Operation Sparstrumpf

Dieser Text erschien in der ak, 565, 21.10.2011

Eskalierende Konflikte bringen das Haus Europa ins Wanken

Mit der Eskalation der europäischen Schuldenkrise scheinen auch die Konflikte zwischen den Mitgliedsländern und Institutionen der Eurozone an Intensität zu gewinnen – wie auch innerhalb einzelner Euro-Staaten. Die Frontverläufe ziehen sich quer durch politische Gruppierungen wie internationale Allianzen und zeigen das Unvermögen der Politik, die derzeitige Systemkrise mittels systemimmanenter Maßnahmen zu überwinden. Tomasz Konicz zeichnet die Konfliktlinien nach und geht den Ursachen auf den Grund.

Die Auseinandersetzungen innerhalb der deutschen Regierungskoalition und die zunehmenden Spannungen auf europäischer Ebene sind eng miteinander verflochten. Die Konflikte eskalieren einerseits aufgrund einer Fülle sich zuspitzender Interessengegensätze: Zentral ist hierbei die – aus innenpolitischem Druck resultierende – Weigerung Berlins, weitergehende Maßnahmen zur Stabilisierung der Eurozone einzuleiten.

Die New York Times (12.9.11) konstatiert eine „Kakophonie“ in Berlin, die „neue Zweifel an dem Engagement dieser Nation für den Euro“ säe. Der Abgang des deutschen EZB-Chefvolkswirts Jürgen Stark sei ein Zeichen wachsender „Frustration“ und „Enttäuschung“ in Berlin. Den aufkommenden aggressiven Nationalismus in Deutschland darf ein Ökonom in dem US-amerikanischen Leitmedium folgendermaßen umreißen: „Die deutsche Wählerschaft ist nicht in der Stimmung, um Aktionen zuzulassen, die sie als Subventionierung weniger wertvoller Nationen ansieht. Infolge dessen schlägt die Regierung einen sehr isolationistischen Weg ein, bei dem sie eine Festung Deutschland zu errichten versucht, die ökonomisch sicher ist, trotz der Risiken der europäischen Partner.“

Grenzen des kreditfinanzierten Wachstums

Der deutsche Chauvinismus kann getrost als der bislang größte Krisengewinner in Europa bezeichnet werden. Inzwischen bricht sich sogar das alte deutsche Faible für die öffentliche Demütigung dissidenter Gruppen Bahn: Günther Oettinger forderte jüngst, die Fahnen europäischer Schuldenstaaten vor EU-Institutionen auf Halbmast zu setzen. Und der Präsident des CDU-Wirtschaftsrates, Kurt Lauk, fordert EU-Präsident Barroso zum Rücktritt auf, weil dieser die „Todsünde“ beging, eine Initiative für Eurobonds zu starten.

Harte Auseinandersetzungen gibt es auch bei der Streitfrage der Aufkäufe von Staatsanleihen überschuldeter Euroländer durch die EZB, die ebenfalls von Deutschland hart kritisiert werden und maßgeblich zum Abgang von Jürgen Stark geführt haben.

Zudem finden in der EU verstärkt Streitereien über eine forcierte Integration statt. Vor allem Frankreich hofft, mittels einer weitergehenden europäischen Integration die Krise überwinden zu können, indem etwa eine gemeinsame Haushalts- oder Steuerpolitik ausgearbeitet würde. Ähnlich argumentiert der luxemburgische Premierminister und Vorsitzende der Euro-Gruppe, Jean-Claude Juncker. Auch an dieser Front betätigt sich die deutsche Politik als Bremser.

Hinzu kommen noch weitere Frontverläufe, wie etwa die Kritik mehrerer mittelosteuropäischer Staaten an der deutsch-französischen Hegemonie in der EU oder der Streit zwischen der Eurogruppe und den USA um weitere Konjunkturpakete, die vehement von Washington gefordert werden. Daneben meldete sich noch China mit dem Vorschlag, eventuell mit Milliardenkrediten die Eurozone zu stützen. Schließlich nehmen auch in anderen Euroländern die innenpolitischen Spannungen zu, wobei dort nicht – wie in Deutschland oder Österreich – der Chauvinismus hochkocht, sondern die Proteste gegen den Sparterror und die Krisenpolitik der eigenen Regierung zunehmen.

Diese kaum noch überschaubare Vermehrung und Intensivierung von Konflikten resultiert aus der jüngsten Zuspitzung der objektiven Systemkrise des Kapitalismus. Die Systemstrukturen der EU befinden sich in Auflösung, da alle wichtigen Akteure derzeit verstärkt bemüht sind, ihre Interessen durchzusetzen, ohne die zuvor üblichen Kompromisse einzugehen. Durch diesen Verteilungskampf zwischen einzelnen Staaten, Institutionen oder gesellschaftlichen Gruppen geraten die zuvor starren Strukturen der EU in einen instabilen oder quasi „verflüssigten“ Zustand. Es ist klar, dass die EU, wie wir sie kennen, die Krise nicht überstehen wird.

