Votum gegen den Rotstift

„Junge Welt“, 12.03.2007
Ungarn: 82 Prozent lehnen bei Referendum Krankenhaus- und Studiengebühren ab. Schwere Schlappe für sozialliberale Koalition

Es war zweifellos eine Niederlage von historischem Ausmaß, die Ungarns sozialliberale Koalition am vergangenen Sonntag einstecken mußte. Bei einem Referendum standen etliche Vorhaben eines umfassenden Rotstift- und Privatisierungspaketes zur Abstimmung, mit dem die Regierung des sozialdemokratischen Premiers Ferenc Gyurcsany das Haushaltsdefizit des Landes senken will. Über 82 Prozent aller Teilnehmer an dieser bindenden Volksabstimmung sprachen sich gegen die Einführung von Gebühren bei Arztbesuchen und Krankenhausaufenthalten wie auch gegen die geplanten Studienabgaben aus. Das überwältigende Votum fiel weit klarer aus, als von den meisten Meinungsforschungsinstituten prognostiziert.

Für besondere Unruhe innerhalb des Regierungskoalition dürfte aber vor allen die Tatsache gesorgt haben, daß 50,5 Prozent aller wahlberechtigten Bürger an dem Referendum teilnahmen. Seit 1989 haben noch nie so viele Ungarn an einer Volksabstimmung teilgenommen. Laut Verfassung ist ein Referendum ab einer Wahlbeteiligung von 25 Prozent gültig. Diese jüngste Wählerbefragung wurde maßgeblich von der oppositionellen rechtskonservativen Partei Fidesz unterstützt, die dieses Vorhaben vor allem dazu nutzen wollte, um die unbeliebte Regierung mit dem als »Lügenpremier« verspotteten Gyurcsany weiter zu destabilisieren.

Folglich wollte der Vorsitzende der Fidesz, Victor Orban, das Referendum vor allem als Plebiszit gegen die Regierung verstanden wissen. In einer ersten Stellungnahme bezeichnete Orban vor Anhängern das Referendum als einen »Sieg des ungarischen Selbstwertgefühls«, mit dem klargeworden sei, daß man »den Ungarn nicht alles aufs Auge drücken« könne. Überraschenderweise enthielt sich Orban der Forderung nach vorgezogenen Neuwahlen. Diese gehört zum Standardrepertoire der Fidesz, seitdem heimlich aufgezeichnete Mitschnitte von einer sozialdemokratischen Parteisitzung auftauchten, auf denen Gyurcsany zugab, während des Wahlkampfes die Wähler »von vorne bis hinten belogen zu haben«.

Einige Bürgerinitiativen sammeln inzwischen bereits Unterschriften für ein zweites Referendum über den Kern des soziallibaralen Reformpakets – die Teilprivatisierung des Gesundheitswesens. Unklar ist, ob die Fidesz auch dieses Plebiszit unterstützen wird, da Teile des konservativen Lagers die populistische Taktik Orbans ablehnen. Laut der Wiener Zeitung argumentierten diese konservativen Referendumsgegner, daß mit der Volksabstimmung »Reformen schon im Ansatz gekippt werden, von denen jeder wisse, daß sie notwendig seien und bei denen eher die Frage sei, wie sie denn durchzuführen seien«. Schon im Herbst könnte ein solches Referendum stattfinden, wenn die Fidesz es unterstützen sollte.

Doch aktuell steht die Aufhebung der bereits beschlossenen Gebühren im Gesundheitswesen und beim Studium auf der Tagesordnung. Eine Parlamentsdebatte zur Abschaffung der Abgaben bis zum April ist in Vorbereitung. Die sozialliberale Koalition ist in die Defensive geraten. Laut dem britischen Guardian könnte das jüngste Referendum nichts weniger als das »Ende der Reformen in Ungarn signalisieren«. Neben einer möglichen Volksabstimmung im Herbst werde die Europawahl im kommenden Jahr und die Parlamentswahl 2010 den Reformeifer der Regierung bremsen, so die linksliberale britische Zeitung.

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