Toter Winkel

Konkret, 06/2022

Im Nordirak führt das Nato-Mitglied Türkei derzeit einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Den Segen der deutschen Bundesregierung hat das Erdoğan-Regime. Von Tomasz Konicz

Nur Grünen-Wähler, die rotgrüne Angriffskriege vergessen oder verdrängt haben, dürften von den jüngsten Schweinereien grüner Außenpolitik überrascht sein. Das Außenministerium unter Annalena Charlotte Alma Baerbock machte Ende April mit einer Reihe von Äußerungen unmissverständlich klar, dass es voll und ganz hinter einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg steht. Die großangelegte Invasion kurdischer Gebiete im Nordirak durch das türkische Militär, die von Berlin mit keiner Silbe öffentlich kritisiert wurde, werde laut Baerbocks Staatssekretärin Anna Lührmann nicht ähnliche Konsequenzen nach sich ziehen, wie die Invasion der Ukraine durch die Kriegsmaschine Putins. Überhaupt: Die diesbezügliche Frage einer Abgeordneten der Linkspartei stelle ‚eine unangemessene Verharmlosung des russischen Kriegs gegen die Ukraine dar‘, dozierte Lührmann. Dem Nato-Partner Türkei gehe es schließlich bei seinem ‚militärischen Vorgehen‘ um den Kampf gegen die ‚Terrororganisation PKK‘, während Russland die ‚vollständige Zerschlagung eines souveränen Staates unter bewusster Verübung schwerster Kriegsverbrechen‘ betreibe.

Der faktische Freifahrtschein Berlins für Erdoğans Soldateska steht nicht nur in der Kontinuität der deutschen Türkei-Politik, sondern auch in derjenigen grüner Wahlversprechen mit raschem Verfallsdatum. Der Türkei ist im Wahlprogramm der Grünen, die als Oppositionspartei durchaus Erdoğans Angriffe in Nordsyrien und dessen repressive Politik gegenüber der kurdischen Bevölkerung kritisierten, ein eigenes Unterkapitel gewidmet. Darin fordert die Partei unter anderem die Freilassung der politischen Gefangenen und die Wiederaufnahme des Friedensprozesses mit der PKK. Jetzt wollen Baerbocks Staatssekretärinnen nicht einmal das Wort ‚Krieg‘ im Zusammenhang mit dem jüngsten türkischen Feldzug in den Mund nehmen, während ihre Chefin dem türkischen Außenminister Mevlüt ÇavuÅŸoğlu, der am 24. April, dem Jahrestag des türkischen Genozids an den Armeniern, gegenüber Demonstranten den faschistischen Gruß der Grauen Wölfe zeigte, für die ’starke deutsch-türkische Partnerschaft‘ dankte, in der man auch im Ukraine-Krieg fest zusammenstehe.

Ohne nennenswerte öffentliche Kritik seitens der Nato-Partner kann die türkische Regierung politisch weitgehend unbehelligt ihre Expansionspläne verfolgen – trotz diplomatischer Protestnoten des Irak leisten nur die bewaffneten Formationen der PKK Widerstand. Es stellt sich die Frage, wie weit es das Erdoğan-Regime treiben wird. Die Türkei unterhält bereits zwölf Militärstützpunkte und mehr als 40 Außenposten im Nordirak, die während der Angriffe im vergangenen Jahr errichtet worden sind. Genau hierin liegt auch der fundamentale Unterschied zu den sporadischen Vorstößen des türkischen Militärs in den vergangenen Jahrzehnten, bei denen kurzzeitig Rückzugsgebiete der PKK angegriffen wurden. Jetzt entsteht auf irakischem Territorium faktisch eine türkische Besatzungszone, und das Militär scheint sich dauerhaft in der Region festsetzen zu wollen. Diese im Entstehen begriffene Zone, in der die lokale kurdische Bevölkerung vertrieben wird und die meisten Siedlungen bereits entvölkert sind, reicht mehr als zehn Kilometer in irakisches Territorium.