Interessengegensätze zwischen den einzelnen Staaten haben die EU schon immer geprägt. Doch wieso gewinnen gerade in der Krise die Auflösungstendenzen überhand? Wieso ist das „Europäische Haus“ nicht krisenfest, sodass eine Kompromissfindung nun unmöglich scheint? Europas Integration zu einem Währungsraum wurde erst dadurch ermöglicht, dass die Regierungen der beteiligten Staaten glaubten, die Vorteile dieses Integrationsprojektes würden dessen Nachteile weit überwiegen. Deutschland – präziser: die deutsche Exportindustrie – hat ja bekanntlich die größten Vorteile aus der Eurozone gezogen. Seit der Einführung des Euro summierten sich Deutschlands Leistungsbilanzüberschüsse gegenüber der Eurozone auf nahezu 750 Mrd. Euro, was einem Vermögenszufluss in gleicher Höhe nach Deutschland gleichkommt.

Bei der EU handelte es sich also bereits um eine Transferunion – um eine Transferunion zugunsten der deutschen Exportindustrie, die nicht zuletzt dank sinkender Löhne und der Prekarisierung der Lohnabhängigen in der BRD ermöglicht wurde. Die südlichen Länder der Eurozone schienen als Nettoempfänger aufgrund der Finanzzuwendungen aus Brüssel und der niedrigen Zinsen bei der Begebung von Staatsanleihen von der Eurozone zu profitieren. Die südeuropäischen Euroländer konnten die Verschuldung ihrer Volkswirtschaften, die aufgrund der deutschen Außenhandelsüberschüsse rasch zunahm, eine Zeit lang äußerst günstig finanzieren. Diese südeuropäische Schuldenmacherei wirkte konjunkturbelebend. In vielen überschuldeten Ländern entwickelten sich regelrechte Defizitkonjunkturen, bei denen die Verschuldungsdynamik zur wichtigsten wirtschaftlichen Triebkraft avancierte. Irland und Spanien wiesen beispielsweise vor Krisenausbruch aufgrund der dortigen Immobilienblasen jahrelang ein weitaus höheres Wirtschaftswachstum als etwa Deutschland aus. Sowohl die Peripherie wie auch das Zentrum der EU schienen von der „europäischen Integration“ aufgrund der fortschreitenden Verschuldung zu profitieren.

Diese Konstellation ist bekanntlich nicht mehr gegeben. Aufgrund der Überschuldung in der Eurozone wird diese künftig für die deutsche Exportwirtschaft keine solche herausragende Rolle mehr spielen, weshalb auch nun in der deutschen Öffentlichkeit die Europaskepsis um sich greift und Bestrebungen stärker werden, die verschuldeten Länder möglichst günstig zu entsorgen. Konfrontiert mit steigenden Kosten und abschmelzenden europäischen Absatzmärkten ist Berlin bemüht, Deutschlands Verflechtung mit der EU auf ein Minimum zu reduzieren.

EU zwischen Desintegration und Integration

Zudem strebt Berlin an, die Eurozone gemäß seiner Interessen umzubauen, indem strikte Haushaltspolitik gepredigt wird und Schuldenbremsen eingeführt werden sollen. In den meisten EU-Institutionen, in Frankreich (dessen Banken besonders stark in der südlichen Hälfte der Eurozone exponiert sind) und bei den südlichen Euroländern herrscht eine gegenläufige Tendenz vor. Hier wird eine Umgestaltung der europäischen Strukturen angestrebt, um Deutschland an den Krisenkosten zu beteiligen: Seien es nun Eurobonds oder ein stark erweiterter Krisenmechanismus EFSF, der neuesten Vorschlägen zufolge Geld direkt an Banken überweisen können soll. Somit prallen derzeit antagonistische Interessenkoalitionen innerhalb der EU aufeinander, die letztendlich auf Desintegration (Deutschland) oder weitere Integration (Frankreich, Südeuropa) abzielen.

