Eine Frage der Raumzeit

14. Juni 2017, Telepolis

Wertkritische Annäherungen an das Fermi-Paradoxon

KIC 8462852 gilt derzeit als einer der interessantesten Objekte der Galaxie. Der rund 1400 Lichtjahre von unserem Sonnensystem entfernte, im Sterneinbild Schwan gelegene F-Klasse Stern sticht aus der Milliardenmasse von Sonnensystemen durch sein wissenschaftlich schlicht unerklärbares Verhalten heraus.

Bislang ist es Astronomen nicht gelungen, schlüssig zu begründen, wie die heftigen Verdunklungen des Sterns zustande kommen, die zuletzt Mitte Mai wieder zu beobachten gewesen waren. Beobachtungen von Sternen mittels der sogenannten Transitmethode helfen dabei, Exoplaneten zu identifizieren. Die geringe Verdunklung des Sterns, die bei einem Planetentransit von dem Beobachter auf der Erde wahrgenommen werden kann, lässt Rückschlüsse auf dessen Größe zu.

Das Problem mit KIC 8462852 – der in Anlehnung an eine seiner Entdeckerinnen auch Tabbys Stern genannt wird – besteht nun darin, dass die unregelmäßig auftretenden Helligkeitsreduzierungen des Sternenlichts von bis zu 22 Prozent viel zu groß sind, als dass sie durch Exoplaneten verursacht werden könnten. Zudem weist der Stern eine langfristige, mindestens seit 1980 anhaltende Helligkeitsabnahme auf, die viele „natürliche“ Erklärungen ausschließt.
Unkonventionelle Erklärungsansätze

Zuletzt hat New Scientist einige dieser konventionellen Erklärungsansätze wie Asteroidenschwärme und Riesenplaneten zusammengefasst, die alle ihre Schwachstellen haben. Ein Asteroidenschwarm, der für solch eine Verdunkelung sorgen würde, müsste die Masse des Jupiter aufweisen, wobei es absolut nicht klar sei, ob „dies überhaupt physikalisch möglich“ sei. Der hypothetische Ringplanet, der einen solchen Helligkeitsabfall bei KIC 8462852 auslöste, müsste die fünffache Masse des Jupiters aufweisen. Mit dieser Masse könnte er aber auch „ein kleiner Stern“ sein.

Aufgrund dieser Unzulänglichkeiten der konventionellen Erklärungsansätze rückte Tabbys Stern schnell in den Fokus der Massenmedien. Die Wissenschaft kann nämlich auch unkonventionelle Erklärungsansätze, die um avancierte extraterrestrische Zivilisationen kreisen, in diesem Fall schlicht nicht ausschließen.

Eine Dyson-Sphäre, eine gigantische, den Stern umschließende Konstruktion befinde sich um KIC 8462852 Bau, so die phantastische Hypothese. Diese hypothetische Konstruktion würde es einer fortgeschrittenen Zivilisation ermöglichen, die Energie des betroffenen Sterns optimal zu nutzen. Bislang konnte auch dieser Erklärungsansatz nicht eindeutig widerlegt werden – auch wenn erste diesbezügliche Untersuchungen mit Rückschlägen verbunden waren.
Verstörende Absurdität der Lage der menschlichen Zivilisation

Indes scheint es gerade verwunderlich, dass die Wissenschaft rund 1.400 Lichtjahre weit in die Vergangenheit blicken muss, um zumindest vage, rein hypothetische Anzeichen einer extraterrestrischen Zivilisation nicht von vornherein ausschließen zu können. Wieso scheint die Menschheit – aller jahrzehntelangen Suche zum Trotz – allein im Universum? Gerade die immensen Fortschritte der Astronomie bei der Ortung von Exoplaneten machen die verstörende Absurdität der kosmischen Lage der menschlichen Zivilisation offensichtlich. Planeten sind überall!

In unserer Galaxie mit ihrem Durchmesser von bis zu 180.000 Lichtjahren existieren Schätzungen zufolge zwischen 100 und 400 Milliarden Sterne, um die mindestens 100 Milliarden Planeten kreisen. Eine zuvor verbreitete Hypothese, mit der das Fehlen anderer – wahrnehmbarer – Zivilisationen in der Galaxie erklärt wurde, kreist um die Annahme, dass die Erde eine große Ausnahme darstelle.

