»Märkte« erfreut

„Junge Welt“, 24.11.2011
Polens neue alte Regierung kündigt »schmerzhafte Reformen« an

Am vergangenen Freitag wurde in Warschau Geschichte geschrieben. Zum ersten Mal seit der Systemtransformation wurde einer wiedergewählten Regierung vom polnischen Unterhaus, dem Sejm, das Vertrauen ausgesprochen. Bislang wurde jede polnische Regierungspartei nach ihrer ersten Amtsperiode von den Wählern in die Opposition geschickt. Bei der Abstimmung sprachen 224 Parlamentarier der Regierungskoalition aus rechtsliberaler Bürgerplattform (PO) und der Bauernpartei PSL dem Kabinett Tusk ihr Vertrauen aus. Gegen die Neuauflage der rechtsliberalen Regierungskoalition stimmten 211 Abgeordnete der drei im Sejm vertretenen Oppositionsparteien, der rechtskonservativen Recht und Gerechtigkeit (PiS), der sozialdemokratischen Vereinigung der demokratischen Linken (SLD) und der linksliberal-populistischen Palikot-Bewegung (Ruch Palikota).

Bei den meisten Schlüsselressorts im Kabinett Tusk bleiben Personalwechsel aus. Der in Großbritannien und den USA politisch aufgebaute Radoslaw Sikorski, der unter anderem Anfang der 1990er Jahre den Medienmogul Rupert Murdoch bei Investitionen in Polen beriet, bleibt weiterhin polnischer Außenminister. Ebenfalls seinen Posten behalten konnte der in Großbritannien geborene Jacek Rostowski, der als Absolvent der London School of Economics wie bisher das Finanzressort leiten wird. Polens Bauernpartei PSL wird mit Waldemar Pawlak auch künftig den Wirtschaftsminister stellen. Der rechte Flügel der PO wiederum wird in Gestalt von Jaroslaw Gowin das polnische Justizministerium okkupieren.

Die größtenteils unveränderte Regierungsmannschaft wird laut Premier Donald Tusk keine Zeit verlieren und unverzüglich den Sozialkahlschlag umsetzen, der während des Wahlkampfes mit keinem Wort erwähnt wurde. In seiner Regierungserklärung umriß Tusk die Grundzüge einer Reform des Steuer- und Rentensystems, mit der die Staatsverschuldung Polens rasch gesenkt werden solle. Im Zentrum der Maßnahmen steht die schrittweise Erhöhung des Renteneintrittsalters für Männer und Frauen auf 67 Jahre bis 2020. Derzeit liegt dieses für Frauen bei 60 und für Männer bei 65 Jahren. Zudem werden Vergünstigungen bei den Rentenregelungen für eine Reihe von Berufsgruppen wie Bauern, Bergleute, Richter, Priester und Staatsanwälte gestrichen. Weitere Einsparungen will die Regierung beim ohnehin mageren Kindergeld sowie durch die Streichung diverser Steuervergünstigungen realisieren. Die Unternehmer Polens müssen sich auf eine minimale Anhebung ihrer Beiträge zur Rentenversicherung um zwei Prozent einstellen.

Mit diesen Maßnahmen soll das Haushaltsdefizit, das 2010 bei knapp acht Prozent lag, im kommenden Jahr um drei Prozentpunkte gesenkt werden, um bis 2015 eine Reduzierung der derzeitigen Staatsschuld von 55 Prozent der Wirtschaftsleistung auf 47 zu erreichen. Diese »unpopulären Maßnahmen« seien Tusk zufolge notwendig, damit das Land sicher durch das Krisenjahr 2012 komme. Der wiedergewählte Regierungschef beendete seine Rede mit dem Appell, an »die Zukunft Polens zu glauben«.

Die angekündigten »Reformen« haben zumindest bei der polnischen Unternehmervereinigung PKPP Lewiatan die Zukunftsgläubigkeit gestärkt. In einer ersten Erklärung begrüßte diese die Anhebung des Rentenalters ausdrücklich. Ähnlich äußerten sich Finanzanalysten und Vertreter von Ratingagenturen. Seitens der Agentur Standard & Poor’s hieß es, die angekündigten Kürzungen könnten zum Abbau der Staatsverschuldung in Polen beitragen. Als eine »gute Nachricht für die Märkte« wurde die Erhöhung des Renteneintrittsalters von dem Analysten Anders Svendsen von der Nordea Bank bezeichnet.

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