Londons »wahre Krise«

„Junge Welt“, 11.06.2008
Hauspreise verfallen, Zinsen steigen, Schuldner können Hypotheken nicht bedienen – die britische »Eigentümergesellschaft« schlittert in den Untergang

Ein Grundpfeiler britischer Politik, die von Margaret Thatcher in den 80er Jahren proklamierte »Ownership Society«(Eigentü­mergesellschaft), tritt seinen überfälligen Weg auf den Müllhaufen der Geschichte an. Damals hatte die als »Eiserne Lady« bezeichnete konservative Premierministerin die britische working class animiert, Wohneigentum zu erwerben. Britanniens Arbeiter und kleine Angestellte sollten zu vergünstigten Konditionen jene im öffentlichen Besitz befindlichen Häuser erwerben können, in denen sie wohnten. Das spaltete die Wählerbasis der Labour Party und suggerierte den Menschen, sie würden zu Eigentümern, gar zu Landlords, also Vermietern, »aufsteigen« können. Die Spaltungsstrategie der Tories ging auf und schuf tatsächlich eine Schicht von lohnabhängigen Immobilieneigentümern und Kleinstvermietern in Großbritannien, die fortan konservativ wählten und ihre Mieteinnahmen als ein Zubrot zum Gehalt betrachteten.
»Aufstieg« der Arbeiter
Thatchers Coup, der einem Gutteil der britischen Lohnabhängigen ihr Klassenbewußtsein austrieb, wandelte sich im Laufe der Zeit zu einem einträglichen Industriezweig. Kreditinstitute, wie beispielsweise die nordenglische Bank Bradford & Bingley, spezialisierten sich darauf, Mietwohnungen auf Hypothek an Mitglieder dieser neuentstandenen Schicht zu verkaufen. Diese spekulierten darauf, daß die Mieteinnahmen die Hypothekenzinsen übersteigen werden. In Folge des so angefeuerten Wirtschaftsbooms expandierte der sogenannte Buy-to-let-Immobilienmark (Kaufe, um zu vermieten – BTL). Gab es zur Jahrundertwende 120000 BTL-Hypothekennehmer, so sind es derzeit 1,1 Million Briten, die auf Pump zum Vermieter mutiert sind.

Inzwischen ist mit Badford & Bingley einer der führenden Akteure des BTL-Marktes in Bedrängnis. Abflauende Konjunktur, sinkende Immobilienpreise und steigende Zinsen bewirken, daß immer mehr Hypothekennehmer in Verzug geraten. Seit Jahresanfang stieg deren Zahl um mehr als 50 Prozent. Die »Vermieter« können ihre steigenden Hypothekenzinsen nicht decken, weil ihre Mieteinnahmen sinken. So stieg der durchschnittliche Zinssatz auf dem BTL-Markt binnen weniger Monate von 6,17 auf 6,94 Prozent. Die Aktien von Bradford & Bingley brachen trotz der Finanzspritze eines Hedgefonds ein. Anleger befürchteten einen Kollaps der Bank, wie ihn der Baufinanzierer Northern Rock bereits im Zuge der Finanzkrise erlebte.

Befürchtet werden nun Panikverkäufe von Mietwohnungen, was den bereits wankenden Immobilienmarkt Großbritanniens kollabieren lassen dürfte. Die Auswirkungen könnten um einiges schlimmer ausfallen als in den USA, da die Preisrallye auf dem britischen Wohnungsmarkt noch exzessiver ausgefallen war. Allein im Mai sanken die Häuserpreise um 2,5 Prozent. Analysten von der Investmentbank Morgan Stanley gehen davon aus, daß in den folgenden zwei Jahren die Immobilienpreise im Schnitt um weitere 25 Prozent nachgeben werden. Der Internationale Währungsfonds IWF geht sogar von einer »Korrektur« von 30 Prozent aus. Neusten Schätzungen zufolge könnte in den kommenden 18 Monaten bis zu eine Million Briten nicht in der Lage sein, ihre Hypotheken zu bedienen. Während die Preise für Energie und Nahrungsmittel unaufhaltsam steigen und die Nettolöhne abschmelzen, sehen sich immer mehr Hypothekennehmer außerstande, ihren finanziellen Verpflichtungen nachzukommen. Inzwischen weisen 250000 mit Hypotheken belastete Haushalte ein »negatives Kapital« auf – das bedeutet, daß die Hypotheken höher sind als die beständig fallenden Marktpreise der entsprechenden Häuser. Der Markt befinden sich bereits im freien Fall. Das Volumen neu abgeschlossener Immobilienkredite wird jüngsten Prognosen zufolge 2008 um beinahe 50 Prozent auf 55 Milliarden Pfund zurückgehen.
Spekulationsblase platzt
Das zeigt Wirkung. Neben einem deutlichen Rückgang des privaten Konsums machen sich auch erste Überkapazitäten in der verarbeitenden Industrie bemerkbar, so die Londoner Tageszeitung The Guardian Mitte Juni. Die private Nachfrage war – ähnlich wie in den USA – die Hauptstütze der britischen Konjunktur, und diese ebenfalls kreditfinanziert. Die Konsumenten sitzen nun auf einem Schuldenberg von 1,4 Billionen Pfund, was in Relation zum Bruttosozialprodukt die höchste Schuldenrate der Welt ist. Zudem führen der zusammenbrechende Hypothekenmarkt und die globale Finanzkrise zu Massenentlassungen im wirtschaftlich extrem wichtigen Finanzsektor Großbritanniens. Allein in der City of London sollen laut JP Morgan 40000 Menschen ihren bislang hochdotierten Arbeitsplatz verlieren. Die platzende Immobilienblase mitsamt steigender Zinsen könne die »britische Ökonomie verschlingen und zu einer Depression führen«, prophezeite unlängst die linksliberale Zeitschrift The New Statesman. »Die wahre Krise beginnt erst«, warnte das Blatt.

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