Schwimmen im Defizit

„Junge Welt“, 03.11.2009
Rezession hat Großbritannien fest im Griff. Regierung versucht verzweifelt, mit neuen Schulden Wirtschaft zu stabilisieren

Den verstaatlichen britischen Großbanken geht es nun an den Kragen. Drei große Finanzinstitute werde die Regierung zerschlagen, um hieraus »etwa drei neue Bankmarken« zu formen, verkündete der britische Schatzkanzler Alistair Darling am Sonntag. Konkret handelt es sich um die Royal Bank of Scotland (RBS), die Lloyds Banking Group und den Immobilienfinanzierer Northern Rock. Alle genannten Institute mußten im Zuge der Finanzkrise mit Milliardenbeträgen vor dem Zusammenbruch bewahrt werden. Inzwischen hält der Staat an Lloyds einen Anteil von 43 Prozent, an der RBS ist der britische Steuerzahler sogar mit 70 Prozent beteiligt. Northern Rock, die als erster Dominostein in der Finanzkrise fiel, ist inzwischen eine hundertprozentige Staatsbank.

Neue Wettbewerber

Im Rahmen einer zwischen EU und London ausgehandelten Umstrukturierung des Finanzsektors sollen alle drei Bankhäuser rund 700 Filialen an Wettbewerber veräußern, die bislang nicht im britischen Bankwesen tätig sein dürfen. Im Gespräch sind entweder ausländische Finanzinstitute oder branchenferne Unternehmen. Interesse sollen unter anderem die Handelskette Tesco und der Mischkonzern Virgin bekundet haben. Wie tief der Fall dieser einstigen Giganten des Finanzplatzes London ausfiel, verdeutlicht die Bilanz der RBS. Kurz vor Krisenausbruch belief sich deren Bilanzsumme nach Angaben von EU-Wettbewerbskomissarin Neelie Kroes auf 2400 Milliarden Pfund (2658 Milliarden Euro). Diese sei folglich »größer als die britische (Jahres-)Wirtschaftsleistung« gewesen, zitierte die Financial Times Deutschland die Wettbewerbskontrolleurin. 2008 mußte die RSB dann mit einem Minus von 24 Milliarden Pfund (ca. 31 Milliarden Euro) den größten Unternehmensverlust der britischen Wirtschaftsgeschichte verbuchen.

Auch der Schlußverkauf im Finanzsektor wird den britischen Steuerzahler noch teuer zu stehen kommen. Weitere 40 Milliarden Pfund werde die Regierung vor dem angestrebten Verkauf in die drei Institute pumpen müssen, berichteten britische Zeitungen am Montag. Damit erhöhe sich der Staatsanteil an der RBS von 70 auf 84 Prozent, berichtete die Nachrichtenagentur AFP. Mit 26 Milliarden Pfund soll die RBS in die Lage versetzt werden, sich an dem – ebenfalls staatlichen – Versicherungsprogramm für toxische Wertpapiere zu beteiligen. Dennoch sind das quasi »Peanuts«. So zitierte jüngst die Frankfurter Allgemeine Zeitung Berechnungen der EU-Kommission, nach denen der britische Staat bisher nahezu eine halbe Billion Euro im Rahmen diverser Rettungsmaßnahmen in den britischen Finanzsektor gepumpt hat.

Das verschlechterte den Zustand der öffentlichen Finanzen. »Großbritannien hatte ein Problem mit privaten Schulden. Nun hat es ein Problem mit privaten und öffentlichen Schulden«, faßte die Nachrichtenagentur Bloomberg zusammen. Das Haushaltsdefizit beträgt demnach 12,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Zwischen April und September wuchsen offiziellen Angaben zufolge die öffentlichen Schulden um 77,6 Milliarden Pfund. Allein im September sattelte London 14,8 Milliarden Pfund drauf – ein neuer Allzeitrekord. Dieser Zustand könne nicht mehr lange aufrechterhalten werden, hieß es bei Bloomberg. Derzeit steht der Staat mit 825 Milliarden Pfund in der Kreide. Bereits im vergangenen Mai drohten Ratingagenturen London, die Bestnote AAA bei der Bonitätsbeurteilung der Staatsanleihen zu entziehen.

Schon in »wenigen Jahren« könne die öffentliche Verschuldung 1400 Milliarden Pfund überschreiten und somit mehr als 100 Prozent des britischen BIP betragen, zitierte die Daily Mail den Ökonom Roger Bootle. Der Staat müßte laut Bootle jährlich 70 Milliarden Pfund durch Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen einsparen, um die Verschuldungsdynamik zu brechen. Aber gerade diese Maßnahmen könnten die ohnehin angespannte Wirtschaftslage weiter verschlechtern. Bootle warnte vor einem »Teufelskreis« aus »fallenden Ausgaben und fallender Wirtschaftsaktivitäten«.

Verbraucher im Minus

Im Grunde kann der britische Konjunkturmotor nur über weitere öffentliche Schulden am Laufen gehalten werden. Mit den Verbrauchern ist in dieser Hinsicht kaum zu rechnen. Die hatten sich während der Boomphase enorm verschuldet und ächzen nun unter Zinsen und Tilgungsraten. Die Verbindlichkeiten der Privathaushalte liegen mit 183 Prozent des verfügbaren (Jahres-)Einkommens sogar höher als in den USA, wo dieser Wert »nur« 134 Prozent beträgt.

Dabei befindet sich Großbritannien als eines der wenigen Industrieländer weiterhin in einer Rezession. Diese gilt inzwischen als die längste seit Beginn der entsprechenden statistischen Erhebungen. Auch im dritten Quartal 2009 sank das britische BIP um 0,4 Prozent, so daß der Abschwung inzwischen über sechs aufeinanderfolgende Quartale anhält. Gegenüber dem Vorjahresquartal schrumpfte die Wirtschaft um 5,2 Prozent. Dies läßt auch die offizielle Arbeitslosenquote ansteigen, die inzwischen bei 7,9 Prozent liegt und zusätzlich durch entsprechende Sozialtransfers den Haushalt belastet. Dabei hatte London gehofft, mittels eines auf 20 Milliarden Pfund veranschlagten Konjunkturprogramms ein knappes Jahr vor den kommenden Wahlen zumindest ein geringes Wachstum generieren zu können. Der noch regierenden »New Labour«-Partei wird dennoch nichts übrigbleiben, als die Verschuldungsspirale weiter in Gang zu halten, um den unkontrollierten Absturz der immer noch drittgrößten europäischen Vokswirtschaft aufzuhalten. Es wäre »Wahnsinn«, nun die Konjunkturhilfen einzustellen, wies Schatzkanzler Alistair Darling entsprechende Forderungen aus den Reihen der britischen Konservativen Partei zurück.

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