»Studium als Sicherheitsventil«

Unibeilage der „Jungen Welt“, 14.05.2008
Die Uni als Alternative zur Erwerbslosigkeit – nach dem Ende des Sozialismus in Osteuropa ein ­wichtiger Faktor gegen Unzufriedenheit. Ein Gespräch mit Adrian Zandberg

Adrian Zandberg ist Vorstandsmitglied der größten linken, parteiunabängigen Jugendorganisation Polens, der Jungen Sozialisten (Mlodzi Socjalisci). Zandberg lehrt an der Universität Warschau Sozialgeschichte des 19. und 20. Jh.

F: Wie viele Studenten sind an den Universitäten Polens derzeit eingeschrieben, ist es ein größerer oder kleinerer Prozentsatz der Bevölkerung als in westlichen Ländern?

Nach 1989 vergrößerte sich die Anzahl der Studierenden radikal – heute sind es 1,7 Millionen (bei 39 Millionen Einwohnern). Prozentual sind das viel mehr als in vielen Ländern Westeuropas. Das Stu­dium spielte – ähnlich der Frühverrentung – die Rolle eines Sicherheitsventils während der sogenannten Systemtransformation. Die Verlängerung der Ausbildung war die Alternative zur Arbeitslosigkeit. Die war in den 90er Jahren vor allem unter Jugendlichen extrem hoch. Zugleich verschärften sich die Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt – in Berufen, in denen früher Mittelschulabschlüsse ausreichten, wie Verkäufer oder Büroarbeiter, wurde nun eine höhere Ausbildung verlangt.

Polen hat eine hohe Akademikerrate – an die 50 Prozent aller Jugendlichen zwischen 19 und 24 Jahren studieren. Doch die wachsende Zahl der Kommilitonen führte auch zum Abfall der Qualität des Studiums, die öffentlichen Universitäten waren auf diesen Boom nicht vorbereitet. Es gab ja keine Mehrausgaben oder eine Aufstockung des Lehrpersonals.

F: Gibt es denn Chancen auf Arbeit nach dem Studium?

Das hängt vom Studiengang ab. Absolventen von technischen Universitäten finden auf dem Mark sofort eine Anstellung, geisteswissenschaftliche Studiengänge garantieren – insbesondere jenseits der Ballungszentren – Erwerbslosigkeit. Wegen der Arbeitsemigration sank die Erwerbslosenrate zwar deutlich, aber inzwischen ist diese Option aber nicht mehr attraktiv. Polen arbeiten im Ausland auf schlecht bezahlten Posten. Meistens sind das Tätigkeiten unterhalb ihrer beruflichen Qualifikation.

F: Polen hat aus der Periode des real existierenden Sozialismus ein relativ gut ausgebautes, akademisches Bildungssystem geerbt. Wie sieht derzeit die Studienstruktur aus …

Eine Polemik gegen eine positive Einschätzung dieses Erbes der Volksrepublik Polen kann ich mir nicht verkneifen. Man darf nicht vergessen, daß die Forschungsfreiheit beschränkt war und daß es politische Kriterien bei der Auswahl der akademischen Kader gab. Das hatte verheerende Folgen. Die Konsequenzen der Isolation von der globalen Wissenschafts­entwicklung kann man bei den Geisteswissenschaften bis heute wahrnehmen. Auch das damalige Modell schaffte es nicht, für Gruppen mit niedrigerem kulturellen Kapital gleiche Bedingungen wie für Bessergestellte zu gewährleisten. Das betraf insbesondere Jugendliche aus Kleinstädten und Dörfern.

Was die Struktur des Studiums heute betrifft, so hängt sie im großen Maße von der Fachrichtung ab. Das Ministerium gibt zentral minimale Programmanforderungen vor, die konkrete Ausgestaltung liegt an den einzelnen Universitäten. Vor allem Studiengänge, die auf einen konkreten Beruf ausgerichtet sind, wie beispielsweise das Jurastudium, sind verschult. solche Fachrichtungen favorisieren insbesondere private Hochschulen. Es ist billiger. An den öffentlichen Universitäten gibt es größere Möglichkeiten, den Gang des Studiums selbst zu beeinflussen.

