Vabanque

Konkret 2020/11

Der Stellvertreterkrieg um die Region Bergkarabach könnte sich zum Großkonflikt entwickeln. Von Tomasz Konicz

Josef Stalin war nicht gerade für Sensibilität in Nationalitätenfragen bekannt. Der Erfinder der nationalen Kollektivstrafe, der schon mal ganze Völkerschaften während des 2. Weltkrieges ins Exil deportieren ließ, sofern sie der potenziellen Kollaboration mit Nazideutschland verdächtig waren, stand in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts dem sowjetischen Volkskommissariat für Nationalitätenfragen vor. In dieser Eigenschaft traf er 1921 die Entscheidung, eine von Armeniern bewohnte Bergregion, die den russischen Namen eines „Gebirgigen Gartens“ verpasst bekam, aus der Konkursmaße der kurzlebigen, ende 1920 von Sowjettruppen besetzten Armenischen Republik herauszulösen, um sie in die neu geschaffene aserbaidschanische Sowjetrepublik als einen autonomen Oblast zu integrieren. Motiviert schien diese 1923 umgesetzte Grenzbildung, die bis zur Implosion der Sowjetunion trotz etlicher armenischer Initiativen nicht mehr revidiert wurde, durch taktische Überlegungen Stalins, bei denen die Akzeptanz der Sowjetherrschaft bei den Muslimen und Turkvölkern Zentralasiens gesteigert, und eine etwaige Allianz mit Atatürk und dem sich formenden türkischen Staat befördert werden sollte.

Der Konflikt um Nagorny Karabach schien über Jahrzehnte vergessen – bis die Erschöpfung des zentralistischen sowjetischen Wirtschaftsmodells in Stagnation und zunehmende Versorgungskrisen führte, die Nationalismus und Separatismus Auftrieb verschafften. Neben dem Baltikum bildeten folglich die im Zuge des Siechtums des Staatssozialismus ab der zweiten Hälfte der 80er aufbrechenden ethnischen Konflikte im Kaukasus einen der zentralen Brandherde, die den Zerfall der Sowjetion beschleunigten (Neben Nagorny Karabach waren dies die Kriege um Abchasien, Südossetien und schließlich Tschetschenien). Der mit Massakern an der armenischen Minderheit Aserbaidschans ende der 80er entfachte und bis 1994 tobende Krieg um Nagorny Karabach gilt als der blutigste Konflikt, der im Verlauf des Zerfalls der Sowjetion tobte. Der Krieg kostete bis zu 40 000 Menschen das Leben, rund 700 000 Aserbaidschaner und 400 000 Armenier wurden im Verlauf von Kampfhandlungen und ethnischer Säuberungen vertrieben.

Armenien konnte den Krieg – auch dank russischer Unterstützung – für sich entscheiden und sowohl Nagorny Karabach als auch die an Armenien angrenzenden Regionen als Pufferzone sichern. Die ehemalige armenische Enklave, die sich inzwischen als die international nicht anerkannte Republik Arzach bezeichnet, war nie Teil des unabhängigen Aserbaidschan, da der autonome Oblast Bergkarabach seine Unabhängigkeit vor dem Austritt der aserbaidschanischen Sowjetrepublik aus der Sowjetuion ausrief – dies durchaus in Übereinstimmung mit der sowjetischen Verfassung, die rein formell das Selbstbestimmungsrecht all der Völkerschaften anerkannte, die mitunter erst durch die sowjetische Nationalitätenpolitik im 20. Jahrhundert geformt wurden. Aserbaidschan wiederum machte die Eroberung der gebirgigen Region, die dem Verteidiger große strategische Vorteile einräumt, zur Staatsräson. Laut UN-Beschluss gehört die Region formell zu Aserbaidschan. Trotz der großen Deviseneinnahmen aus dem Export fossiler Energieträger, die es Baku über lange Jahre erlaubten, einen Militäretat von der Größe des gesamten Staatshaushalts des verarmten Armeniens zu unterhalten, endeten die bisherigen militärischen Vorstöße des aserbaidschanischen Militärs – etwa 2016 und im Sommer 2020 – in blutigen Desastern.

