Die deutsche Transferunion

„German Foreign Policy“, 09.12.2010

In Berlin schwillt die Debatte über eine mögliche Zweiteilung der Eurozone an. „Deutschland zahlt, Europa kassiert“, heißt es in einflussreichen Medien; die EU sei auf dem Weg, eine „Transferunion“ zu werden. Erste Berliner Spitzenpolitiker gehen mittlerweile zu offenen Solidaritätsbekundungen für erklärte Euro-Skeptiker über. Die Gemeinschaftswährung sei, urteilen Pressekommentatoren, im Kern kein wirtschaftliches, sondern ein politisches Projekt; „die Aufgabe der D-Mark“ sei „der Preis“ gewesen, „den die Franzosen für die Wiedervereinigung forderten“. Dies räche sich nun. Tatsächlich sind es handfeste Interessen der dominierenden deutschen Exportindustrie, die zu der Intensivierung der Debatte über die Zukunft des Euro führen. Bislang gelingt es der Bundesrepublik, gegenüber den südeuropäischen Euroländern beträchtliche Handelsüberschüsse – faktische Vermögenszuwächse – zu erzielen. Die jetzt im Süden erzwungenen Sparprogramme stellen diese Überschüsse in Frage, während zugleich der Anteil der Ausfuhren in Nicht-Euro-Staaten deutlich wächst. Damit gewinnt der Stimmungswandel innerhalb der deutschen Funktionseliten neue Dynamik.

„Rettet unser Geld“

„Rettet unser Geld – Deutschland wird ausverkauft!“ – unter diesem Titel stellte der ehemalige Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie (BDI) Hans-Olaf Henkel kürzlich sein neues Buch vor, in dem er für eine Aufspaltung der Eurozone in eine „Nord“- und eine „Südgruppe“ wirbt. Henkel schwebt vor, die ökonomisch avancierte „Nordgruppe“ solle unter der „Führung Deutschlands“ verbleiben, während Frankreich die „flexible Südgruppe“ der überschuldeten Euro-Staaten zu leiten habe.[1] Sein Plädoyer für ein Zwei-Klassen-Europa gewinnt in den deutschen Medien zusehends an Popularität.[2] Auch erste Berliner Spitzenpolitiker stellen sich mittlerweile an seine Seite. So warb Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) bei der Buchpräsentation in Berlin offen für Henkels Schrift. Mit diesem Vorgehen habe er „in der schwarz-gelben Koalition Stirnrunzeln“ hervorgerufen, hieß es in den Medien über die Uneinigkeit in der Bundesregierung.[3]

Ein riesiger Vermögenstransfer

Gegner von Henkels Überlegungen halten ihm entgegen, dass gerade die Eurozone – und hier insbesondere deren südeuropäische Peripherie – zu den wichtigsten Exportmärkten der deutschen Industrie gehörte und immer noch gehört. Gut zwei Drittel aller Exporte aus Deutschland gehen in die Europäische Union, wobei gut 40 Prozent auf die Eurozone entfallen. Von entscheidender Bedeutung sind dabei die Außenhandelsüberschüsse, die deutsche Unternehmen größtenteils gegenüber den Ländern der Eurozone erzielen. Im Jahr 2007 etwa konnte Deutschland nahezu zwei Drittel (114 Milliarden Euro) seines gesamten Handelsbilanzüberschusses von 195 Milliarden Euro innerhalb der Eurozone realisieren. Seit der Einführung des Euro als Bargeld bis zum zweiten Quartal 2010 gelang es der deutschen Exportwirtschaft, gegenüber den übrigen Euroländern einen Leistungsbilanzüberschuss von mehr als 672 Milliarden Euro zu erreichen. Dieser Betrag entspricht faktisch einem Vermögenstransfer zugunsten der deutschen Exportindustrie.