F: Wie sieht die soziale Lage der polnischen Studierenden aus?

Mies. Das Stipendiensystem ist auch im Hinblick auf die verarmte und sozial differenzierte Gesellschaft – in Polen verfügt etwa die Hälfte der Bevölkerung über Einkünfte, die unter dem sozialen Minimum liegen – dramatisch unterfinanziert. Studenten können für gute Leistungen Sozialstipendien erhalten, doch decken diese die Kosten nicht. Zudem ist die soziale Infrastruktur der Universitäten heruntergekommen – von den Mensen bis zu den Studentenwohnheimen. Das alles ist das Ergebnis einer langjährigen Unterfinanzierung. Hinzu kommen steigende Zimmer- und Immobilienpreise. Immer mehr Studierende müssen arbeiten, so daß sie weder Kraft noch Zeit haben, anständig zu lernen.

F: Haben Kinder aus Arbeiterfamilien reale Chancen auf ein erfolgreiches Studium?

Sie haben es generell viel schwerer. Meistes bleibt ihnen nur das schlechtere, gebührenpflichtigen Fern- und Abendstu­dium. Es läßt sich aber kaum von »den Arbeiterkindern« sprechen. Die Situa­tion von Kindern von Arbeitern im Großraum Warschau – wo die Löhne höher und die Distanzen zu den Universitäten kleiner sind – und denen in den Karpaten oder Masuren ist kaum vergleichbar. Dort kann der Weg zu einer Hochschule mit gutem Lehrniveau 200 Kilometer betragen, und die Arbeitslosigkeit liegt zum teil bei 25 bis 30 Prozent. Die Selektion beginnt bereits bei der Unterfinanzierung der öffentlichen Grund- und Mittelschulen. Die einen erwerben zusätzliche Qualifikationen durch private Nachhilfe oder in Sprachschulen, die anderen können nur die staatliche Ausbildung in Anspruch nehmen.

F: Auch Polens neoliberale Regierungsequipe fordert Studiengebühren. Gibt es Widerstand?

Schon bisher ist die Lehre nur für die etwa 800000 Kommilitonen im normalen Studienbetrieb kostenlos. Fern- und Abendstudenten und Absolventen privater Universitäten müssen zahlen. Die Idee, Gebühren zu nehmen, äußerten Politiker der regierenden Bürgerplattform (Platforma Obywatelska – PO) schon wiederholt. Die letzten Ankündigungen Ende 2007 führten dann aber zu Gegenwehr. Der Demokratische Studentenverband und die Jungen Sozialisten führten eine Unterschriftensammlung gegen das Bezahlstudium und für Mittelaufstockungen für den Hochschulsektor durch. Daraufhin hat die Regierung von Premier Donald Tusk, die bislang offene Konflikte meidet, die Planungen zur Einführung der Gebühren zurückgenommen. Ein politischer Wille, die Aufwendungen aufzustocken, ist aber nicht erkennbar.

F: Wie sieht es mit der akademischen Freiheit aus – dominieren neoliberale Anschauungen, oder werden auch Alternativen aufgezeigt?

Ohne Zweifel dominieren rechte Anschauungen. Besonders kraß wird das bei den Wirtschaftswissenschaften deutlich. Dort werden neue Generationen neoliberaler Apologeten geschult. Viele Dozenten behandeln die Ideen Milton Friedmans oder des polnischen Neoliberalen Leszek Balcerowicz als absolute Wahrheiten, die keinerlei Diskussion bedürfen. Ich bin aber Optimist – ich denke, daß die Situation sich bessert. Zumindest bei den Sozialwissenschaften und den humanistischen Studiengängen. Die jungen Wissenschaftler greifen immer öfter zu Büchern von Bourdieu, Žižek, Negri oder Marx.

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