Bewohner/innen der Region berichteten gegenüber den wenigen westlichen Medien, die diesen imperialistischen Landraub des geschätzten Nato-Partners Türkei überhaupt zur Kenntnis nehmen, dass türkische Soldaten ihnen die Rückkehr in ihre Dörfer und Siedlungen verweigerten, nachdem sie mittels staatlich organisierter Terrorattacken, bei denen etwa Dörfer mit Artillerie beschossen werden, vertrieben worden sind. Kurdische Politiker aus der irakischen Autonomieregion wie der ehemalige Parlamentssprecher Yusuf Mohammed sprachen gegenüber arabischen Medien von einer Strategie der schrittweisen ‚Re-Annexion‘ dieser Gebiete, die das Ziel verfolge, das ‚osmanische Imperium wieder zu errichten‘. Es handele sich um eine ‚graduelle Expansion‘, bei der die Türkei ‚jedes Jahr einige Gebiete besetzt‘ und die Voraussetzungen für eine weitere Expansion schaffe. Dabei ist der Neo-Osmanismus des Erdoğan-Regimes im Gegensatz zu seinem historischen Vorbild durch eine faschistische, völkische Komponente gekennzeichnet, da er von ethnischen Säuberungen begleitet sei. Ankaras Okkupationspolitik im Nordirak gehe laut Yusuf Mohammed mit der ‚Veränderung der demografischen Zusammensetzung‘ dieser Region einher.

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Damit scheint sich im Nordirak eine ähnliche Entwicklung zu vollziehen wie in Nordsyrien. Das türkische Militär konnte neben dem Einmarsch in Idlib zwei Eroberungszüge in der Region führen, bei denen die Armee und verbündete sunnitische Islamistenmilizen – oftmals dem syrischen Ableger der Al Qaida zugehörig oder aus den Reihen des Islamischen Staats (IS) rekrutiert – die kurdische Selbstverwaltungsregion Rojava ins Visier nahmen. Anfang 2018 gab Wladimir Putin grünes Licht für die Invasion des Kantons Afrin, der sich in der Einflusssphäre Russlands befand. Im Oktober 2019 ließ der rechtspopulistische US-Präsident Donald Trump dem türkischen Expansionsdrang in Nordostsyrien freien Lauf, sodass Ankara eine weitere Besatzungszone in Rojava errichten konnte.

Der Westen nahm es bei diesen Angriffskriegen Erdoğans nicht ganz so genau mit dem Völkerrecht. Der damalige Nato-Vorsitzende Jens Stoltenberg verteidigte im Januar 2018 den nicht provozierten türkischen Einmarsch in den Kanton Afrin unter Verweis auf das ‚Selbstverteidigungsrecht‘ des Nato-Landes, obwohl US-Medien klarmachten, dass es von dort aus keine Angriffe auf türkisches Territorium gegeben habe. Selbst der Einsatz von weißem Phosphor kann im Rahmen der selektiven Wahrnehmung durch die westliche Öffentlichkeit schlicht ignoriert werden. Laut der britischen ‚Times of London‘ verhinderten Nato-Staaten eine internationale Untersuchung des Einsatzes der verheerenden Brandbomben durch die Türkei in Nordsyrien, bei dem Zivilisten – darunter auch Kinder – schwer verletzt worden sind. Die Nato-Staaten seien zögerlich, die ‚potentiellen Kriegsverbrechen der Türkei‘ untersuchen zu lassen, da dies eine ‚Quelle der Peinlichkeit‘ sei, so die britische Zeitung. Zu Berichten über den Einsatz von Giftgas durch türkische Streitkräfte im Nordirak, den verstörende Videoaufnahmen zu belegen scheinen, schweigt die veröffentlichte Meinung der Bundesrepublik ebenfalls beharrlich.

Diese beiden Kriegszüge des türkischen Islamofaschismus in Nordsyrien illustrieren die imperialistische Expansionsstrategie Erdoğans, der ein Vabanquespiel betreibt, bei dem die Türkei zwischen Russland und dem Westen changiert, um von beiden Seiten Zugeständnisse für weiteren Landraub zu erringen. Putin etwa verscherbelte Afrin an Erdoğan für ein gemeinsames Pipelineprojekt, einen russischen Atomreaktor, der in der erdbebengefährdeten Türkei errichtet werden soll, sowie das S-400 Luftabwehrsystem. Der Kreml hoffte, damit die Herauslösung der Türkei aus dem westlichen Bündnissystem befördern zu können. Wie einfältig dieses Kalkül Putins, der von seinem rot-braunen deutschen Fanclub stets für ein geopolitisches Genie gehalten wurde, war, macht die jüngste Kehrtwende Erdoğans deutlich. Je länger der Krieg in der Ukraine andauere, desto stärker besinne sich die Türkei auf ihre ‚Verankerung im Westen‘, frohlockte Mitte April die ‚FAZ‘. Die Türkei hat den Bosporus für Kriegsschiffe sperren lassen, sodass Russland seine Verluste – man denke etwa an den Raketenkreuzer Moskwa – nicht ersetzen kann. Zudem sperrte die Türkei ihren Luftraum für russische Militärflugzeuge auf dem Weg nach Syrien. Ankara sammelt im Krieg um die Ukraine also fleißig Nato-Treuepunkte, die das türkische Regime in größere militärische Spielräume umzumünzen versteht.