„Wir“ seien etwas ganz Besonderes, die Größe unserer Sonne, die Lage der Erde in der habitaten Zone, sie stellten quasi einen glücklichen Zufallstreffer bei der Ausformung des Sonnensystems dar, der sich in nur sehr wenigen Konstellationen wiederhole. Die ersten Erfolge bei der Suche nach Exoplaneten schienen diese Hypothese zu bestätigen, da zuerst nur große, dem Jupiter vergleichbare Himmelskörper gefunden werden konnten, solange die wissenschaftlichen Methoden der „Planetenjäger“ nicht ausgereift waren.
Eins zu 40 Milliarden

Doch inzwischen gerät dieses Bild des Universums, in dem die Erde quasi einem Lottogewinn gleichkommt, ins Wanken. Die Erde, sie scheint keine große exotische Ausnahme zu sein, sondern die öde kosmische Regel. Umfassende, 2013 publizierte Analysen von Daten des Kepler-Teleskops ergaben, dass es rund 40 Milliarden erdähnliche Planeten in der Milchstraße gäbe, die sich in einer habitablen Zone befinden würden. Neue, 2016 publizierte statistische Erhebungen bestätigten diese Schätzungen. Ihnen zufolge gebe es Dutzende von Milliarden erdähnlicher Planeten in habitablen Zonen in unserer Galaxie.

Die Wahrscheinlichkeit, dass nur auf der Erde intelligentes Leben einen Zivilisationsprozess hervorbringt, scheint nun vollends absurd niedrig. Eins zu 40 Milliarden – das ist, als ob man den Lottojackpot gleich mehrfach hintereinander geknackt hätte. Die Statistik spricht somit gerade dafür, dass die Phantasien der Sciencefiction Realität wären: Die Galaxie müsste zumindest mit den Signalen avancierter, alter Zivilisationen erfüllt sein, wenn nicht gleich mit Raumschiffen und Kolonien interstellarer Imperien. Star Trek oder Stellaris dies müsste, statistisch betrachtet, die Realität sein – und nicht die kosmische zivilisatorische Ödnis, die die Erde in ihrem total aus der Mode gekommenen Seitenarm der Galaxie umgibt.

Das Ganze ist letztendlich nur eine Frage der Raumzeit. Ob gerade in der Galaxie – mit ihrem Durchmesser von 180.000 Lichtjahren – eine junge Zivilisation entstanden ist und seit wenigen Jahren etwa ihre Radiosignale ins All sendet, können wir nicht wissen, da diese sich ja nicht schneller als mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegen können. Die von der Erde ausgehenden Radiosignale etwa haben kaum ihre kosmische Nachbarschaft verlassen. Es ist gerade mal ein Punkt im gigantischen Meer der Sterne, der nicht mal den lokalen Seitenarm der Galaxie zu durchdringen begonnen hat.

Doch offensichtlich existieren zumindest gerade in der kosmischen Nachbarschaft der Erde keine alten Zivilisationen. Je älter eine Zivilisation, desto weiter müssten ihre Lebensäußerungen vernehmbar sei. Ein Zivilisationsprozess, der beispielsweise über 100.000 Jahre aufrechterhalten werden konnte, müsste im Großteil der Galaxie entsprechende Spuren hinterlassen haben. Die „Neuigkeiten“, die etwa die Erde von KIC 8462852 erreichen, sind schon 1 400 Jahre alt.
„Where is everybody?“

Umgekehrt scheint es auch im kosmischen Umfeld der Erde offensichtlich keine jüngeren Zivilisationen zu geben, obwohl es auch hier nicht an erdähnlichen Exoplaneten mangelt. Es lässt sich somit annehmen, dass entweder die 40 Milliarden Planeten in der habitablen Zone, die es in der Mischtrasse gibt, keine langfristigen Zivilisationsprozesse hervorgebracht haben – oder dass diese Zivilisationen ab einer bestimmten Entwicklungsphase Kommunikations- und Fortbewegungsmethoden verwenden, deren bloße Wahrnehmung durch die menschlichen Wissenschaft allen Fortschritten zum Trotz unmöglich wäre.

Die aktuellen Fortschritte beim Aufspüren von Exoplaneten werfen somit tatsächlich die alte Frage in neuer Dringlichkeit auf, die der Physiker Enrico Fermi schon 1950 formulierte: „Where is everybody?“ Wo sind all die Zivilisationen, die eigentlich die Galaxie bevölkern müssten?

