Harte Landung statt Boom

„Junge Welt“, 19.04.2008
Osteuropas Wirtschaftsaufschwung ist auf Pump finanziert. Jetzt warnen IWF und Weltbank vor Folgen der Finanzkrise für die EU-Peripherie

Der Internationale Währungsfonds (IWF) warnt vor einem konjunkturellen Einbruch in Osteuropa. Im jährlich publizierten Global Financial Stability Report droht der Fonds der gesamten osteuropäischen Peripherie der EU eine konjunkturelle »harte Landung« an. Diese könnte hauptsächlich durch die globale Finanzkrise ausgelöst werden, so die Washingtoner Finanzorganisation.

Besonders die in der Region verbreitete Tendenz zur Ausbildung eines dramatischen Leistungsbilanzdefizits finden die IWF-Volkswirte besorgniserregend. Die Leistungsbilanz – eine der wichtigsten volkswirtschaftlichen Kenngrößen – registriert die Salden aus dem Warenaustausch eines Staates mit dem Ausland, dem Austausch von Dienstleistungen sowie der Finanzüberweisungen (z. B. Geldtransfer von Gastarbeitern in ihre Heimatländer). Ein Defizit, also ein negativer Saldo, bedeutet faktisch einen Vermögensrückgang der jeweiligen Volkswirtschaft. Hierbei können die scheinbar robust wachsenden Staaten Osteuropas wahrlich erschreckende Rekorde vorweisen.

So summierte sich das Leistungsbilanzdefizit Lettlands 2007 auf 22,9 Prozent des Bruttosozialprodukts (BSP). Ähnlich dramatische Werte weist Bulgarien mit 21,4 Prozent auf. Drastische Vermögensabflüsse verzeichnen auf diese Weise auch Serbien (16,5 Prozent des BSP), Estland (16), Rumänien (14,5) und Litauen (13,3 Prozent). In Bulgarien wird für dieses Jahr ein weiter zunehmendes Leistungsbilanzdefizit von 22 Prozent des BSP erwartet.

Zur Verdeutlichung dieser Dimensionen dürfte der Hinweis auf das Leistungsbilanzdefizit Polens, der größten Volkswirtschaft des ehemaligen Ostblocks in der EU, ausreichen. Dieses stieg von Januar bis Februar 2008 von 3,7 auf 3,9 Prozent des BSP. Konkret flossen im Monat Februar 1,32 Milliarden Euro aus dem östlichen Nachbarstaat ab, während es im Vorjahreszeitraum nur 733 Millionen Euro waren. Den größten Anteil an dieser desaströsen Entwicklung trägt das Handelsbilanzdefizit dieser Staaten, was heißt, sie kaufen viel mehr Waren ein, als sie ausführen.

In den meisten der neuen EU-Mitgliedsländer dieser Region wird das steigende Wirtschaftswachstum der letzten Jahre von der Inlandsnachfrage getragen. Diese hat sich teilweise geradezu stürmisch entwickelt. Doch die große Konsumparty im Osteuropa wird nicht in erster Linie durch das steigende Lohnniveau getragen, da die nominalen Gehaltszuwächse größtenteils von der Inflation aufgezehrt werden. Der durch Nachfrage getriebene Boom wird weitgehend durch exzessive Kreditfinanzierung befeuert. So wuchs die Gesamtsumme privater Kredite allein im vergangenen Jahr in Bulgarien um 62 Prozent, in Rumänien waren es 60,4 Prozent. Im Baltikum stieg die private Verschuldung um 45 Prozent, und selbst Polen schaffte es mit seinen 39 Millionen Einwohnern, die Verbindlichkeiten der Privatverbraucher um 39,4 Prozent auszuweiten.

Diese Kreditorgie wird hauptsächlich von westlichen Banken finanziert, die sich längst eine dominierende Stellung auf dem osteuropäischen Finanzmarkt gesichert haben. Mit der aktuellen, und noch immer weiter ausufernden Finanzkrise, könnte die Konsumparty auf Pump ein jähes Ende finden. Der IWF nennt in seinem Bericht vor allem skandinavische Banken, die sich im Baltikum engagierten, sowie österreichische und italienische Kreditinstitute, die durch ihre überaus großzügigen Kreditpraktiken in die Bredouille geraten könnten. Das westliche Finanzkapital habe laut IWF massiv »negative Positionen während des osteuropäischen Booms in dieser Region aufgebaut«. Doch nun versiege aufgrund der Finanzkrise die Liquidität für diese Banken, denen es immer schwerer falle, an »Geld auf den globalen Märkten zu kommen«. Auf diese Weise könne eine »sanfte konjunkturelle Landung« in Osteuropa ernsthaft gefährdet sein, da insbesondere die Volkswirtschaften des Baltikums und Südosteuropas durch eine Einschränkung der Kreditvergabe hart getroffen würden.

Die Schwesterorganisation des IWF, die Weltbank, sieht dieses Szenario einer »harten Landung« bereits als wahrscheinlich an. Vergangene Woche erklärte Shigeo Katsu, Vizepräsident der Weltbank für Osteuropa und Zentralasien, daß die Länder des östlichen Europas und der ehemaligen Sowjet­union aufgrund der Finanzkrise eine »Verlangsamung« ihres Wirtschaftswachstums erfahren könnten.

Desaströs könnte eine mögliche globale Wirtschaftskrise für die osteuropäischen Volkswirtschaften vor allem wegen der verheerend wirkenden Privatisierungen der 90er Jahre verlaufen. Ganze Industriezweige wurden damals unter dubiosen Umständen an westliche »Investoren« verscherbelt und dann oftmals plattgemacht. Viele Volkswirtschaften Osteuropas wurden so ihrer eigenen, ökonomischen Kapazitäten beraubt. Sie wurden deindustrialisiert.

Der vielbeschworene osteuropäische Boom der vergangenen Jahre wurde hauptsächlich von ausländischen Direktinvestitionen getragen. Westliche Konzerne nutzten das niedrige Lohnniveau der Region und bauten – und bauen wie Nokia in Rumänien – dort ihre »verlängerten Werkbänke« auf. Zumeist wurden arbeitsintensive Produktionsschritte wie Montagetätigkeiten ausgelagert.

Im Zuge der Krise werden die Banken möglicherweise ihre Kreditvergabe in Osteuropa drosseln. Sie könnten in Versuchung geraten, die zumeist variablen Zinsen der laufenden Darlehen massiv zu erhöhen – was massive Forderungsausfälle nach sich ziehen dürfte. Auf jeden Fall sind sich zahlreiche Experten einig, daß die westlichen Konzerne im Krisenfall zuerst ihr Engagement in der östlichen Peripherie reduzieren werden. Das würde zu einer raschen Vermehrung des osteuropäischen Arbeislosenheeres beitragen. Es ist nicht auszuschließen, daß die derzeit in Rumänien, Polen oder Bulgarien errichteten Werke von Nokia, Ford und Renault sich bald in still vor sich hin rostenden Investitionsruinen verwandeln, wie die nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus zerschlagenen Kombinate.

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