Der Landraub im Nordirak wird von vermehrten Angriffen des türkischen Militärs in Nordsyrien begleitet, die sich gegen die Selbstverwaltung Rojavas oder kurdische Flüchtlingslager richten. Die Drohnenangriffe und Artillerieschläge nehmen mitunter den Charakter von regelrechten Terrorangriffen an: etwa, wenn die türkische Armee etliche Artilleriegranaten in die symbolträchtige kurdische Stadt Kobane feuert, in der in monatelangem Häuserkampf dem IS die entscheidende Niederlage beigebracht wurde. Der türkische Staatsterrorismus zielt vor allem darauf ab, eine Normalisierung des Lebens in Rojava zu verhindern. Allein in der letzten Aprilwoche meldeten kurdische Medien zehn Angriffe durch das türkische Militär oder verbündete islamistische Milizen auf Rojava, bei denen etliche Menschen getötet wurden.

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Der Druck auf die kurdische Selbstverwaltung, die von nahezu allen Regimen und Rackets der Region als eine Bedrohung wahrgenommen wird, nimmt angesichts der wachsenden Krisentendenzen grenzübergreifend zu: Mit der türkischen Invasion im Irak, die faktisch im Schatten des Ukraine-Kriegs stattfindet, verschärfte auch das syrische Regime seine Repressionsstrategie. Laut kurdischen Aktivisten hat die syrische Armee eine Blockade der kurdischen Stadtteile Aleppos errichtet, um die Selbstverwaltungsregion Rojava zur Kapitulation zu zwingen. Damaskus gehe es darum, Nord- und Ostsyrien vollständig einzukreisen, um die Bevölkerung Rojavas durch ‚Hunger zur Aufgabe zu zwingen und ihren Willen zu brechen‘.

Im Irak wiederum gehen die schiitischen Kräfte, die derzeit kontrollieren, was gemeinhin als ‚irakische Armee‘ bezeichnet wird, mit schweren Waffen und Luftschlägen gegen die Selbstverwaltung der jesidischen Minderheit in der nördlichen Region Sindschar vor. Es sind die Überlebenden des 2014 vom IS an dieser religiösen Minderheit verübten Genozids, die nun abermals zu Tausenden aus dem Kriegsgebiet flüchten müssen. Die PKK hat mit einer Militäroperation damals maßgeblich zur Rettung der von den Islamisten bedrohten Bevölkerungsgruppe beigetragen, nachdem die Peschmerga der kurdischen Autonomieregierung vor dem IS flüchteten und die Jesiden buchstäblich zum Abschuss freigaben. Die im Zuge dessen in der Region aufgebauten Selbstverwaltungsstrukturen und die aufgestellten Jesidischen Selbstverteidigungseinheiten (YBS) sollen nun wegen ihrer Nähe zur PKK zerschlagen werden. Die Türkei, die immer wieder die jesidischen Gebiete bombardiert und den IS während seiner Terrorherrschaft massiv unterstützt hat, soll Bagdad in dieser Frage durch Invasionsdrohungen unter Druck gesetzt haben.

Auch die kurdische Autonomieregierung im Irak, die faktisch vom korrupten Barzani-Klan und dessen Kurdischer Demokratischer Partei KDP geführt wird, hat sich vor dem Hintergrund zunehmender sozialer Proteste zur Kollaboration mit Ankara entschieden. Kurz vor Beginn der türkischen Invasion hatte Erdoğan den Premier der Autonomiebehörde, Masrur Barzani, zu Konsultationen nach Ankara geladen. Kurz nach Beginn der Kampfhandlungen dankte Erdoğan sowohl dem kurdischen Barzani-Klan, wie auch der irakischen Regierung für ihre Unterstützung bei der Invasion – und dies, obwohl Bagdad der türkischen Regierung kurz zuvor eine diplomatische Protestnote überbrachte, in der ein Rückzug türkischer Truppen aus dem Irak gefordert wurde. Insbesondere der einflussreiche schiitische Politiker Muqtada al-Sadr, dessen Partei im irakischen Parlament die größte Fraktion stellt, hat Ankara vorgeworfen, Teile des Iraks grundlos zu bombardieren. Die krisenbedingte Angst vor einer real existierenden Alternative zum spätkapitalistischen Dauerchaos bildet den Kitt einer disparaten, informellen Allianz zerfallender Staatsapparate in ihrem Kampf gegen die Selbstverwaltung im Irak und Syrien.