Der großangelegte, Ende September gestartete Angriffskrieg gegen Arzach stellt hingegen eine neue Qualität der militärischen Auseinandersetzung dar, da er mit massiver Unterstützung des islamofaschistischen Regimes in Ankara geführt wird. Faktisch handelt es sich um eine verdeckte Intervention Erdogans im Südkaukasus. Im Vorfeld des Angriffs verlegte die Türkei Teile seiner dschihadistischen Söldnertruppen nach Aserbaidschan, die zuvor in Libyen und Nordsyrien eingesetzt wurden. Seit einem gemeinsamen Militärmanöver stationierte Ankara moderne F-16 Kampfflugzeuge auf der aserbaidschanischen Luftwaffenbasis in Ganja, die nach armenischen Angaben als Geleitflugzeuge für aserbaidschanische Kampfdrohnen und Erdkampfflugzeuge wie die SU-25 agieren.

Ankara sichert faktisch den durch dschihadistische Söldner verstärkten Truppen Aserbaidschans die Luftherrschaft in den Konflikt. Jerewan erklärte zu Beginn der Kampfhandlungen, dass eine jener türkischen F-16 ein armenisches Kampfflugehezug abgeschossen habe, was den ersten direkten Angriff des türkischen Militärs gegen armenische Ziele nach dem Genozid von 1915/16 markierte. Zudem scheinen die Behauptungen der Jerewans, wonach türkische Militärs Schlüsselpositionen bei der Kriegsplanung besetzten und die effektive Drohnenkampagne gegen die armenischen Truppen koordinierten, durchaus stichhaltig. Mitte August besuchte eine hochrangige Militärdelegation Baku, der auch der Luftwaffengeneral Göksel Kahya angehörte. Kahya organisierte den effektiven Einsatz türkischer Kampfdrohnen in Libyen. Schon im August warnten Insider, dass Ankara dabei sei, in Aserbaidschan ein Operationszentrum für die Drohnenkriegsführung aufzubauen.

Diese Intervention Erdogans im geopolitischen Hinterhof Russlands folgt unmittelbar auf die Auseinandersetzungen im östlichen Mittelmeer, wo Ankara neue Gebietsansprüche erhebt und sich auf Konfrontationskurs mit Griechenland, Zypern und Frankreich befindet (siehe Konkret…). Das Vabanque-Spiel Erdogans, der praktisch im Monatsrhythmus neue Krisen und Kriege entfacht, um durch diese imperialen Ambitionen von der schweren Wirtschaftskrise in der Türkei abzulenken, bringt Russland in eine äußerst ungünstige Position. Putin befindet sich ohnehin unter Druck: in Belarus, in Kirgisien, im unruhigen Sibirien. Das verarmte Armenien, wo Moskau eine Militärbasis unterhält, ist der wichtigste geopolitische Bündnisspartee Russlands im Kaukasus, doch zugleich unterhält der Kreml gute Kontakte zu Baku, dass aufgrund reichhaltiger Einnahmen aus dem Export fossiler Energieträger als ein wichtiger Absatzmarkt für russische Waffen dient. Mit der Türkei wiederum unterhält die russische Staatsoligarchie vielfältigste Geschäftsbeziehungen (von gemeinsamen Pipelineprojekten, über Waffenexporte, bis zum geplanten Atomkraftwerk), die bei einer direkten Konfrontation mit Erdogan auf dem Spiel stünden. Schließlich hofft Putin, durch geopolitische Kompromisse gegenüber den imperialistischen Ambitionen Erdogans – etwa durch die Opferung des kurdischen Kantons Afrin in Nordsyrien für die türkische Invasion Anfang 2018 – die Türkei immer weiter aus der westlichen Einflusssphäre zu lösen.

