilde »Euro-Zone« an Rezession, Haushaltskrisen und aufbrechenden nationalen Gegensätzen zu scheitern. Das kapitalistische Europa kann genausowenig ohne weitere Verschuldung funktionieren, wie das gesamte, in Agonie befindliche spätkapitalistische Weltsystem. Die von Berlin jetzt betriebene Einführung einer »politischen Union« gleicht nicht nur einer Flucht nach vorn – sondern scheint ein Amoklauf in weitere Verschuldung bei größerer Kontrolle über die Schuldenaufnahme zu sein.

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