Ein Jahr vor der Zeit

„Junge Welt“, 29.04.2008
Der Wahlkampf in Kiew hat bereits begonnen: Traditionsreiche Rivalität zwischen Präsident Juschtschenko und Regierungschefin Timoschenko bricht wieder auf

Die monatelang schwelenden Konflikte und Rivalitäten innerhalb des ukrainischen Regierungslagers eskalieren derzeit zum offenen Konflikt. Nachdem im Dezember 2007 die prowestlichen Kräfte um Regierungschefin Julia Timoschenko gemeinsam mit der Präsidentenpartei »Unsere Ukraine« eine Koalition formen konnten, schien es, als ob die traditionellen Rivalitäten innerhalb dieses Lagers von dem gemeinsamen Streben nach einer möglichst raschen Westintegration überlagert würden. Dafür sprach auch, daß Timoschenkos Wahlverein »Block Julia Timoschenko« mitsamt der Partei von Präsident Viktor Juschtschenko lediglich über eine hauchdünne Mehrheit von drei Stimmen im ukrainischen Parlament verfügt – und also genutzt werden sollte.

Doch wurde der zeitweilige Waffenstillstand zwischen Timoschenko und Präsident Juschtschenko spätestens am 10. April aufgekündigt, als der Chef des Sekretariats Juschtschenkos, Viktor Baloga, die Premierministerin öffentlich beschuldigte, bewußt einen Konflikt mit dem Staatschef zu provozieren. Im Zentrum der neuesten Querelen zwischen den einstigen Protagonisten der »orangen Revolution« steht die gegenwärtige Privatisierungspraxis sowie der Kampf um die Kontrolle des staatlichen Privatisierungsfonds.

Postengerangel

Bereits am 6. April hatte Timoschenko die Vorsitzende des Privatisierungsfonds, Walentyna Semeniuk-Samsonenko, unter dem Vorwand des Kampfes gegen »kriminelle Strukturen« gefeuert. Daraufhin ließ Präsident Juschtschenko die entlassene Fondschefin per Dekret wieder in ihren Posten einsetzen.

Im Verlauf des sich ausweitenden Tauziehens um die Privatisierung versuchten der Präsident und die Premierministerin mehrfach, jeweils ihre Leute an der Spitze des Fonds zu platzieren, über den das öffentliche Eigentum der Ukraine veräußert wird. Juschtschenko befahl sogar seiner eigenen Sicherheitsagentur, die Räumlichkeiten der Institution zu »bewachen«, während Timoschenko den von ihr eingesetzten Fondschef Andrij Portnow am 25. April aufforderte, die Präsidialdekrete künftig zu ignorieren. Der Präsident sperrt sich insbesondere gegen weitere Privatisierungen, da diese wohl derzeit hauptsächlich den Gönnern und oligarchischen Seilschaften in Timoschenkos Umfeld zugute kämen. Auf der Verkaufsliste stehen solch lukrative Häppchen wie der Turbinenhersteller Turboatom und der Ammoniakproduzent Odessa.

So erklärte der Staatschef am vergangenen Donnerstag, daß er sich einer von Timoschenko angeblich favorisierten »totalen Privatisierung« widersetzen werde. Laut Juschtschenko plane die derzeitige Regierung einen »saisonalen Ausverkauf« des öffentlichen Vermögens der Ukraine, der dem Interesse des Landes zuwiderliefe.

Die aktuellen, eskalierenden Auseinandersetzungen zwischen Premierministerin und Präsident werden aber erst vor dem Hintergrund der für 2009 anstehenden Präsidentschaftswahl vollauf verständlich. Bei mehreren Gelegenheiten betonte Timoschenko ihre Ambitionen auf das höchste Staatsamt der Ukraine.

Timoschenkos Chance

Gegenüber der russischen Tageszeitung Kommersant meinte die ehrgeizige Regierungschefin, daß ihre Mannschaft »reelle Chancen« gegen Juschtschenko bei dem kommenden Urnengang habe. Dies sei auch der Grund, weshalb Juschtschenko viele Regierungsinitiativen blockiere, erklärte Timoschenko nun: Der Präsident sehe die Regierungschefin bereits als eine Mitbewerberin bei den kommenden Wahlen an. In Kiew findet somit bereits ein Vorwahlkampf statt.

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