Visapflicht für Tschechen

„Junge Welt“, 01.08.2009
Auflagen aus Ottawa sorgen in Prag für Mißmut und Gegenmaßnahmen. Immer mehr Roma ­beantragen Asyl in Kanada. Studien belegen anhaltende Diskriminierung

Seit dem 14. Juli herrscht dicke Luft zwischen Kanada und Tschechien. An diesem Tag führte Ottawa die Visumspflicht für tschechische Bürger wieder ein. Seitdem grübelt man in Prag über eventuelle Vergeltungsmaßnahmen. Ergebnis: Für kanadische Staatsbürger sollen Touristenvisa eingeführt werden. Nach einem Treffen der EU-Außenminister am Montag stellte sich auch Brüssel auf die Seite Tschechiens und forderte Kanada auf, die Visumspflicht für Tschechen abzuschaffen.

Ursächlich ausgelöst wurden die diplomatischen Spannungen durch einen rapiden Anstieg von Asylanträgen tschechischer Roma. Diese suchten in Kanada Schutz vor sich häufenden Übergriffen faschistischer Banden und dem alltäglichen Rassismus in Tschechien. Während 2006 kaum diesbezügliche Anträge in Kanada verzeichnet worden waren, waren es 2008 – nach der Aufhebung der Visapflicht 2007 – bereits 861. In den ersten drei Monaten dieses Jahres stieg die Anzahl schutzsuchender Flüchtlinge bereits auf 653. Ottawa zieht mit der Einführung der Visapflicht nun die Bremse, nachdem kürzlich eine von der kanadischen Regierung in Auftrag gegebene Studie zu dem Ergebnis gekommen war, daß die tschechischen Roma tatsächlich diskriminiert werden.

In dem Bericht werden neben den Brandanschlägen auf Wohnhäuser der Roma im osttschechischen Vítkov auch etliche Fälle alltäglicher Diskriminierung dargestellt. Demnach würden Roma in Tschechien »aus Angst vor Übergriffen selten mit der Bahn fahren«. Berichte von Roma, denen der Zugang zu Restaurants verweigert wurde, wurden in der Studie ebenso dokumentiert wie die Schwierigkeiten, mit denen die Mitglieder dieser Minderheit bei der Wohnungssuche konfrontiert sind.

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt ein 400 Seiten starker Bericht des tschechischen Ministers für Menschenrechte, Michael Kocáb, der eine Woche nach Einführung der Visapflicht an die Regierung in Prag übergeben wurde. Hierin räumt Kocáb ein, daß tschechische Roma in vielen Lebensbereichen diskriminiert werden. Besonders schlecht seien die Bildungschancen der Roma. Etwa 30 Prozent der Kinder würden in Sonderschulen abgeschoben – unter den Nicht-Roma beträgt der Anteil nur gut zwei Prozent.

Auf eine wachsende Ghettoisierung verwies jüngst Ivan Veselý, stellvertretender Vorsitzender des Rates für Roma-Angelegenheiten, gegenüber Radio Prag: »In Tschechien gibt es derzeit etwa 300 Ghettos«, die allesamt nach Ende des real existierenden Sozialismus entstanden seien. Vesely verwies zudem auf die sozialen Umbrüche innerhalb der ethnischen Minderheit in den vergangenen Jahren. Demnach hätte die kommunistische Regierung vor 1989 »die Roma zu Angehörigen der Arbeiterklasse« gemacht. Doch nun seien diese von einem rasanten sozialen Abstieg betroffen, da »von den 200 000 bis 250 000 Roma in Tschechien etwa 60 Prozent dem Lumpenproletariat angehören«.

Die Hauptverantwortung für die Zunahme der Ressentiments gegenüber den Roma tragen die sich im Aufwind befindlichen faschistischen Kräfte Tschechiens, wie beispielsweise die »Arbeiterpartei« (DS), die nahezu im Wochenrhythmus provokative Aufmärsche in Roma-Ghettos veranstaltet. Angesichts der an Intensität gewinnenden Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise mit wachsender Arbeitslosigkeit gewinnen auch innerhalb der etablierten bürgerlichen Politik rassistische Argumentationsmuster Auftrieb. Politiker der ‚großen Parteien‘ – und nicht nur rechtsextreme Formationen – legten zusehends populistische Verhaltensweisen an den Tag, erläuterte Kocáb, um sich als Beschützer von ‚ uns, den anständigen Leuten‘ gegen ’sie, die anderen‘ aufzuspielen und hierdurch bei den Wählern zu Punkten.

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