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Was Ankara mit dem Einmarsch im Nordirak bezwecken dürfte, macht ein Blick auf die türkische Okkupationspraxis in Nordsyrien klar. Derzeit schreitet – vom Westen weitgehend ignoriert – die ethnische Säuberung der von der Türkei besetzten nordsyrischen Gebiete ungehindert voran. Kurdische Organisationen beklagten schon Mitte vergangenen Jahres, dass die Kurden in Afrin, die vor dem syrischen Bürgerkrieg die Bevölkerungsmehrheit stellten, nun zu einer Minderheit geworden seien. Während Hunderttausende von vertriebenen Kurden in Flüchtlingslagern vegetieren müssten, hätte Ankara massenhaft Turkmenen und Islamisten aus anderen Regionen Syriens in Afrin angesiedelt, sodass der kurdische Bevölkerungsanteil nur noch bei rund 25 Prozent liege.

Die türkische Okkupation gehe zudem mit willkürlichen Enteignungen und Übergriffen durch islamistische Milizen, mit massenhaften Entführungen von Aktivisten, Folter von Oppositionellen und Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen einher. Zum Zweck der Repression und ethnischen Säuberung unterhalte das Erdoğan-Regime ein Netz von Geheimgefängnissen in Nordsyrien, meldete jüngst die ‚Jerusalem Post‘, in denen das Nato-Land ‚furchtbare Verbrechen‘ gegen Oppositionelle und die kurdische Bevölkerung in einer ’systematischen Weise‘ begehe. Von den nahezu 9.000 Opfern dieses extralegalen türkischen Foltersystems in Nordsyrien seien 1.500 ‚verschwunden‘.

Kurz nach der Eroberung Afrins durch türkisches Militär und verbündete Islamistenbanden erklärte sich die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel prinzipiell dazu bereit, die Okkupation zu finanzieren. Auf Nachfrage von Journalisten erklärte Merkel Ende Januar 2020, die Bundesregierung ziehe es in Erwägung, türkische Maßnahmen in den besetzten Gebieten Rojavas über den Umweg des UNHCR zu unterstützen. Damit war Berlin prinzipiell dazu bereit, einen Angriffskrieg und ethnische Vertreibungen zu bezuschussen. Attraktiv schien dies der deutschen Bundesregierung wohl vor allem deshalb, weil die Okkupationspraxis der Türkei in die Errichtung gigantischer Flüchtlingsghettos mündet – und die könnten künftig noch gebraucht werden.

Die EU-Denkfabrik European Council of Foreign Relations (ECFR) bezeichnete die Zonen der türkischen Besatzung in Nordsyrien 2020 als ein ’neues Gaza‘, in dem Ankara – bewacht durch verbündete Islamisten – vier Millionen Menschen, zumeist ’sunnitische Araber‘, konzentriert habe, was das Risiko dauerhafter Verelendung und ‚politischer Instabilität‘ mit sich bringe. Die EU solle der Türkei helfen, diese als ‚Sicherheitszonen‘ bezeichneten Okkupationsgebiete zu stabilisieren, ohne ‚die eignen Interessen und Prinzipien‘ zu verletzen, hieß es weiter. Die Türkei sei zwar dabei, eine Zone mit einer ’sunnitisch arabischen Mehrheit‘ in ehemaligen kurdischen Siedlungsgebieten zu schaffen, und es sei ’schwer vorstellbar‘, dass Ankara die syrischen Okkupationsgebiete jemals wieder verlasse. Dennoch sollten die Europäer, für die Ankara ein ‚unverzichtbarer Partner‘ in Fragen der Migrationspolitik und des Handels sei, in eine ’sinnvolle Konversation‘ mit Ankara treten.

Auf den Trümmern des emanzipatorischen Projekts Rojava würde so ein faschistoides Lagersystem für kommende Fluchtbewegungen errichtet werden. Und das ist nun wirklich ein Vorhaben, das ganz den traditionellen Interessen Deutschlands entspricht. Wie könnte eine grüne Außenministerin dieser neuen Form deutsch-türkischer Kooperation im Weg stehen?

Tomasz Konicz schrieb in konkret 5/22 über die Verfasstheit des russischen Machtapparats

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