Das sogenannte Fermi-Paradoxon besagt einerseits, dass die Galaxie aufgrund ihres Alters längst hätte kolonisiert sein müssen, wobei demgegenüber die Tatsache steht, dass dies offensichtlich nicht der Fall ist. Die Bedingungen, intelligentes Leben, eine galaktische Zivilisation gar, herzubringen, scheinen in der Galaxie seit Jahrmillionen gegeben zu sein – und dennoch scheint eine solche Zivilisation nicht zu existieren. Stattdessen herrscht in der Galaxis das große Schweigen.
Theorem des großen Filters

Oftmals wird dem Fermi-Paradoxon mit dem Theorem des großen Filters begegnet. Irgendetwas scheint die Transformation unbelebter Materie hin zur belebten, mit Bewusstsein ausgestatteten Materie zu verhindern, zu blockieren. Der große Filter könnte dieser Hypothese nach schon bei komplexen Molekülen, beim Einzeller, bei sexueller Reproduktion, dem Mehrzeller oder dem Zivilisationsprozess selber einsetzen. Irgendeiner der großen Entwicklungssprünge, die zur Entstehung einer Zivilisation auf der Erde geführt haben, ist scheinbar nahezu unüberwindlich.

Oder, der katastrophenartige Prozess, der als der große Filter fungiert, liegt noch vor der Menschheit. Dieser Hypothese zufolge würde der Zivilisationsprozess ab einem bestimmten Reifegrad instabil, er tendierte zur Selbstzerstörung. Carl Sagan etwa hat diese These schon Ende der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts formuliert wohl auch unter dem Eindruck der Berichte des Club of Rome, als er davon ausging, dass technisch fortgeschrittene Zivilisationen sich selbst zerstören, ehe sie effiziente Formen interstellarer Kommunikation entwickeln könnten.

Ähnlich argumentiert Stephen Hawking, der in einer Vorlesung Nuklearkriege, genetisch modifizierte Viren oder einen außer Kontrolle geratenen Treibhauseffekt als wichtigste Bedrohungen des Zivilisationsprozesses auf der Erde nannte.

Somit hätte die Menschheit die Signale der Aliens einfach nur verpasst. Angesichts der kosmischen Zeiträume und der überwältigenden Dimensionen allein „unserer“ Galaxie scheinen kurzlebige, labile Zivilisationen dazu verdammt, im Glauben unterzugehen, allein in einem Universum zu sein, das mit Ruinen untergegangener Zivilisationen übersät ist. Die Antwort auf die Frage, wieso die Menschheit allein im Universum zu sein scheint, fände sich somit ebenfalls in der Raumzeit.

Die Signale einer Zivilisation, die nur wenige hundert Jahre besteht, können die Galaxie nicht hinreichend durchdringen, um selbst von den technologisch avancierten „Aliens“ geortet werden zu können. Angesichts der kosmischen Zeiträume stellt ein solches Aufflackern einer technologischen Zivilisation nicht einmal einen Wimpernschlag dar, der schon erloschen ist, ehe neue Zivilisationen entstehen können, die zur interstellaren Kommunikation fähig wären.

Die Ausformung von Leben, von Zivilisationen gar sei dieser Hypothese zufolge wahrscheinlich, doch sei der Zivilisationsprozess gewissermaßen instabil, der tendiere ab einem gewissen technischen Niveau zur Selbstauslöschung: Atomkrieg, Klimakollaps, genetische Experimente oder künstliche Intelligenz – die Liste der potenziellen Ereignisse, die die Funktion eines zivilisatorischen großen Filters einnehmen ist, lang.

Und selbstverständlich fehlen auch die Verweise auf das angebliche „Wesen des Menschen“ nicht. Stephen Hawking verweist in diesem Zusammenhang auf die Aggressivität des Menschen, der in der Steinzeit einen Überlebensvorteil bildete, als es darum ginge, Konkurrenten zu unterwerfen und ihnen „Frauen und Essen“ abzujagen. Diese Aggressivität könne aber jetzt „die gesamte Menschheit und den Rest des Lebens auf der Erde“ auslöschen.