Aus Putins sich bilden die bisherigen Konflikte mit Erdogan schlicht geopolitische Kosten der zunehmenden Kooperation zwischen Russland und der Türkei. Staaten sind keine Menschen, sie können einträgliche Geschäfte machen und sich zugleich in imperialistischen Stellvertreterkriegen (in Libyen, nun im Kaukasus) bekämpfen. Doch im Kaukasus scheint diese Strategie an ihre Grenzen zu stoßen, da sie mit einem Verlust der russischen Hegemonie in dieser Region einherginge, indem sich die Türkei in der Region als ein weiterer geopolitische Faktor etablierte. Allein schon der massenhafte Einsatz von Dschihadisten im Südkaukasus ist für Moskau, wo die Erinnerungen an den langwierigen Krieg gegen den tschetschenischen Islamismus noch lebendig ist, nicht tolerierbar. Russlands formelle „rote Linie“ bildet ein direkter Angriff auf Armenien, doch selbst die bisherige Situation, wo Ankara offen als Kriegstreiber gegen ein mit Russland offiziell verbündetes Land agieren kann, führt zum Einflussverlust Russlands in der Region.

Bis Redaktionsschluss versuchte es Moskaus – das eigentlich den status quo ante bellum herstellen will, um Aserbaidschan vom Abdriften in die westliche Einflusssphäre abzuhalten und weiter beide Seiten mit Waffen versorgen zu können – mit einer diplomatischen Initiative und einer Waffenruhe, die aber von Ankara abgelehnt, und nach wenigen Stunden von Baku gebrochen wurde. Das russische Dilemma lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Putin kann Armenien als wichtigen geopolitischen Stützpunkt und Mitgliedsland des russischen Verteidigungsbündnisses OVKS nicht einfach opfern und Erdogans Soldateska zum Fraß vorwerfen, wie er es mit Afrin tat, und zugleich will er nicht die einträglichen Beziehungen zu Ankara und Baku aufs Spiel setzen – auch angesichts zunehmenden Drucks im geopolitischen Orbit der Russischen Föderation.

Ankara wiederum betreibt weiterhin sein geopolitisches Vabanquespiel, bei dem die imperialistischen Ambitionen Erdogans durch das gegeneinander ausspielen Brüssels, Washingtons und Moskaus realisiert werden sollen – wobei die Einsätze in diesem blutigen imperialistischen „Great Game“ immer größer werden. Der türkische Vorstoß in den Kaukasus, den „weichen Unterleib Russlands“, dürfte kaum auf nennenswerte Kritik seitens der Nato oder der EU stoßen, während die Expansionspläne Erdogans im östlichen Mittelmeer, bei denen auch europäische Pipelineprojekte durchkreuzt werden sollen, in Russland mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen werden dürften. Dieses insbesondere von Berlin und Moskau tolerierte Expansionsstreben, bei dem der türkische Islamofaschismus geschickt die imperialistischen Widersprüche zwischen Moskau, Berlin, Washington und Paris ausnutzt und das Ankara schon bei seinen Angriffskriegen gegen Rojava erfolgreich betrieb, wird so lange weitergehen, bis Erdogan unweigerlich sein Blatt überreizt. Je länger es dauert, desto größer der kommende Fallout.

Armeniens geopolitische Lage kann hingegen als verzweifelt bezeichnet werden. Das Land ist vollkommen abgeschnitten, auf die Zufuhr von Kriegsmaterial durch den Iran angewiesen (wo es eine große aserbaidschanische Minderheit gibt), da auch Georgien nach dem Krieg um Südossetien im August 2008 für antirussische Allianzen offen ist und sein Territorium für türkischen Nachschub gen Aserbaidschan zumindest zu Kriegsbeginn zur Verfügung stellte – während zugleich die georgischen Grenzen für armenische Freiwillige geschlossen blieben. Schlimmer noch: In Reaktion auf die militärische Kooperation zwischen Russland und Aserbaidschan versuchte es Jerewan in den vergangenen Monaten mit einer Diversifizierung seiner geopolitischen Ausrichtung und einer Annäherung an den Westen, was Jerewan nun zum Verhängnis zu werden droht, da das militärtechnisch weit unterlegene Land keinerlei nennenswerte Unterstützung von Washington oder Brüssel erwarten kann, während Moskau nun ein Exempel statuiert an dem renitenten Klientelstaat – und sich mit konkreter Unterstützung viel Zeit lässt.

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