Der Süden als Finanzier

Bei der Eurozone handelt es sich demnach tatsächlich um eine „Transferunion“ – allerdings nicht um eine, bei der Deutschland andere Staaten finanzieren würde, sondern um eine, bei der die deutschen Exportüberschüsse – die gleichbedeutend mit Vermögenszuwächsen sind – mit einer ausufernden Defizitbildung der schwächeren südeuropäischen Volkswirtschaften beglichen wurden. Der deutsche Exportboom, der zur Verschuldung der südeuropäischen Staaten maßgeblich beitrug, wurde tatsächlich erst durch den Euro möglich: Die Einheitswährung nahm den Mittelmeerländern die Möglichkeit, mittels Währungsabwertung ihre Konkurrenzfähigkeit zumindest ansatzweise wiederherzustellen.[4]

Wichtiger als die Euro-Peripherie

Befürworter von Henkels Forderungen innerhalb der deutschen Eliten gründen ihre abweichenden Überlegungen ebenfalls auf ökonomische Erwägungen. Demnach habe sich beim derzeitigen exportgetriebenen Wirtschaftsaufschwung in der Bundesrepublik vor allem „der Handel mit Ländern außerhalb des Euro-Raums sehr dynamisch entwickelt“. Die „aufstrebenden Länder in Osteuropa“ seien zu wichtigen Absatzmärkten der deutschen Exportindustrie geworden und hätten folglich „noch stärker an Bedeutung gewonnen als die Euro-Peripherie“. Auch mit Asien, heißt es, mache die deutsche Wirtschaft „glänzende Geschäfte“. Dafür benötige man den Euro nicht.[5]

Verbrannte Erde

Tatsächlich verliert Südeuropa seit Beginn der Krise als Absatzmarkt für die deutsche Exportindustrie zusehends an Bedeutung. Seit die dortige Verschuldungsdynamik nicht mehr aufrechterhalten werden kann, sinken auch Deutschlands Exportüberschüsse in die Region. Die überschuldeten Volkswirtschaften, die vor jahrzehntelangen Perioden ökonomischer Stagnation stehen, gleichen aus Sicht deutscher Unternehmer „verbrannter Erde“, die künftig nicht mehr als wachsender Absatzmarkt fungieren kann. So sank beispielsweise der deutsche Handelsüberschuss gegenüber Spanien von 26,9 Milliarden Euro im Jahr 2007 auf nur noch 12,3 Milliarden im Jahr 2009. Ähnlich verhielt es sich beim deutschen Italien-Geschäft: Die Handelsüberschüsse sanken von 19,8 Milliarden im Jahr 2007 auf 13,4 Milliarden im Jahr 2009. Rückläufige Handelsüberschüsse verzeichnet Deutschland auch gegenüber Griechenland und Portugal. Die Eurozone bildet insgesamt im Rahmen der jüngsten deutschen Exportoffensive das Schlusslicht: Die deutschen Exporte dorthin legten nach den schweren krisenbedingten Einbrüchen des Jahres 2009 zwischen Januar und Oktober 2010 nur um 13,3 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum zu, während die deutschen Gesamtausfuhren im besagten Zeitraum um 19,1 Prozent wuchsen. Insbesondere Asien – mit einer Exportzunahme von rund 30 Prozent – und auch die Russische Föderation – Exportanstieg: 26 Prozent – gehörten zu den Wachstumstreibern der deutschen Exportmaschinerie.

Maximaler Nutzen

Kern der aktuellen Debatte um die Zukunft des Euro ist eine Abwägung zwischen den steigenden Kosten, die zur Aufrechterhaltung der Eurozone nötig sind, und den Exportvorteilen, die die Währungsunion Deutschland bietet, die jedoch deutlich und mit wachsendem Tempo schwinden. Vorläufig erleben „Reformvorschläge“ eine Konjunktur, die – wie Henkels Überlegungen – darauf hinauslaufen, die überschuldeten südeuropäischen Staaten aus der Eurozone auszuschließen, ohne aber den Euro gänzlich aufzugeben. Dies soll die Vorteile der Gemeinschaftswährung weitestmöglich bewahren und zugleich die künftigen Krisenkosten für Deutschland minimieren – für den bislang größten Profiteur der tatsächlichen Euro-„Transferunion“.

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