Unbeeindruckt von den innereuropäischen Konflikten gewinnt die kapitalistische Systemkrise derweil weiter an Dynamik. Aufgrund des sehr wahrscheinlichen Bankrotts Griechenlands droht der Eurozone eine erneute Finanzmarktkrise, die sich bereits durch steigende Zinsen im Interbankenhandel ankündigt und die nur durch Liquiditätsspritzen der EZB kurzfristig hinausgezögert werden konnte. Dabei wäre eine Pleite Griechenlands für den europäischen Finanzsektor vielleicht noch verkraftbar, wenn nicht zugleich weitere überschuldete Länder – wie etwa Italien – von den folgenden Schockwellen auf den Finanzmärkten erfasst würden. Dies ist aber sehr wahrscheinlich, da ein Bankrott in Athen wohl automatisch zu höheren Zinslasten für Italien und Spanien führen würde. Ein solcher „Dominoeffekt“ in der europäischen Schuldenkrise würde aber die EU und deren Finanzsystem endgültig sprengen. Die Staatsschuldenkrise Europas ist zugleich eine Krise des europäischen Finanzsystems, das diese Defizitbildung erst ermöglicht hat.

Zugleich kündigt sich bereits die kommende Rezession in der EU und auch in Deutschland an, die gerade aufgrund der – maßgeblich von Berlin durchgesetzten – europaweiten Sparprogramme Einzug erhält. Mit dem Versiegen der kreditfinanzierten Impulse der Konjunkturpakete geht die Weltwirtschaft erneut in die Rezession über. Diese tatsächlich gegebene „Abhängigkeit“ des Weltwirtschaftssystems von kreditfinanzierter Nachfrage bildet auch den Hintergrund für die vordergründig absurd anmutende Initiative von US-Finanzminister Geithner und US-Außenminister Panetta, die Europa auf dem Höhepunkt einer Schuldenkrise zu weiteren kreditfinanzierten Konjunkturpaketen überreden wollen.

Deutsche Strategie öffentliche Demütigung

Die „Krisenfalle“ schnappt somit auch in der EU zu: Die Politik müsste eigentlich Konjunkturprogramme auflegen, um die dahinsiechende Wirtschaft zu stimulieren, und zugleich harte Sparmaßnahmen durchsetzen, um die Haushaltslage zu stabilisieren. Dabei wirkt die europäische Gemeinschaftswährung tatsächlich als ein Katalysator der Krisenprozesse, der dazu beigetragen hat, dass zuerst in der EU die Schuldenkrise in ein katastrophales Stadium zu treten droht: Der Euro nahm den unterlegenen südeuropäischen Volkswirtschaften die Möglichkeit, mit dem Aufkauf eigener Staatsanleihen und einer eigenständigen Niedrigzinspolitik die Krisenfolgen zu dämpfen, wie es etwa Großbritannien tut. Stattdessen setzte Berlin bereits vor Monaten eine Zinswende im Euroraum durch, die zusätzlich zur Konjunkturabkühlung in Südeuropa beitrug. Die mangelnde geldpolitische Souveränität der europäischen Schuldenstaaten nahm ihnen somit wichtige Möglichkeiten, die derzeitige Zuspitzung der Krise zu verzögern.

Die politische Klasse kann versuchen, die schuldenfinanzierte Massennachfrage möglichst lange aufrechtzuerhalten, um einen Wirtschaftseinbruch möglichst lange hinauszuzögern. Implizit hat dies US-Finanzminister Geithner bei seiner Initiative im polnischen Wroclaw anlässlich eines Treffens der europäischen NotenbankerInnen und FinanzministerInnen auch eingestanden, während das von Berlin angeführte Europa sich diesen Einsichten verweigert und vermittels drakonischer Sparprogramme die Krise vertieft. In der EU wird dieser Streit zwischen den BefürworterInnen weiterer Verschuldung und den knallharten HaushaltssaniererInnen durch die divergierenden Interessen der einzelnen Länder und die damit einhergehenden gegenläufigen Tendenzen zur Verstärkung oder Lockerung der europäischen Integration verstärkt.

In der Krise droht nun aufgrund des Zusammenbruchs der genannten Defizitkreisläufe der Rückfall in Chauvinismus, Nationalismus, Barbarei. Für die Linke stellt sich somit die Aufgabe, diesen reaktionären Tendenzen entgegenzutreten, den Kampf gegen die kapitalistische Krise auf globaler Ebene zu organisieren und zu koordinieren – und für eine Systemalternative zu kämpfen, in der neben Kapital und Staat auch die künstlichen nationalen Trennlinien der Vergangenheit angehören. Der Aufbau transnationaler oder globaler Organisations- wie Gesellschaftsstrukturen, an denen der Kapitalismus nur scheitern kann, muss auch angesichts der Fülle globaler Probleme, denen sich die Menschheit gegenübersieht, von der Linken auf die Tagesordnung gesetzt werden. Künftige Kämpfe müssen auch praktisch global geführt werden. Ansätze hierzu zeichnen sich bereits mit der Occupy-Wall-Street-Bewegung ab, die klar auf eben solch eine globale Koordinierung und Organisierung des Kampfes gegen die Krise abzielt.

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