Produkt der Krise

„Junge Welt“, 12.09.2009
Vor einem Jahr kollabierte die US-Investmentbank Lehman Brothers und verstärkte das globale Finanzbeben. Dessen Ursache war der Crash nicht

Zum einjährigen Jubiläum der größten Pleite der US-Geschichte drehte die BBC einen Fernsehfilm. In »Die letzten Tage von Lehman Brothers« trachtete der Sender danach, unter Aufbietung der üblichen Klischees alles zu dramatisieren. Das geht dann so: Knallharte weiße Männer in teuren Anzügen, die zur Streßreduktion gerne mal auf Stoffgorillas oder Kollegen einschlagen, versuchen 60 Minuten lang, mit abenteuerlichen Konstrukten die Insolvenz der viertgrößten US-Investmentbank aufzuhalten. Letztendlich unterliegt Lehman-Chef Richard Fuld seinem Gegenspieler, dem damaligen Finanzminister Henry Paulson. Der hatte sich strikt geweigert, der in einer Unmenge fauler Hypothekenverbriefungen ertrinkenden Bank staatliche Gelder zur Verfügung zu stellen.

Die Weltwirtschaftskrise als Duell zweier mächtiger Männer – solche Verzerrungen und Personifizierungen von Krisenursachen und Krisendynamik befördern Mythenbildung. Die Bank, die bei einem Eigenkapital von nur 18 Milliarden US-Dollar Aktiva im Buchwert von 780 Milliarden hielt, habe durch ihre Pleite den Kapitalismus an den Rand des Zusammenbruchs geführt, titelte Anfang September der britische Guardian. Die Los Angeles Times machte es sich noch einfacher und sah die Schuld für die Weltwirtschaftskrise gleich bei dem Vorstandsvorsitzenden Fuld. Dieser hätte »die Welt retten können«, wenn er im August 2008 auf ein Beteiligungsangebot der Koreanischen Entwicklungsbank eingegangen wäre.

Zweite Stufe

Tatsächlich kann man die Lehman-Pleite als Zündung der zweiten Stufe der Weltwirtschaftskrise betrachten. Das Institut war einfach nur das »schwächste Glied« der Phalanx US-amerikanischer Großbanken. Die hatten allesamt an Immobilienspekulationen blendend verdient und mußten unter dem folgenden Crash auch leiden. Lehman Bros. aber war nach Einschätzung der ­Bush-Administration einfach nicht groß genug, um ähnlich dem Versicherungsriesen American International Group (AIG) mit Steuergeldern gerettet oder wie die Hypothekengiganten Fannie Mae und Freddie Mac unter Staatsaufsicht gestellt zu werden.

Außerdem fehlte es Fuld wohl an exklusiven Verbindungen zum Weißen Haus, um einen ähnlichen Deal zu arrangieren, wie er im März 2008 zur Rettung von Bear Stearns vollzogen wurde. Damals übernahm JPMorgan Chase – unter Aufbietung eines Staatskredits in Höhe von 29 Milliarden US-Dollar – die damalige Nummer fünf unter den US-Investmentinstituten. Lehman hingegen halfen selbst die Anrufe des Spitzenmanagers George Walker bei seinem Cousin George W. Bush nichts, bei dem er noch in letzter Minute Staatsgelder erbetteln wollte. Vielleicht spielte tatsächlich auch die Rivalität zwischen Fuld und Paulson, der bis 2006 Chef von Goldman Sachs war, der größten US-Investmentbank, eine gewisse Rolle bei dem restriktiven Verhalten der Regierung gegenüber Lehman Brothers.

Dennoch tendieren die meisten rückblickenden Betrachtungen, die der Lehman-Pleite eine zentrale Rolle beim Ausbruch der Weltwirtschaftskrise zuweisen, dazu, eine Auswirkung mit der Ursache zu verwechseln. Die Bank war nur Teil eines Finanzsystems, das durch »Verbriefung« von Hypotheken Superprofit generierte und gleichzeitig die Spekulationsblase auf dem US- Immobilienmarkt weiter vergrößerte. Die gebündelten »Subprime-Hypotheken« waren frei auf dem Weltfinanzmarkt handelbar und wurden dort gern genommen. Dies ermöglichte es, deren Ausfallrisiko schlicht weiterzuverkaufen. Mit immer weiter steigenden Immobilienpreisen konnten auf diesem Markt für Hypothekenverbriefungen traumhafte Gewinne erzielt werden, die die Finanzakteure förmlich nötigten, weiterzumachen oder einzusteigen. In der »Realwirtschaft« waren derartige Gewinne nirgendwo zu machen. Jeder Vorstandsvorsitzende einer Investmentbank, der sich Anfang dieses Jahrhunderts geweigert hätte, in den Markt für die »innovativen Finanzprodukte« einzusteigen, wäre binnen weniger Wochen seinen Job los gewesen. Die Dynamik der Blasenbildung ergab sich zwangsläufig – aus der dem Kapital innewohnenden Tendenz, nach einer möglichst hohen Profitrate zu streben.

Jobs und Profite

Doch nicht nur Banken haben am Boom profitiert, der dem Absturz vorausging. Der marxistische US-Ökonom Rick Wolff stellte im Gespräch mit jW fest, daß der Immobilienboom als einer der wichtigsten Antriebsfaktoren der US-Ökonomie zwischen 2000 und 2006 fungierte. Allein die im Bausektor und bei der Hypotheken- wie Immobilienfinanzierung geschaffenen Jobs summierten sich demnach auf 25 Prozent aller in diesem Zeitraum neu entstandenen Beschäftigungsmöglichkeiten. »Ich zähle auch die Arbeitsplätze dazu, die durch die schnell steigenden Häuserpreise geschaffen wurden. Die ermöglichten es den Hausbesitzern, bislang beispiellos Milliarden zu leihen und diese für Güter und Dienstleistungen auszugeben, die wiederum Millionen von Jobs schufen.« Wolff kommt zu der »konservativen Einschätzung«, daß »zwei Drittel des US-Booms nach 2000« von dem im spekulativen Fieber gefangenen Immobiliensektor generiert wurden. Deswegen sei nun »der Niedergang der US-Ökonomie so heftig«.

Die allseits als Krisenverursacher verpönten Investmentbanker waren selbst Getriebene eines Spekulationsmechanismus, der auch wegen des gigantischen Außenhandelsdefizits der USA bis 2006 als wichtigste Stütze dessen angesehen werden muß, was sich Weltkonjunktur nennt. »Schuld« an der Krise ist das kapitalistische Reproduktionssystem, das sich aufgrund beständiger Produktivitätsfortschritte in einer permanenten, latenten Überproduktionskrise befindet. Ohne spekulative Blasenbildung scheint es nicht mehr in der Lage, sich selbst zu reproduzieren. Unsere durch das Verwertungsinteresse des Kapitals deformierte Gesellschaft ernsthaft in Zweifel zu ziehen, liegt den bürgerlichen Kommentatoren der Krisengeschichte fern – sowohl vom Verständnis, als auch vom Willen her. Statt dessen werden Sündenböcke vorgeführt.

Es verwundert somit nicht, daß Politikersprüche über die »Zügelung des Raubtierkapitalismus« oder über eine »strenge Regulierung der Finanzmärkte« weitgehend folgenlos bleiben. Deshalb dürfen wir jetzt schon gespannt sein, wem beim Platzen der nächsten Spekulationsblase die Rolle des Bösewichts zugeschoben wird.

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