Anstatt sich in sozialdarwinistischen Ideologemen zu üben (es ist ja nicht so, dass der Kapitalismus an einem Mangel an Essen zugrunde geht), ließe sich aber auch die Frage aufwerfen, inwiefern der Zivilisationsprozess selber als Schranke seiner selbst fungiert. Die Zivilisation – besser noch, ihre Eigendynamik – würde demnach die Schranke der Zivilisation bilden.
Wertkritik und „Instabilität“ des Zivilisationsprozesses

Hier kann die Marxsche Theorieschule der Wertkritik, wie sie maßgeblich von dem Philosophen und Kapitalismuskritiker Robert Kurz formuliert wurde, Wesentliches zum Verständnis der offensichtlichen „Instabilität“ des Zivilisationsprozesses beitragen.

Die Menschen sind demnach zwar die Subjekte der Geschichte, doch wird dieser Zivilisationsprozess auf gesamtgesellschaftlicher Ebene von einer unkontrollierbaren, widerspruchsvollen Eigendynamik getragen. Die Menschen machen die Geschichte, doch tun sie dies unbewusst, indem gesamtgesellschaftlich Strukturen, Institutionen und zuletzt Prozesse hervorgebracht werden, die den Menschen nach ihrer historischen Etablierung als scheinbar fremde, eigenständige Mächte entgegenzutreten scheinen.

Die Wertkritik bezeichnet diese – unbewusst von den Gesellschaftssubjekten in historischen Prozessen hervorgebrachte – „Verselbstständigung“ gesellschaftlicher Strukturen oder Prozesse als Fetischismus. Die „Dinge“, die Strukturen, die Prozesse und Dynamiken scheinen ein Eigenleben zu entwickeln. Das Ganze des Zivilisationsprozesses ist somit mehr als die Summe seiner Teile, die von einer realabstrakten Eigendynamik angetrieben werden.

Die menschliche Geschichte, der Zivilisationsprozess als solcher, ist somit von einer Abfolge fetischistischer Gesellschaftsformationen gekennzeichnet. Nach den – relativ – statischen Systemen der Antike und des Mittelalters, wo die Religion als unbewusste fetischistische Verselbstständigung menschlichen Agierens fungierte, erfuhr der gesellschaftliche Fetischismus im Kapitalismus eine ungeheure, destruktive wie schöpferische Dynamisierung.

Hier ist es das Kapital als Geld, das zu mehr Geld werden will, das die gesamte Welt seinem uferlosen und blindwütigen Verwertungszwang unterworfen hat. Und es ist eben dieser blind wuchernde Verwertungszwang des Kapitals, der – aufgrund der ihm innewohnenden Widersprüche – die Welt offensichtlich in den Abgrund treibt.

In Bezug auf das Fermin-Paradoxon ließe sich nun argumentieren, dass Zivilisationen, die in eine dynamische Entwicklungsphase eintreten, von eben den Widersprüchen dieser fetischistischen Eigendynamik binnen historisch kurzer Zeit vernichtet werden.
Galaktische Zivilisation ist nur in einem Star-Trek-Universum möglich.
Der Zivilisationsprozess ist somit nicht abgeschlossen worden, er bringt Dynamiken hervor, die gewissermaßen unkontrolliert ablaufen, er beherrscht die Menschen, die ihn unbewusst hervorbringen, stellt ihnen die absurdesten fetischistischen Hürden in den Weg (vom religiösen Verzichtsdogma bis zu den Schäublerischen Spardiktaten mitten in einer systemischen Überproduktionskrise), um schließlich an diesen blinden wucherungsartig anwachsenden Dynamiken zu kollabieren.

Es stellt sich somit die Frage, wie diesem gesellschaftliche Fetischismus zu begegnen sei, wie er überwunden werden könnte – um einer bewussten gesamtgesellschaftlichen Verständigung über den Reproduktionsprozess Platz zu machen. Hiermit wäre erst der zivilisatorische Abschluss des Zivilisationsprozesses erreicht, indem dessen autodestruktive Tendenzen überwunden würden. Das wäre die Emanzipation.

Die Menschen würden den zivilisatorischen Prozess beherrschen, anstatt von diesem beherrscht zu werden. Der Weg zu den Sternen, den bislang der die drohende Apokalypse versperrt, würde so tatsächlich freiwerden. Eine galaktische Zivilisation ist somit nur in einem Star-Trek-Universum möglich.

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