Dritte-Welt-Land USA

„Junge Welt“, 13.07.2009
Jährlich sterben 18000 Menschen an heilbaren Krankheiten. Gesundheitsindustrie läuft Sturm gegen von Obama-Administration geplante staatliche Krankenversicherung

Es sind Szenen wie in Kriegslazaretten, die sich überall dort abspielen, wo die US-Hilfsorganisation Remote Area Medicals (RAM) ihre Zelte aufschlägt. Als sie das beispielsweise zwischen dem 20. und 22. Juni im Landkreis Wise Country im US-Bundesstaat Virginia tat, hatten Tausende Menschen aus den verarmten südlichen Appalachen bereits seit mehreren Tagen dort gecampt, um bei den RAM ihre einzige Chance im Jahr auf eine medizinische Behandlung wahrnehmen zu können. Die auf Spenden und freiwilliges Engagement von Ärzten angewiesenen RAM wurden ursprünglich gegründet, um in entlegenen Regionen der Entwicklungsländer medizinische Hilfe zu leisten. Doch inzwischen ist die »Dritte Welt« bis in die Vereinigten Staaten vorgerückt. An die 60 Prozent ihrer Arbeit leisten die RAM bereits in den USA. In angemieteten Hallen oder in Zelten werden dann verfaulte Zähne wie am Fließband gezogen oder Standarduntersuchungen durchgeführt, um die Krankheiten der zumeist schmerzgeplagten Patienten überhaupt erst einmal zu diagnostizieren. »Wir haben nicht das Geld, um uns eine Krankenversicherung zu kaufen. Wir haben Probleme, genug zu Essen zu bekommen«, erklärte ein Mann in Wise Country gegenüber der Washington Post.

An potentiellen Patienten fehlt es der Hilfsorganisation wahrlich nicht. An die 50 Millionen US-Amerikaner haben entweder gar keine Krankenversicherung oder sind unterversichert. Nachdem die RAM in Wise Country in drei Tagen über 2500 Menschen behandelt hatten, mußten sie noch Hunderte Kranker abweisen.

Geschichten wie diese tauchen derzeit in den US-Medien immer wieder auf, gewinnt doch der Kampf um die Ausgestaltung der Gesundheitsreform an Intensität, die zu den wichtigsten innenpolitischen Vorhaben der Obama-Administration zählt. So veröffentlichte etwa der demokratische Senator Bernie Sanders Auszüge aus Tausenden von Briefen, in denen seine Wähler aus dem Bundesstaat Vermont ihre Erfahrungen mit dem größtenteils privat betriebenen Gesundheitssystem schildern. Es sind Geschichten von Menschen, die aufgrund fehlender medizinischer Versorgung an heilbaren Krankheiten sterben, Geschichten von finanziell ruinierten Familien.

Wenn man die Berichte lese, gewinne man den Eindruck, im Bereich des Gesundheitswesens »in einem Dritte-Welt-Land« zu leben, konstatierte Sanders im Gespräch mit der linksliberalen Zeitschrift The Nation. 18000 US-Amerikaner sterben nach seinen Angaben jedes Jahr an heilbaren Krankheiten. In diesem Jahr werde etwa eine Million Bürger aufgrund ausufernder Behandlungskosten in die Privatinsolvenz getrieben.

Keine gesetzliche Kasse

In den Vereinigten Staaten gibt es keine gesetzlichen Krankenkassen und auch keine Versicherungspflicht. Die Krankenversicherung ist an die Unternehmen gekoppelt, in denen die Lohnabhängigen arbeiten. Wer freiberuflich tätig ist oder in einem Betrieb Beschäftigung findet, der keine Krankenversicherung bezahlen will, muß sich privat versichern. Und das ist für eine Mehrheit nicht finanzierbar: Durchschnittlich muß eine Familie 2500 US-Dollar monatlich aufwenden, um eine private Krankenversicherung zu erhalten. Dieses System, in dem die Pro-Kopf-Belastung in etwa doppelt so hoch ausfällt wie in vergleichbaren Industrieländern, gilt als höchst ineffizient. Jeder dritte Dollar der von den Bürgern für das Gesundheitswesen aufgewendeten Mittel fließt in Verwaltung, Bürokratie und in die Gewinnmargen von Krankenversicherungen oder Pharmakonzernen.

Einen ersten umfassenden Entwurf der Gesundheitsreform hat die Demokratische Partei dem US-Kongreß Ende Juni zur Diskussion vorgelegt. Im Kern plant die Obama-Administration die Einführung einer staatlichen Krankenversicherung, die parallel zu den privaten Versicherern existieren soll. So soll den bislang nicht Versicherten Gelegenheit gegeben werden, eine bezahlbare Krankenversicherung zu erhalten. Unklar ist bislang das Leistungsspektrum, das solch eine staatliche Einrichtung abdecken würde. Die Kosten des Vorhabens belaufen sich jüngsten Schätzungen zufolge auf rund eine Billion US-Dollar in der kommenden Dekade. Inzwischen stößt es aber auch bei den Demokraten auf Widerstand, da die Reform durch »Umschichtungen im Gesundheitssystem« finanziert werden soll – zu Lasten der sozial Benachteiligten. Ausgerechnet bei den staatlichen Programmen Medicare und Medicaid, die älteren und behinderten Menschen Mindestleistungen garantieren, will Obama den Rotstift ansetzen: Bis zu 313 Milliarden US-Dollar sollen hier gekürzt werden und zur Finanzierung der Reform beitragen. Eine Gruppe von Demokraten im Kongreß schlug hingegen vor, zur Finanzierung der Gesundheitsreform die Steuern für die »reichsten Amerikaner« zu erhöhen, wie die New York Times (NYT) am 9. Juli berichtete. Um bescheidene zwei Prozent sollte die steuerliche Belastung für alle US-Bürger erhöht werden, die mehr als 250000 US-Dollar im Jahr verdienen. Dieser Vorstoß sei aber sofort auf die Ablehnung aller republikanischen und einiger demokratischer Senatoren gestoßen, so die NYT.

»Bürgerrechtskampf«

Auch der Gesundheitsindustrie gehen die Pläne der Regierung zu weit. Derzeit wenden private Versicherer, Pharmakonzerne und Krankenhausgesellschaften laut Washington Post täglich 1,7 Millionen US-Dollar auf, um mittels einer Medienkampagne die Reform zu Fall zu bringen oder zumindest entscheidend zu verwässern. Mehr als 350 Kongreßabgeordnete wie auch ehemalige Regierungsmitglieder sind an dieser Schlacht beteiligt. Senator Sanders erläuterte auch, warum die Gesundheitsindustrie solche Angst vor öffentlich finanzierter, nicht gewinnorientierter Konkurrenz hat: »Es ist klar, daß die Funktion der privaten Krankenversicherung darin besteht, so viel Geld wie möglich zu machen.« Die Krankenversicherer gäben Millionen für Gutachten aus, mit denen die Übernahme von Behandlungskosten verhindert werden soll. Selbst die Versicherten befinden sich also in einem permanenten Kampf mit diesen »Dienstleistern«. Hier werden den Bürgern wesentliche Menschenrechte vorenthalten. Laut Sanders nach handelt es sich bei der Auseinandersetzung »um eine universelle und umfassende Krankenversicherung um den großen Bürgerrechtskampf unserer Zeit«.

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