Baltische Bruchlandung

„Junge Welt“, 08.08.2008

Geplatzte Immobilienblase, horrendes Leistungsbilanzdefizit, hohe Teuerungsraten – in Estland, Lettland und Litauen sind die Boomjahre vorbei

Es war ein detaillierter Bericht über die wirtschaftlichen Aussichten des Baltikums, den die Danske Bank am 31. Juli veröffentlichte. Trotz des Umfangs der vom führenden dänischen Geldinstitut angefertigten Studie, die voluminös wie ein großstädtisches Telefonbuch ist, war deren Kernaussage knapp: Es geht abwärts im Baltikum, teilweise in beängstigendem Tempo. Laut der »North Eastern Recap« betitelten Untersuchung stehen alle drei baltischen Volkswirtschaften vor ernsten wirtschaftlichen Verwerfungen. Demnach ist die ökonomisch »harte Landung« in Estland »bereits Realität « geworden. Litauen wird der Studie zufolge nachziehen. Die düsterste Prognose aber bekam Lettland. Dessen Volkswirtschaft werde in einer Krise versinken, die bis 2012/2013 andauern könne. Violeta Klyviene, Chefökonomin der dänischen Bank, sprach von einer »hohen Wahrscheinlichkeit«, daß die lettische und die estnische Volkswirtschaft bereits dieses Jahr in einer Rezession landen.

Demnach soll das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Lettlands um 0,5 Prozent schrumpfen, das estnische gar um 0,8 Prozent. Für Litauen prognostiziert die Studie eine Verlangsamung des Wirtschaftswachstums: 2009 soll es noch 2,3 Prozent betragen – nach stolzen 7,7 Prozent im ersten Quartal 2008. Der Absturz der seit fast einer Dekade boomenden lettischen Wirtschaft ist dramatisch. Das Land konnte oftmals zweistellige Wachstumsraten verzeichnen. 2006 legte das BIP um 13 Prozent zu. Selbst 2007 stieg die lettische Wirtschaftsleistung noch um zehn Prozent. In diesem Jahr kam es zur Vollbremsung. Innerhalb weniger Monate sackte das Wirtschaftswachstum auf nur noch drei Prozent ab. Die Absturzursachen gleichen sich in den drei Staaten. In Lettland wurde dabei exzessiv betrieben, was nahezu überall in Osteuropa für einen fast rauschhaften Aufschwung gesorgt hatte: Konsum auf Pump. Getreu dem großen Vorbild USA wurde die Konjunktur mittels kreditfinanzierter Binnennachfrage befeuert. Der Konsum expandierte, stolze Wachstumsraten gaukelten Wirtschaftsdynamik vor, doch selbsttragend war dieser Aufschwung niemals. Der lettische Ökonom Morten Hansen beschrieb das in der österreichischen Presse so: »Jedesmal, wenn man für vier Lat (lettische Währung, jW) produzierte, konsumierte man für fünf«.

Das Geld kam in Form von Krediten, großzügig vergeben von zumeist skandinavischen Banken. Volkswirtschaften, die mehr verbrauchen als leisten bzw. produzieren, geraten in die Schuldenfalle. Lettland baute also ein extremes Leistungsbilanzdefizit auf. Anfang 2008 mußten die Verantwortlichen in Riga eingestehen, daß dieses Minus unglaubliche 21,4 Prozent des BIP betrug. In Estland lag die Differenz zwischen eingeführten und exportierten Gütern, Dienstleistungen und Kapital bei 16 Prozent, in Litauen bei 13 Prozent eines jährlichen Bruttoinlandsprodukts. Die atemberaubende Geschwindigkeit der Verschuldung wird z. B.am Wachstum der estnischen Verbraucherkredite um 65 Prozent allein im Jahr 2006 deutlich. Diese hatten schon damals ein Volumen von 38 Prozent der gesamten jährlichen Wirtschaftsleistung und von 70 Prozent der verfügbaren Einkommen der Baltenrepublik erreicht.

Es wundert nicht, daß nun die Danske Bank den baltischen Staaten so viel Aufmerksamkeit zukommen läßt. Denn das Finanzhaus ist seit der 2006 erfolgten Übernahme der finnischen Sampo Bank im Baltikum präsent und fürchtet nun offenbar um sein ausgeliehenes Geld. Die größten Risiken auf faulen Krediten sitzenzubleiben haben indes die schwedischen Geldhäuser Swedbank und SEB. Deren Marktanteil im Baltikum beläuft sich auf 70 Prozent. So stufte Anfang August die Ratingagentur Moody’s die Swedbank von der ohnehin nicht sonderlich guten Bewertung »B« auf »B -« herab. Die Bank sei vermittels ihrer Tochtergesellschaft Hansabank zu stark dem baltischen Finanzmarkt »ausgesetzt«, so Moody’s kühl. Swedbank-Chef Jan Liden beeilte sich zu versichern, daß nur zwischen 0,5 und 0,7 Prozent der von der Hansabank vergebenen Kredite vermutlich nicht mehr eingetrieben werden könnten. Dies dürfte eine sehr optimistische Einschätzung sein. Betrug doch der Anteil der überfälligen Darlehen allein in Estland Anfang 2007, also noch am Vorabend der Krise, bereits 3,1 Prozent des gesamten Kreditaufkommens.

Dazu kommen die Auswirkungen der geplatzten Spekulationsblase auf dem Immobilienmarkt hinzu. Jahrelang hat auch die Baubranche zur zahlenmäßig guten Konjunktur beigetragen, doch nun verfallen die Preise. Massenweise waren Luxusappartements oder Eigenheimghettos nach westlichem Vorbild aus dem Boden gestampft worden. Jetzt gibt es erste Investitionsruinen in den baltischen Hauptstädten. 2008 fielen die Immobilienpreise in Tallinn um ca. zehn, in Riga sanken sie um sechs Prozent und im litauischen Vilnius stagniert der Immobilienmarkt derzeit.

Kreditkrise und Einbruch des Immobilienmarkts werden durch die Inflation potenziert. Auch hier ist Lettland vorn. Im vergangenen Mai betrug die Teuerungsrate dort 17,9 Prozent. Estland und Litauen schlagen sich mit einer Inflation um die elf Prozent herum. Gemeinsam ist allen drei Staaten, daß diese Geldentwertung einen Großteil der Lohnerhöhungen der vergangenen Jahre aufzehrt. An denen hatten ohnehin beispielsweise Rentner oder Staatsangestellten so gut wie nicht partizipiert. Inzwischen erreichen die Preise in den großen baltischen Städten Weltniveau. Laut estnischem Statistikamt liegt der Preis für den zur Berechnung der Inflation zusammengestellten Warenkorb bei Lebensmitteln in Tallin höher als in New York. Der Mindestbruttolohn indes beläuft sich in Estland auf umgerechnet 278 Euro monatlich, in Lettland – das ein vergleichbares Preisniveau hat – auf 230 Euro.

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